Europäische Grundrechte-Charta
Ein Stück Staatsverfassung auf Vorrat
„Mit der EU-Grundrechtscharta ist jetzt einmal mehr… die Frage nach der gemeinsamen Aufsicht über die Souveränität der Mitgliedsstaaten aufgeworfen worden – und wieder einmal konsequent beantwortet und offen gelassen“. Zweck dieser Art von ‚Verfassungslyrik‘: „den schlechten Ruf des politischen Europa (zu) verbessern, um sich einen politisch-moralischen Titel für die Einforderung von Zustimmung gegenüber den Völkern Europas zu verschaffen, wenn es darum geht, das Einheitsprojekt weiter voran zu treiben.“
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Systematischer Katalog
Europäische
Grundrechte-Charta
Ein Stück Staatsverfassung auf
Vorrat
Auf der Tagung des Europäischen Rates im Juni 1999 in Köln beschließen die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten die Ausarbeitung einer Charta der Grundrechte für ihren gemeinsamen Machtbereich, zusätzlich zu den bereits in Landes- und Nationalverfassungen sowie in zahlreichen zwischenstaatlichen Verträgen niedergelegten Vorschriften über den Grundbestand des bürgerlichen, rechtsstaatlich verfassten Menschseins. Aus allen Staaten der Union werden kundige Persönlichkeiten zusammengetrommelt, die einen Konvent bilden, dessen Vorsitz der emeritierte deutsche Bundespräsident Roman Herzog führt. Der Mann ist doppelt für seine Aufgabe qualifiziert: Erstens kommt er aus einem sehr wichtigen europäischen Land und hat zweitens sein ganzes Leben lang nichts anderes getan, als als professoraler Verfassungskommentator, Landesminister und höchster Staatsrepräsentant, als in Wort und Tat die Welt des grundgesetzlich Erlaubten für Menschen, Personen und Bürger auszudeuten. Der Konvent, von dem nach seiner Beauftragung öffentlich nicht mehr viel zu vernehmen ist, außer dass seine Aufgabe wegen divergierender nationaler Rechtsauffassungen nicht einfach sein soll, und der in den spärlichen Kommentierungen, die seine Arbeit ab und an zur Kenntnis nehmen, irgendwo zwischen einer Ethikkommission zur freiwilligen Selbstkontrolle des europäischen Wertehimmels und einer verfassunggebenden Nationalversammlung angesiedelt wird, liefert zum Ende des Jahres 2000 das bestellte Werk, eingeteilt in 54 Artikel und eine Präambel, fristgerecht zur Tagung des Europäischen Rates in Nizza ab. Dort wird es von den versammelten nationalen Chefs feierlich proklamiert.
I.
Die Präambel teilt den Völkern Europas
gleich im
ersten Satz des Dokumentes mit, dass sie entschlossen
sind, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche
Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren
Union verbinden
, und verspricht im Folgenden den
Europäern Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürger- und
Verfahrensrechte
, die aber vorderhand noch keine
einklagbaren Rechte
für den einzelnen Bürger seien.
(Dokumentation der Süddeutschen
Zeitung, SZ, 8.12.00)
Wozu haben sich dann aber Herzog und sein Konvent die ganze Arbeit gemacht, wenn ihre 54 Artikel in absehbarer Zeit gar keine Rechtsverbindlichkeit erlangen werden? Sollen die gesamteuropäisch ohnehin unbestritten gültigen Prinzipien des staatlichen Umgangs mit Person und Eigentum tatsächlich zu keinem anderen Ende zusammengeschrieben worden sein, als nur dem, „den Schutz der Grundrechte zu stärken, indem sie in einer Charta (noch?) sichtbarer gemacht werden.“ (letzter Satz der Präambel)?
Die Debatte über die Grundrechts-Charta, zwischen den
staatlichen Auftraggebern direkt, oder vermittels und
unter Beteiligung ihrer Öffentlichkeit, mündet schnell in
die übliche Zweiteilung: Während auf den Dokumentations-,
Dossier- und Hintergrundseiten der „seriösen Presse“
seitenweise „Experten“, hier meist Rechtsprofessoren und
hohe Richter, sich in ausführlicher Exegese und
rechtlicher Einzelkritik der proklamierten Bestimmungen
verbreiten dürfen, kommen die aktuellen Kommentare und
Nachrichten, in der Bemühung um die politische
Bedeutung des neuen Dokumentes, schnell auf die
Frage: Ist da jetzt begrüßenswerterweise
eine
Diskussion über eine europäische Verfassung
in
Gang gebracht worden? Sind die Bestimmungen der
Charta nicht eigentlich schon Elemente einer
Verfassung
(SZ, 24.1.01),
oder handelt es sich bei dem Text des Konvents nur
um eine fleißige Sammlung zum Schutz vor
Eurokraten
? (FAZ,
26.8.00). Die politische Führung in Berlin wartet
die anlässlich der Fertigstellung und förmlichen
Verabschiedung der Charta in der Öffentlichkeit beflissen
aufgeworfenen Fragen gar nicht erst ab, sondern gibt
ihre Stellung zu dem Unternehmen beizeiten
bekannt:
„SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die CDU/CSU sowie die FDP haben in getrennten Initiativen die vorliegende Charta der Grundrechte der Europäischen Union begrüßt. …Die Regierung soll sich nach dem Willen von Sozialdemokraten und Bündnisgrünen auch dafür einsetzen, dass eine europäische Verfassung formuliert wird… Auch die Union hält in ihrem Antrag die Charta der Grundrechte für ein ‚wesentliches Element für einen künftigen Europäischen Verfassungsvertrag‘…“ (Homepage des Deutschen Bundestages, 12.10.00)
Dem einmütigen Wunsch des Parlaments folgend, setzt
sich die Regierung ein
, plädiert
der
Bundeskanzler beim Kollegen Blair für die Schaffung
