Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Europas Flüchtlingspolitik:
Abschiebung, Abschreckung, Sortierung
Wir lernen: Das ist eine schwierige humanitäre Mission!
Am 23. Juni 2008 stellt die SZ aus gegebenem Anlass die europäische Flüchtlingspolitik unter das Motto: „Die Boote sind voll.“ Sinnreich spielt das liberale Blatt damit auf die Sprachregelung an, mit der hierzulande der Andrang von Asylanten und Flüchtlinge aus Afrika und anderswo kommentiert wird, und gibt im Vorspann den dazu passenden Generalnenner vor, wie man die Sache sehen soll: Europa hat ein ernstes Problem mit diesen Massen, sieht sich zum Einschreiten gezwungen und sucht nach besseren Lösungen, der Flut Herr zu werden.
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Systematischer Katalog
Europas Flüchtlingspolitik: Abschiebung, Abschreckung, Sortierung Wir lernen: Das ist eine schwierige humanitäre Mission!
Am 23. Juni 2008 stellt die SZ aus gegebenem Anlass die
europäische Flüchtlingspolitik unter das Motto: Die
Boote sind voll.
Sinnreich spielt das liberale Blatt
damit auf die Sprachregelung an, mit der hierzulande der
Andrang von Asylanten und Flüchtlinge aus Afrika und
anderswo kommentiert wird, und gibt im Vorspann den dazu
passenden Generalnenner vor, wie man die Sache sehen
soll: Europa hat ein ernstes Problem mit diesen
Massen, sieht sich zum Einschreiten gezwungen
und sucht nach besseren Lösungen, der Flut Herr
zu werden:
„Im Sommer, wenn das Mittelmeer ruhiger ist, versuchen wieder viele Flüchtlinge aus dem Süden nach Europa zu gelangen. Die Europäische Union reagiert darauf mittlerweile mit ihrer Überwachungsagentur Frontex. Deren Aufgabe ist es, auch die Seegrenzen zu kontrollieren. Flüchtlingshelfer kritisieren die Methoden der Grenzschützer jedoch heftig. Und EU-Politiker suchen neue Konzepte zur Armutsbekämpfung.“
Zunächst erfährt man allerdings erst einmal, wie es
zugeht auf dem Mittelmeer. Ungeschminkt und mit Zahlen
unterlegt wird die lebensgefährliche Flucht von
Afrikanern über das Mittelmeer und ihr
Zusammentreffen
mit den Grenzkontrolleuren von
„Frontex“ geschildert: Seit Jahren ertrinken massenhaft
Verzweifelte, die in Nussschalen und Seelenverkäufern der
Armut oder Verfolgung in ihren Heimatländern in der
Hoffnung auf irgendein Auskommen in den kapitalistischen
Metropolen des Nordens zu entkommen suchen. Immer öfter
werden sie von „Frontex“-Beamten aufgegriffen, die sich
das Mittelmeer in drei Einsatzgebiete aufgeteilt haben,
weit vor den europäischen Hoheitsgewässern operieren,
über die Fluchtrouten genau Bescheid wissen und die
Flüchtlinge nach Möglichkeit sofort wieder in ihre
afrikanischen Herkunftshäfen zurückschaffen.
Woher dieses ‚menschliche Elend‘ rührt, wie es dazu
kommt, dass sehr reiche wie sehr arme Staaten eine
Bootsfahrt voneinander entfernt existieren, oder welchen
Grund es hat, dass für bestimmte Menschen keine
Freizügigkeit, sondern der Rechtsstatus der „Illegalität“
gilt – all das interessiert die SZ nicht weiter; und
schon gar nicht, dass vielleicht die Armut dort etwas mit
der Reichtumsproduktion hier in der EU zu tun hat. Die EU
kommt ganz anders in Spiel – als Opfer dieser
Menschenmassen, als betroffene Staatenregion,
deren Verantwortliche auf diesen jährlich wachsenden
Flüchtlingsstrom
reagieren
müssen, der
einfach nicht berechtigt ist, nach Europa zu „fließen“
und dessen Massen die von dieser „Überschwemmung“
bedrohten europäischen Länder selbstverständlich nicht
aushalten und aufnehmen können – Die Boote sind
voll
, eben auch in den Zielländern.