einer Art europäischer Verfassung
(SZ 30.1.01), äußert
, bei einem
Besuch in Frankreich den deutschen Wunsch nach einer
Art Verfassung für Europa
(SZ,
31.1.01), und stellt bei einer Tagung in
Anwesenheit internationaler europäischer
Regierungskollegen unter ausdrücklichem Einsatz seines
regierungsamtlichen Gefühlslebens klar, wie wichtig ihm
die Sache ist:
„Es gebe nur einen Weg für die EU, um nach dem Gipfel von Nizza weiterzukommen: mehr Integration, …mehr Aufgabe von Souveränität“ und „verband dies mit einer klaren Forderung nach einer Verfassung. Europa müsse wieder eine Sache des Herzens werden und nicht nur des Verstandes.“ (SZ, 22.1.01)
*
Das soll dem französischen Außenminister Védrine zunächst
den Atem genommen
haben, weil man angeblich in
Frankreich vor dem Präsidentschaftswahlkampf 2002 …
das Volk nicht mit einer Debatte um Souveränität und
Integration erschrecken
will (SZ, ebd.), und auch in „London
sieht man die Sache mit Skepsis“ (SZ, 31.1.01).
Nur: Auch wenn man gerade in verschiedenen Ländern
Europas die Debatte um einen europäischen
Verfassungsprozess nicht brauchen kann, und gegen
die Art, wie sie von Seiten der Deutschen betrieben wird,
misstrauisch ist: Den Auftrag zur Abfassung der
Grundrechts-Charta an den Konvent haben sie alle zusammen
und einstimmig erteilt, wohl wissend, dass die
rechtsförmige Erklärung der wertemäßigen
Geschäftsordnung einer Bürgerlichen Gesellschaft,
historisch und sowieso, nichts anderes ist, als
eine Art Verfassung
, und zwar, üblicherweise, das
erste Kapitel eines solchen
demokratisch-kapitalistischen Grundgesetzes. Dem folgen
bekanntlich viele weitere, in denen Definitionen und
Kompetenzen, Zusammenspiel und Konkurrenz der diversen
Unterabteilungen und Organe der Staatsgewalt
geregelt werden, die sich selber und dem
grundberechtigten Menschen im
Grundrechtsteil der Verfassung die
Gattungseigenschaften des bürgerlichen Rechtssubjektes
aufzuschreiben pflegen.
So haben sich die Staaten der Union, durchaus im Zustand
der Geschäftsfähigkeit und ohne Versehen, ein Stück
verfassungsrechtlich formulierte Staatsraison bestellt,
ohne den europäischen Superstaat
zu wollen. Haben
sich ein erstes Kapitel Grundgesetz aufschreiben lassen,
ohne bereits zu den offenen späteren Kapiteln
entschlossen zu sein. Mehr Aufgabe von
Souveränität
, fordert der Kanzler von Deutschland und
allen anderen, aber so ganz soll sie dann doch
nicht aufgegeben werden, sodass noch diejenigen, die sich
gerade als Eiferer der Integration gerieren,
mitten im flammenden proeuropäischen Plädoyer, ganz
selbstverständlich den nationalen Nutzen als den
ehrenwerten Grund ihres Herzensanliegens benennen, und
das – ein Treppenwitz – als Kampf gegen europafeindlichen
Nationalismus:
„…wandte sich der Außenminister (J. Fischer, d. Verf.) gegen ‚Nationalismen‘. Auch für das geeinte Deutschland gelte: ‚Je europäischer es seine Interessen definiert, desto eher lassen sie sich verwirklichen.‘“ (SZ, 31.1.01)
*
Der Streit um die Abtretung nationaler Kompetenzen an die
Organe der von Rom bis Maastricht kontrahierten
Gemeinschaft und um den nationalen Nutzen aus der
Vergemeinschaftung der abgegebenen Gewalt ist so alt wie
das Projekt der imperialistischen Konkurrenz-Großmacht
Europa. Die dabei stets neu aufgeworfenen Fragen der
Über- und Unterordnung der Unionsstaaten münden, wegen
der Rechtsförmigkeit der eingegangenen
zwischenstaatlichen Gewaltverhältnisse, notwendigerweise
in die juristische Frage nach dem Rang
der nationalen im Verhältnis zur europäischen
Rechtsordnung. Der Fortschritt des gemeinschaftlichen
Imperialismus der EU-Mitglieder, die gleichwohl souveräne
Einzelstaaten geblieben sind, hat es immerhin zum
Grundsatz des Vorranges des Gemeinschaftsrechts
gegenüber dem nationalen Recht gebracht, ganz unbekümmert
um den dogmatischen Streit der Rechtslehre, ob denn die
EU überhaupt eine eigene Rechtspersönlichkeit
besitze; ein Streit, den das Bundesverfassungsgericht
(BVerfGE 89,184) negativ beschieden hat, weil die EU eben
nur ein Staatenverbund
sei. Weil aber Juristen
andererseits als notorisch pragmatische Diener
ihrer politischen Herren zu dem Wort grundsätzlich
immer ein nur
hinzudenken, haben sie für deren
allfälligen politischen Unwillen, nicht genehmes EU-Recht
national umzusetzen, nicht nur schon immer rechtliche
Begründungen bereitgehalten:
„Auch Art. 189 EWG-Vertrag (, der dies beansprucht, d.Verf.) konnte diese Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Erlassung EWG-vertragswidrigen Rechts nicht beseitigen. Die Staaten besitzen also grundsätzlich noch diese Kompetenzkompetenz. Die Souveränität eines Staates ist vom Begriff her eben unteilbar. Sie kann also nicht zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten geteilt werden. Die Mitgliedstaaten können daher weiterhin von ihr auch Gebrauch machen, um sich über Bestimmungen des EWG-Rechtes, und zwar über den Vertrag ebenso wie über Bestimmungen des sekundären EWG-Rechtes hinwegzusetzen. … wäre, einseitig vorgenommen, zwar eine Völkerrechtsverletzung. Der Staat besäße aber weiterhin die Kompetenz zu solchem Handeln, das … innerstaatlich auch wirksam werden könnte.“ (Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, 6.Aufl. 1996, S.260f.)
Sie haben darüber hinaus den Artikel 23 Abs.1 Satz 2 GG,
der ganz undogmatisch die Übertragung von Teilen der
unteilbaren Hoheitsrechte
an die EU erlaubt, mit
einem höchstrichterlichen Generalvorbehalt
ausgestattet, der dem Bundesverfassungsgericht gegen den
grundsätzlichen
Vorrang des Gemeinschaftsrechtes
eine Restkompetenz
vorbehält, „das gesamte
Recht der EG zu überprüfen. Es wolle hiervon
aber nur Gebrauch machen, wenn EG-Recht gegen
den Kernbereich des Grundgesetzes, etwa gegen
grundlegende Menschenrechte, verstoßen sollte.“
(Seidl-Hohenveldern/Loibl,
S.261). Nach dem Maastricht-Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes sollen überhaupt
ausbrechende Rechtsakte
der EU deutsche
Staatsorgane nicht binden können. Als solche gelten Akte,
die durch die Kompetenzen der EU nicht gedeckt sind.
Strittig ist aber bisher, wer diese
Kompetenzüberschreitung feststellen soll
(ebd., S.259), der Europäische
Gerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht …
*
Mit der EU-Grundrechts-Charta ist jetzt einmal mehr, auf der Grundlage einer schon weit vorangekommenen europäischen Rechtseinheit mit fortdauerndem nationalen Prüfungsvorbehalt, ganz neu, und in rechtlicher Hinsicht ganz elementar, weil auf der Ebene der Prinzipien des staatlichen Umgangs mit Person und Eigentum, auf der der obersten rechtlich-moralischen Prüfungsmaßstäbe also, die auf minderrangiges Recht von Gesetzgebung und Rechtsprechung angewendet werden, die Frage nach der gemeinschaftlichen Aufsicht über die Souveränität der Mitgliedsstaaten aufgeworfen worden – und wieder einmal konsequent beantwortet und offengelassen zugleich:
Die Charta garantiert in der Präambel programmatisch die
Achtung … der Organisation der staatlichen Gewalt
der Mitgliedsstaaten (S.5 der Präambel) und
beschränkt im Kapitel IV, Art. 51 Ziff.1 strikt
den Anwendungsbereich
ihrer Bestimmungen:
„Diese Charta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“.
Diese Bestimmung sollte, -gegen die ohnedies
integrationsfördernde Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs
(ein
kommentierender Prof. für Öffentliches Recht, FAZ,
26.8.00) – sicherstellen, dass aus der Charta
weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die
Gemeinschaft
(Art. 49 Ziff.2 eines Vorentwurfes)
begründet würden.
Obwohl die zitierte Beschränkung des Anwendungsbereiches
des Art. 51 Bestandteil der Charta geworden ist, ist man
bei der Formulierung des Grundrechts-Kataloges
offensichtlich diesem Konzept nicht treu
geblieben…
(FAZ, 7.8.00)
Vielmehr hat der Konvent ohne Rücksicht auf bestehende
EU-Zuständigkeiten einfach ein vollständiges erstes
Grundrechts-Verfassungskapitel abgeliefert – und vom
Europäischen Rat in Nizza genehmigt bekommen.
„Offensichtlich war der politische Druck stark, eine verfassungsrechtliche Vollregelung zu erstellen und sich nicht mit einem Stückwerk zu begnügen, das auf den heutigen Stand des Gemeinschaftsrechts zugeschnitten ist. Mit anderen Worten, der Entwurf ist auf Zuwachs angelegt. Herausgekommen ist ein Mantel, in den die Union allmählich im Wege weiterer Kompetenzerweiterungen hineinwachsen kann – und offenbar soll.“ (FAZ, ebd.)