Also sind Gegenmaßnahmen gegen diesen Andrang geboten, das steht für die SZ fest. An denen fehlt es ja auch nicht, wie die Beschreibung der Vorkommnisse im Mittelmeer zeigt. Unübersehbar haben sich die EU-Staaten mit der Frontex ein gut ausgerüstetes und schlagkräftiges Grenzregime geschaffen, damit die Armen in ihren Slums bleiben und um ihre massenweise Einwanderung in die nördlichen Länder abzuwehren; denn für die Mehrung des Reichtums, der in den EU-Ländern produziert wird, sind sie mehrheitlich nicht gefragt und zu gebrauchen, also steht ihnen auch in diesen Ländern kein Lebensrecht zu. Abschiebung und Abschreckung, also Härte und Kaltblütigkeit im organisierten Umgang mit den Aufgegriffenen sind deshalb die sachgerechten Methoden für eine EU-Grenzpatrouille, die ihren Job gut erledigen will – und das alles wirft ein Schlaglicht darauf, wie sich in der heutigen Welt Armut und Reichtum in und zwischen den Nationen sortieren und wie die Zuständigen das Menschenmaterial in Volksgenossen, die zu ihrem nationalen Bestand gehören, und für ihre nationalen Belange nützliche und deshalb zugelassene Ausländer oder aber in nutzlose Hungerleider scheiden.
Mit ihrem Verständnis für die Sorgen der betroffenen
Länder beim Umgang mit diesen unliebsamen Störenfrieden
stellt sich die Lage für die SZ anders dar: Bewältigt die
Truppe ihre Aufgabe eigentlich ordentlich?, lautet die
Frage, und prompt zeichnen sich unter diesem
Gesichtspunkt Licht und Schatten der
Frontex-Operationen ab
. Wenn man nämlich erst einmal
unterstellt, dass die Elendsgestalten hierzulande nichts
verloren haben, die Verhinderung ihrer illegalen
Unternehmung also in Ordnung geht, dann ist es letztlich,
wenn man so will, sogar ein Dienst an ihnen und
äußerst human, wenn man sie möglichst zuverlässig und
nachhaltig von unseren Grenzen fernhält. In diesem Sinne
attestiert die SZ der Frontex erst einmal ein großes Plus
in Sachen Menschlichkeit: Mit Hilfe von
Frontex werden jetzt zahlreiche der Verzweifelten
aufgegriffen und auch vor dem Ertrinken gerettet,
angeblich 53 000 allein in den vergangenen zwei
Jahren.
Die europäischen Regierungen machen zunehmend
die Grenzen dichter, verschärfen die Zuzugsbedingungen
und -verbote, machen also jeden Versuch, den
unaushaltbaren Umständen im europäischen Vorfeld zu
entfliehen, zu einer kostspieligen und lebensgefährlichen
Angelegenheit – und die Überwachungs- und
Abschiebungsmaschinerie, die den politischen Willen
exekutiert, gelangt darüber glatt in den Ruf einer
Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger! Freilich fällt
dann auch der SZ wieder ein, dass die Frontex-Patrouillen
eine etwas andere Aufgabe haben und die Zielgruppe solch
menschenfreundlicher Aktionen diese gar nicht ohne
weiteres zu schätzen wissen, sich denen vielmehr lieber
entziehen: Dadurch, dass die typischen Routen wie jene
über Gibraltar oder nach Lampedusa immer stärker
überwacht werden, nutzen die Flüchtlinge und ihre
Schlepper immer kleinere und damit gefährlichere Boote
und immer weitere, ungewöhnlichere Strecken, um nicht
entdeckt zu werden.