*
Ob nun angesichts deutscher Verfassungsbegeisterung dem
französischen Außenminister der Atem stockt,
London skeptisch ist, ob man in Paris eher
belustigt reagiert, auf den deutschen Wunsch nach einer
Art Verfassung für Europa
, weil das dort „jeder
gut finde, aber nur, weil auch jeder etwas
anderes darunter verstehe“ (SZ,
31.1.01), oder ob sich Chirac dann doch noch in
Übereinstimmung mit Schröder für eine Neugründung der
EU
, ausspricht, die in die Ausarbeitung einer
Verfassung münden müsse
(SZ,
6.2.01): Gleich was sich jeder
vorgestellt
haben mag, zugestimmt haben sie alle, die Betreiber wie
die „Skeptiker“ des „Europäischen Verfassungsprozesses“,
und mit diesem formellen Akt den
politischen Streit um die Prinzipien einer
nationalen Zwecksetzung des imperialistischen
Europa weitergetrieben, lange bevor und ganz im
Ungewissen darüber ob es überhaupt jemals eine
europäische Nation geben wird. Im Vorgriff wird
ihr dennoch schon ein Stück Staatsraison
gestiftet und die Stifter drücken noch im notwendigen
Streit über Zwecke und Gestaltung dieses ideellen
politischen Subjektes ihre sehr reelle Unzufriedenheit
mit den Unzulänglichkeiten der europäischen Weltmacht
aus, deren Ertrag sie weiterhin national
bilanzieren wollen. Sie dokumentieren ihr politisches
Bedürfnis nach einer gemeinsamen Staatsgrundlage, die
alle anderen auf den größtmöglichen eigenen Vorteil
verpflichtet, dem eigenen nationalen Interesse
also die Durchschlagskraft der Gemeinschaft
verleiht. Alle Beteiligten wissen, dass es sich bei
diesem ersten Schritt zu einer europäischen
Verfassung
um einen Vorgriff handelt, der als bloße
Proklamation ohne unmittelbare Rechtswirkung etwas
Unernstes hat. Als dieser Vorgriff ist die Charta aber
sehr ernst gemeint: Als staatsmoralische Handreichung für
den imperialistischen Bildungsprozess der europäischen
Großmacht, die es schon zu beträchtlicher Wucht in allen
Angelegenheiten von Geld, Wirtschaft und Gewalt gebracht
hat; der Großmacht, der, gemessen an dem, was nötig ist,
um als Subjekt der Weltordnung fertig zu werden, noch so
viel fehlt, und auf die die beteiligten
Nationalsouveräne, die sich nicht aufgeben wollen,
inzwischen doch schon so sehr angewiesen sind, dass eine
Stornierung des europäischen Projektes ohne Schaden nicht
mehr in Frage kommt. So stellt sich die Charta als ein
europäisches Gründungsdokument dar, das als
solches noch nicht gelten kann und soll, das aber, noch
bevor es überhaupt Rechtskraft erlangt, selbst schon als
nur ergänzungsbedürftiges erstes Kapitel nach
Fortschreibung verlangt und damit als Argument
dienen soll für den nächsten Vorgriff, der schon über den
aktuellen hinausweist:
„Ein geschriebener Grundrechtskatalog wird Regelungsaktivitäten anstoßen. Er verstärkt somit die Notwendigkeit, die bislang unscharfe Abgrenzung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten durch einen klaren Kompetenzkatalog zu ersetzen“. (Günther Hirsch, ehem. Richter am EuGH, FAZ, 12.10.00)
*
Da ist die scheinbar so in die Zukunft ausgreifende
Debatte über den europäischen Verfassungsprozess
dann wieder beim drängendsten aktuellen
Streitpunkt der Union angekommen: die wegen der in den
nächsten Jahren anstehenden Osterweiterung der EU
fälligen Machtfragen innerhalb der Gemeinschaft. Hier
werden dieselben Rang- und Kompetenzverhältnisse, die die
Verfassungsjuristen Europas als Regelungsgegenstände
einer künftigen europäischen Konstitution debattieren,
von den politischen Führern der europäischen Nationen
unter dem Titel institutionelle Reformen
bereits
verhandelt. Die sind auf die Tagesordnung – zuletzt in
Nizza – der Regierungen gekommen, weil die anstehenden
Neumitglieder keinesfalls mit gleichen Vetorechten wie
die führenden Altmitglieder, auf Grundlage der bisherigen
Einstimmigkeits-Erfordernisse den künftigen Kurs der
europäischen Politik entscheidend beeinflussen können
sollen. Deren Unterordnung soll durch eine Ausweitung der
Mehrheitsentscheidungen sichergestellt werden, weshalb
die entsprechende Reform der Entscheidungsprozeduren im
Europäischen Rat zur Überlebensfrage der Union erklärt
wird.
Dazu passt die Pro-Verfassungs-Agitation der deutschen
EU-Führungsmacht: Sie begleitet den politischen
Druck, den sie auf Grundlage ihrer politischen und
wirtschaftlichen Potenz auf die kleineren und in vielen
Hinsichten von ihr und ihrem Erfolg und Wohlwollen
abhängigen Nationen zu machen imstande ist. Wenn es um
die Durchsetzung neuer Abstimmungsverfahren für neue
Ermächtigungen und Entmachtungen geht, ergänzt sie den
politischen um den moralischen Druck der
Verfassungs- und Werte-Debatte, die stets die eine
eindeutige Botschaft transportiert: Mehr Kompetenzen
sollen von allen abgegeben werden, mehr
Integration
soll sein, mehr Unterordnung der
Mitgliedstaaten unter die Raison der Gemeinschaft. Die
schlichte Berechnung ist offenkundig und allen
Beteiligten geläufig: Die ohnehin mit dem größten
politischen und ökonomischen Erpressungspotential
ausgestatteten Führungsstaaten, vor allem Deutschland und
Frankreich, suchen Mittel und Wege, die Integration, also
gemeinschaftsgebundene Unterordnung, der anderen
mit der eigenen Sonderstellung zu verbinden und
diese in den institutionalisierten Entscheidungsprozessen
der Union zu zementieren. Die erzdemokratische
Forderung der Deutschen nach einer stärkeren
Berücksichtigung der Bevölkerungsgröße und der
Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen bei Abstimmungen
im Europäischen Rat war ein Versuch in diese Richtung,
getragen von der Gewissheit, dass dann, wenn erst einmal
das Prinzip der Mehrheitsentscheidung für alle wichtigen
Fragen eingeführt und das Mittel der Gegenerpressung per
Veto der kleineren und der neu hinzukommenden Staaten
ausgeschaltet ist, sich die Überlegenheit der
Führungsmächte zu ihren und zu Gunsten der von ihnen
bestimmten Gemeinschaft schon Bahn brechen wird.
Obwohl aus dem offenen Machtkampf, der über
alledem in den Gremien der EU wieder einmal ausgebrochen
ist, niemand ein Geheimnis macht, – der soll gerade das
Spannende an Terminen wie dem in Nizza ausmachen –,
wollen die Protagonisten keinesfalls auf die Überwölbung
ihrer Machtkonkurrenz durch den moralisch-rechtlichen
Wertehimmel eines Verfassungsentwurfs verzichten. Das
erkenntlich Erpresserische der Berufung auf die
grundrechtlichen „Fixsterne am Himmel der
Werte“ (FAZ, 5.9.00),
wie sie die EU-Grundrechts-Charta aufgezeichnet hat,
nimmt denen, jedenfalls aus der Sicht der Befürworter der
Charta, nichts von ihrer Leuchtkraft: Dient das doch
alles einem ausgesprochen guten Zweck, wie es der
deutsche Außenminister – siehe oben – so treffend
formuliert hat, wenn es hilft „die deutschen
Interessen europäisch zu definieren“, um
sie bestmöglich durchzusetzen
. Da sind die
edelsten Menschheitswerte gerade gut genug.
II.
Den verfassungsrechtlichen Gegenständen nach
unterscheidet sich die Grundrechtscharta, als
vorauseilender erster Teil der Verfassung eines noch
fiktiven europäischen Gesamtstaates und
Werte-Oberhaus eines machtmäßig schon sehr
realen Staatenvereins, nicht wesentlich
von den Grundgesetzen der einzelnen Vereinsmitglieder und
auch nicht von den zahlreichen zwischenstaatlichen
Verträgen und Abkommen. EWG-Vertrag, EU-Vertrag,
Europäische Menschenrechtskonvention, Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte der UN oder die Europäische
Sozialcharta, die europaweit innerstaatliches Recht
geworden sind, und denen, wie z.B. den EWG-Verträgen, von
Seiten des Bundesverfassungsgerichtes, die Funktion einer
Art Verfassung der Europäischen Gemeinschaft
zugesprochen wurde, enthalten teilweise deckungsgleiche
Regelungen. Bei aller Gemeinsamkeit der Prinzipien ist
aber deren Zusammenfassung in der EU-Grundrechte-Charta
an einigen Stellen durchaus anzumerken, welche spezielle
und moderne Variante des
freiheitlich-kapitalistischen Verfassungsgeistes in dem
angezielten europäischen Gesamtgemeinwesen und seinen
Vor- oder Hilfsformen wehen soll. Der wird zwar wegen der
fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit der Charta nicht
unmittelbar für die europäischen Gesetzgeber und
Rechtsprecher wirksam. Mit ihrer Annahme durch die
Regierungskonferenz in Nizza wurde aber der Weg frei,
den Inhalt der Charta als Ausdruck einer allgemeinen
Überzeugung der Mitgliedstaaten anzusehen. …Die
betroffenen Mitgliedstaaten (haben) bekannt, die im
Entwurf enthaltenen Grund- oder Menschenrechte achten zu
wollen.
Deshalb kann der EuGH im Rahmen seiner
Rechtsprechung mit der Grundrechtscharta, obwohl sie
ein unverbindlicher Akt
ist, genauso verfahren,
wie mit einem unterzeichneten, aber noch nicht
ratifizierten Vertrag
und sie in seiner Jurisdiktion
schon zur Grundlage der Gemeinschaftsgrundrechte
machen. (M. Zuleeg, ehem.
EugH-Richter, 7.1.01)
Die Präambel stellt nach
einleitenden Bezügen auf den politischen Zweck
des ganzen Unternehmens – …eine immer engere Union
…
- und deren geistig-religiöses und sittliches
Erbe
, also auf die Kontinuität und die
umfassend beanspruchte Nachfolgerschaft einer
künftigen europäischen Staatsgewalt im Verhältnis zu der
der Unions-Teilstaaten, eines gleich klar: Eine andere
Form kollektiven Zusammenlebens als die herrschende,
unter der Fuchtel einer staatlichen Gewalt
, die
nach den Grundsätzen von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit
organisiert ist, darf für Europa
für alle Zukunft nicht mehr in Frage kommen. Die
Bevölkerung des von dieser Gewalt beherrschten Europa
interessiert in ihrer Eigenschaft als Personen
,
also als Adressaten der von der Gewalt gewährten,
rechtsförmigen Erlaubnisse und Pflichten, als die sie
folgerichtig im Mittelpunkt des Handelns der Union
stehen. Das in unbefangenem demokratischem Totalitarismus
verfügte – und deshalb gleich in der Präambel
klargestellte – Betätigungsfeld dieser Personen
ist der freie Waren-, Dienstleistungs- und
Kapitalverkehr
, den die Union sicherstellt
.