Ein eindeutiges Handikap für die
Rettungsmannschaft von Frontex, dem die aber tatkräftig
zu Leibe rückt, indem sie die Flüchtlingsboote ... oft
weit vor den europäischen Hoheitsgewässern abfängt und
sie, wenn immer das möglich ist, in die afrikanischen
Herkunftshäfen zurückbringt.
Daran ist im Prinzip nichts auszusetzen, wenn, ja wenn
dabei alles ordentlich zuginge, und das ist nicht der
Fall: Dabei jedoch, kritisieren
Flüchtlingsorganisationen, werde nicht geprüft, ob sich
an Deck schutzbedürftige Menschen befinden, die Anrecht
auf Asyl in Europa hätten.
Leute riskieren ihr Leben,
um ihrem Elend zu entfliehen – und diese humanistischen
Kritiker geben zu bedenken, dass sie eventuell wegen
eines ihnen gar nicht bekannten Rechtstitels ihr Leben
doch gar nicht hätten riskieren müssen! Und dass doch
spätestens dann, wenn man sie erwischt hat,
genau nachzusehen sei, ob sie wirklich
rechtens dorthin zurückverfrachtet werden, von wo
sie herkommen! Wenn sie schon zwischen „legitimen“ und
„illegitimen“ Einwanderern scheidet, soll die EU auch
wirklich nur die abschieben, die sie gemäß ihrer
Scheidung nicht haben will: Nur das ist human, und so
human denkt offenbar auch die SZ.
Freilich kann sie in diesem Zuge auch von hoffnungsvollen
europäischen Lösungsansätzen für das schwierige
Unterfangen berichten, den lästigen Ansturm
nachhaltig abzuwehren und damit zugleich den ungebetenen
Besuchern die unmenschlichen Gefährdungen zu
ersparen, die sie sich und verbrecherische
Schlepper ihnen angesichts der abgeschotteten
Grenzen antun. Die europäischen Politiker waren nicht
faul: Vor diesem Hintergrund haben die Innenminister
der EU auch zwei Verträge unterzeichnet, die für die
Union etwas Neues, fast Revolutionäres, in Gang bringen
könnten: Es geht um Mobilitäts-Partnerschaften.
Der
Anspruch der EU darauf, dass die verelendeten
EU-Ausländer, die man hier nicht haben will, gefälligst
in den Slums ihrer Herkunftsländer verrotten und nicht
aufwendig abgefangen und abgeschoben werden müssen, wird
selbstredend nicht revolutioniert: Die Union will
verhindern, dass Arme aus ihren Heimatländern fliehen,
als ‚Illegale‘ nach Europa kommen und von dort wieder in
ihre Heimat abgeschoben werden, nur um gleich wieder nach
der ersten Möglichkeit Ausschau zu halten, ihr Land
Richtung Europa zu verlassen.
Das einschlägige
Pilotprojekt mit den Kapverden sieht vielmehr eine
Zusammenarbeit
vor, die für die SZ den Charme hat,
durch ein angebliches ‚Do ut des‘ genial einfach
zu sein: Im Zentrum steht die Bereitschaft der
beteiligten EU-Länder, Menschen von den Kapverdischen
Inseln legale Arbeitsplätze in Europa anzubieten. Im
Gegenzug müssten sich die Kapverden verpflichten,
Landsleute, die sich illegal in Europa aufhalten, wieder
zurückzunehmen und die eigenen Grenzen zu sichern.