Dazu gehört selbstverständlich der freie Verkehr der
Personen
selbst und deren
Niederlassungsfreiheit
, die gewährleistet sein
müssen, wenn sie europaweit als arbeitsame
Dienstleister oder unternehmerische
Organisatoren ihrer Waren und ihres
Kapitals deren Verkehr zur Verfügung
stehen sollen.
Die nachfolgenden Kapitel heissen Würde des
Menschen
, Freiheiten
, Gleichheit
,
Solidarität
, Bürgerrechte
und
Justizielle Rechte
.
Im Kapitel Würde des Menschen
wird in fünf Artikeln die altbekannte
Elementar-Brutalität demokratischer Staaten abgewickelt:
Durch die Gewährleistung von körperlicher und
geistiger Unversehrtheit
, Verbot der Folter
und der Sklaverei
und sogar des schlichten
physischen Lebens
werden die grundlegenden
Umstände individueller Existenz zu Schutzgütern
ernannt, zu Rechtsgütern, also zu Fragen
staatlich entschiedenen Dürfens, zur
Disposition und unter dem Vorbehalt der
Gewalt, die all diese schönen Rechtsgüter aus selbst
zugewiesener Machtvollkommenheit einräumt.
Dass eine künftige europäische Staatsgewalt vorhat,
modern, also auch in ihrer machtvollen
Zuständigkeit für Leben und Tod ihrer Bürger auf
der Höhe der Zeit zu sein, und ihre Kompetenzen auch
nicht durch die Entwicklungen neuzeitlicher
Technik und neuer kapitalistischer
Geschäftsfelder relativieren zu lassen, beweist sie
durch die Einführung moderner Grundrechte (Art.
3 Ziff.2): Verbot bestimmtereugenischer Praktiken
,
Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon zur
Erzielung von Gewinn zu nutzen
oder Verbot des
reproduktiven Klonens von Menschen.
Eingeleitet wird das Kapitel mit dem namensgebenden
Artikel, in dem die Charta die Würde des Menschen
für unantastbar
erklärt, und verspricht, sie zu
achten und zu schützen
. Ihrer eigenen Kreatur, dem
von ihr für ihre Zwecke vorgesehenen
Rechtssubjekt, bringt die Staatsgewalt in der
Tat Achtung entgegen. Ist es von ihr erst einmal
fertig ausstaffiert mit den Rechtsprinzipien, welche
die Menschheit des Menschen ausmachen, welche mit dem
Menschen geboren sind, vor allem den Prinzipien der
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, aber auch dem in
einem freiheitlichen Gemeinwesen apriorischen Prinzip des
Eigentums
(Jura-Prof.
Schachtschneider, FAZ, 5.9.00), dann will der
Staat einem derartigen Menschenschlag seine verliehene
Würde nicht mehr absprechen, besteht der doch
aus lauter Lizenznehmern der von ihm gewährten
Freiheiten; zumal diese schöne Haltung auch noch geeignet
ist, mitten in der sozialen Ungleichheit der mit
unterschiedlichen Mengen apriorischen Eigentums
Ausgestatteten, Gemeinsamkeit zu stiften:
Alle freien und gleichen, im kapitalistischen
Dienstleistungs- und Kapitalverkehr engagierten Brüder,
also auch Arme haben Würde, auch wenn sie
umgekehrt wg. Würde keinen Anspruch auf Reichtum haben.
Im Kapitel Freiheiten
, wird dem
bekannt dankbaren demokratischen Menschen, wie
in vielen vergleichbaren Dokumenten,
Privatsphäre und das Heiratendürfen,
das Sichversammeln (natürlich nur
friedlich
) und sogar der freie Gedanke
erlaubt, auch wenn er sich auf einen Gott oder eine
Religion kapriziert. Die Äußerungen
seines freien Nachdenkens werden allerdings, wie
ebenfalls üblich, nur als grundrechtlich geschützt
angesehen, wenn sie als Meinung daherkommen,
sich also ohne Anspruch auf Richtigkeit neben anderen
einsortieren und sich des Übergangs zu einem
Interessenstandpunkt, womöglich mit Anspruch auf
Durchsetzung, enthalten. Solchen theoretischen oder
praktischen Ansinnen steht es frei, ihre Berechtigung am
Maßstab der sonstigen Rechtslage nachzuweisen und sich
ohne das Privileg der freien Meinungsäußerung um
staatliche Lizenz zu bewerben.