Die Kapverden sollen ihre Leute verlässlicher als bisher
in einer Art Völkergefängnis einsperren, um sie damit der
EU vom Leib zu halten. Die EU versichert im Gegenzug ihr
Bereitschaft
, glatt ein paar Zuzugserlaubnisse
auszustellen, falls europäische Betriebe ein Interesse
haben nach Hungerlöhnern von dort. Das revolutionäre
Partnerschafts-Konzept besteht also erstens darin, das
Vorhaben der potenziellen Bootsflüchtlinge derart im Keim
zu ersticken, dass sie erst gar nicht fortkommen und man
sich die Mühe der dauernden Abschieberei erspart.
Zweitens darin, dass man handgezählten Elendsgestalten
aus dem großen Reservoir, die man brauchen kann, die
Einreise gestattet – wie bisher auch schon. Und als
solche Kreaturen sind sie dann Stoff eines weiteren
Artikels zum Thema „Europas Flüchtlingspolitik“:
Gebraucht und Gefürchtet. In Italien verdingen sich
viele Illegale als billige Arbeitskräfte
.
Da erfährt man, dass die überalterte Bevölkerung
Italiens und die Suche nach billigen Arbeitskräften in
der Landwirtschaft, auf dem Bau und in den Familien das
Land für Einwanderer attraktiv machen
. Ob die
Afrikaner wirklich Alterspyramiden studieren oder
Niedriglohngruppen vergleichen, um sich eine Zielregion
auszusuchen, bevor sie in See stechen? Es wird schon eher
so sein, dass die Flüchtlinge – vorausgesetzt, sie haben
die Überfahrt überlebt und sind von der Polizei
unentdeckt geblieben – aufgrund ihrer absoluten Armut und
ihrer Illegalität völlig alternativlos zu den schäbigsten
Arbeitsangeboten erpressbar und deshalb für das auch im
italienischen Kapitalismus bestens etablierte Bedürfnis
nach billigen und willigen Arbeitskräften höchst
attraktiv sind. Weniger attraktiv ist demgegenüber, wie
die SZ verständnisvoll zu Protokoll gibt, für den
italienischen Staat, dass „diese ‚Clandestini‘
(‚Heimlichen‘) wesentlich mehr Straftaten als Italiener
und legal im Land lebende Ausländer begehen. Laut der
Caritas (also einer garantiert glaubwürdigen
Adresse) machen sie bei Delikten wie Erpressung und
Hehlerei bis zu 80 Prozent der Täter aus“. Da kann
die SZ gut nachfühlen, dass der Italiener zum Feind
dieser Ausländer wird, ganz im Sinne der öffentlichen
Propaganda die Menschen nach Inländern und legalen oder
illegalen Ausländern sortiert und Letztere dafür
anfeindet und verachtet, dass sie von seinem Staat in die
Illegalität verbannt werden und zu den entsprechenden
Lebens- und Überlebensstrategien greifen; dass die
einschlägigen Kreise in ihrer Mehrzahl die Sphären der
kapitalistischen Niedriglöhner ohne jede Absicherung und
ohne Rechtsschutz bevölkern, kommt in der Statistik und
im volkstümlichen Standpunkt zur Ausländerfrage nicht so
sehr zum Tragen. Da kann es, so die SZ, schon passieren,
dass das alles in der Wahrnehmung vieler Bürger zu dem
Gefühl verschmilzt, Italien leide unter einem schweren
Ausländerproblem
.
Ob man aber wirklich mit strengen Gesetzen die Wähler
befriedigen
und illegale Einwanderung zur
Straftat
machen soll, stößt auch im
Regierungslager auf Bedenken
. Der reinrassige
Volkskörper vs. der Nutzen, den auch minderwertige Rassen
für die Nation bringen können: Das ist noch so eine
Grundsatzfrage für humanistische Demokraten, weshalb
einige Politiker darauf hinweisen, dass viele
italienische Familien ohne die – oft illegal im Land
lebenden – Altenpfleger und Haushaltshilfen nicht
auskämen
. Ein überzeugenderes Argument für ihre
Duldung als die Drecksarbeit, die solche Menschen
gezwungenermaßen willig erledigen, gibt es offensichtlich
nicht.