Als Ausdruck von beachtlichem Realitätssinn
, weil
man sich dadurch bloße Verfassungslyrik
gespart
habe (FAZ, 7.8.00) wird von
manchen Kommentatoren der Verzicht der Charta auf ein
verfassungsmäßiges Recht auf Arbeit
gewürdigt. Das findet sich in vielen Verfassungsurkunden
als ideelle Programmerklärung von Staaten, die es von
ihrem Standpunkt grundgesetzlich einmal gesagt
haben wollen, dass sie es schon gerne sähen, wenn ein
möglichst großer Teil des arbeitsfähigen
Menschenmaterials sich um die Schaffung nationalen
Reichtums bemühte – betriebswirtschaftliche Rentabilität
hin oder her – und solch staatsnützliche Zustände gern
als Recht ihrer Menschen verfassen wollen. Dies hat zwar
ersichtlich kaum jemals irgendwo ernsthaft die
Vorstellung aufkommen lassen, man könne sich mit Hilfe
des Verfassungsgerichtes einen Arbeitsplatz einklagen,
geschweige denn einen, der seinen Mann ernährt. Die
Euro-Charta nimmt dennoch lieber den Standpunkt der
Klarstellung ein, und gewährt in Art. 15 Ziff.1
das Recht zu arbeiten
, wenn die in Art. 16
anerkannte
unternehmerische Freiheit
dazu
führt, dass sie in Betätigung des in Art. 17 garantierten
Eigentumsrechts
einen berechtigten Arbeiter
gebrauchen kann. Der hat dann das Recht, zu arbeiten, was
das Zeug hält, und sich mit dem, was er sich für seinen
Lohn als rechtmäßig erworbenes Eigentum
(Art. 17) gekauft hat, in Freiheit und Sicherheit
als Person
(Art. 6, Einleitung des Kapitels über
die Freiheiten
) zu entfalten, genauso wie es sein
Arbeitgeber mit seinem Eigentum hält, dem im
Zuge seines rechtmäßigen
Erwerbs bekanntlich dauernd die
Produkte der Arbeit zuwachsen.
Diese, in jedem anständigen, demokratisch organisierten
Kapitalismus übliche, Gleichheit
der
gesellschaftlichen Klassen vor dem Gesetz
wird
gleich eingangs des nachfolgenden Kapitels III. über die
Gleichheit
in allgemeiner Form
festgehalten (Art. 20). In Art. 21 ergeht das
Verbot aller für Staat und Kapital nicht
funktionellen Diskriminierungen
, wofür es eine
lange Aufzählung braucht – Rasse, Hautfarbe,
…Vermögen, Geburt, Behinderung,
.. etc., sogar
Staatsangehörigkeit
für den Bereich der EU – um
auch nur die wesentlichsten Fälle zu benennen, an denen
sich in der diesbezüglich reichhaltigen Geschichte des
christlichen Abendlandes nationalistische, heutzutage –
übrigens schon wieder aus nationalen Gründen – aber
häufig störende Diskriminierung schon
festgemacht hat. Trotz seines elaborierten
Diskriminierungsverbotes unterstellt der Konvent offenbar
verbreiteten Unglauben in Sachen Gleichheit bezüglich
einzelner Bevölkerungsgruppen und wiederholt deshalb das
Gleichheitsgebot ausdrücklich für Kinder, Alte und
Behinderte (Art. 24ff).
Im Kapitel Solidarität
werden die
Rechte der Person durchgenommen, die ihr
zustehen, wenn ihr Recht zu arbeiten
mangels
rentabler Verwendbarkeit im Rahmen der
unternehmerischen Freiheit
nach einer
gerechtfertigten Entlassung
(Art. 30) –
vor ungerechtfertigter soll die Charta schützen –, oder
aus Gründen wie Krankheit oder Alter, nicht mehr zum Zug
kommt. Dann soll sie ein Recht auf Zugang zu einem
unentgeltlichen (!) Arbeitsvermittlungsdienst
(Art.
29) haben. Die Erfahrung, dass dieses Recht in Europa
ständig bei einer zweistelligen Millionenzahl von
Personen zu keinem Einkommen führt, hat den
Konvent offenbar dazu veranlasst, für diesen Kreis seine
Achtung und Anerkennung des Rechtes auf Zugang zu den
Leistungen der sozialen Sicherheit
(Art. 34 Ziff. 1)
auszusprechen. Er verkennt aber nicht, dass auch noch
soviel Anerkennung für das Recht auf Zugang zur
sozialversicherungsrechtlichen Armutsverwaltung nicht
dazu angetan ist, soziale Ausgrenzung und Armut
im
Europa des freien Waren- und Kapitalverkehrs
abzuschaffen, weshalb diese bekämpft
(Art. 34
Ziff. 3) werden müssen, mit dem scharfen Schwert der
Anerkennung und Achtung
der Union für das Recht
auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für
die Wohnung
(ebd.). Wenn also die freie
Person trotz solider Eigentumsrechte, aber
umständehalber wegen eines quantitativen Mangels
an Eigentum, ihre Freiheit am Ende als Almosenempfänger
und Obdachloser entfaltet, nachdem sie die von der Charta
im Solidaritäts
-Kapitel liebevoll nachgezeichnete,
europäisch typisierte Sozialkarriere durchlaufen hat,
will die Charta dem Eigentumslosen, dem die Mittel
fehlen, ein menschenwürdiges Dasein zu führen
(Art. 34 Ziff. 3 letzter Satz), wenigstens so viele milde
Gaben zukommen lassen, dass er wenigstens wieder in den
materiell eher anspruchslosen Stand der
Menschenwürde versetzt wird. Das Verfahren
richtet sich nach Gemeinschaftsrecht, …
einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und
Gepflogenheiten
(ebd.), sodass dem vielfältigen und
traditionsreichen europäischen Brauchtum beim Umgang mit
dem Pauperismus und der gegenwärtigen europaweiten
Dynamik bei der kostensparenden Reform der
einzelstaatlichen Sozialsysteme Rechnung getragen ist.
Im Kapitel Bürgerrechte
werden
dem Unionsbürger
, den es schon seit dem Abschluss
des EU-Vertrages gibt, seine politischen
Mitwirkungsrechte als Untertan zweier noch sehr
ungleicher Herren vorgelesen: Für das Europäische
Parlament besitzt
er in jedem Mitgliedsstaat das
aktive und passive Wahlrecht. Bei der Auswahl des
Personals der nationalen Herrschaften darf er als
EU-Ausländer nur bei den Kommunalwahlen mitmischen (Art.
39 u. 40), wo er keinen Schaden anrichtet, damit nicht
ausländische Europäer die rein nationale
Orientierung bei der Bestellung der einzelstaatlichen
Machthaber durcheinanderbringen können. Ansonsten wird
dem EU-Bürger das verfassungsmäßige Recht auf eine
gute Verwaltung
(Art. 41) zugesprochen, – da lässt es
sich noch besser meckern, wenn man nicht bloß ein
gewöhnliches Werkeltags-, sondern ein veritables
Grundrecht hat, gut regiert zu werden –. Und
wenn die einmal doch nicht so gut sein sollte, ist er
grundberechtigt, sich beim Bürgerbeauftragten
der
Union zu beschweren, oder von seinem
Petitionsrecht
(Art. 40 u. 41) Gebrauch zu machen.
An den beiden Artikeln (48 u. 49) des letzten
Kapitels vor den Allgemeinen
Bestimmungen
, Justizielle
Rechte
, ist weniger die getroffene Regel
über die für einen bürgerlichen Justizbetrieb üblichen
und nötigen Usancen zu Unschuldsvermutung
und
Rückwirkungsverbot
bemerkenswert, als vielmehr die
Ausnahme vom Rückwirkungsverbot, die da in Art.
49 Ziff. 2 Verfassungsrang erhalten hat: Als Ausnahme von
dem Verbot der Bestrafung von Taten, die zur Zeit
ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem
Recht nicht strafbar waren
gelten nämlich solche
Taten, die zur Zeit ihrer Begehung nach den
allgemeinen, von der Gesamtheit der Nationen anerkannten
Grundsätzen strafbar waren.
Damit ist europaweit die
strafrechtliche Abrechnung mit Taten und Personen des
ehemaligen freiheitsfeindlichen Ostblocks, und gegenüber
allen früheren und künftigen Schurkenstaaten
offengehalten. Die Mitgliedstaaten des ehemaligen
Warschauer Pakts haben sich noch vor gar nicht langer
Zeit unter Verstoß gegen die von der Gesamtheit der
Siegernationen anerkannten Grundsätze als
rechtsetzende Staatssubjekte geriert, obwohl sie in
Wahrheit Unrechtsstaaten waren. Deren
überlebende Führer und Agenten haben für ihre
durchsichtige Ausrede, sie hätten eben damals bei ihrem
freiheitsfeindlichen Tun nur ihr souveränes,
realsozialistisches Recht vollzogen, keine Nachsicht
verdient. Die deutsche Rechtsprechung hat, anlässlich
ihrer rechtsstaatlichen Schauprozesse gegen die alten
Führer der DDR und ihre Mauerschützen, die
epochemachende juristische Erfindung einer auf
allgemeinen Grundsätzen
beruhenden Ausnahme vom
Rückwirkungsverbot getätigt und offenbar direkt in die
Grundrechtscharta übertragen dürfen. Vielleicht ist ja
bei den Beitrittsstaaten aus dem exkommunistischen Osten
auch noch die eine oder andere Vergangenheit zu
bewältigen, und Schurken wie Milosevic, die sich
dem europäischen Ordnungsanspruch nicht beugen wollen,
wachsen vielleicht künftig noch häufiger nach. Da will
Europa – auch verfassungsrechtlich – gerüstet sein.
III.
Wie viele Verfassungsurkunden nennt auch das Werk des
EU-Konvents die Völker Europas
als Auftraggeber
und eigentliche Subjekte der Grundrechteerklärung. Das
ist zwar einerseits gelogen, weil sicher nur eine
Minderheit der europäischen Population den Konvent und
seine Arbeit überhaupt zur Kenntnis genommen
hat, geschweige denn einen Auftrag erteilt oder gar, wie
die Präambel wahrheitswidrig behauptet, sich
entschlossen
hat, mit anderen Völkern Europas auf
der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft
zu teilen.
So etwas bekommt man als Volk mitgeteilt,
ebenso wie die Fälle, in denen die Zukunft, die man mit
anderen Völkern teilt, nicht mehr so friedlich ist. Die
Sprüche der Präambel sind aber eben nur einerseits
gelogen. Andererseits zeichnen sich Völker gerade durch
ihre unverwüstliche, unterwürfige weil nationalistische
Einigkeit mit ihrer Herrschaft aus; das macht ja aus
Bewohnern eines Landstrichs gerade ein Volk. In ihrer
Eigenschaft als Volk halten es diese Bewohner schon für
irgendwie ok, wenn ihre politischen
Vorgesetzten, die sie ja eigenhändig – jedenfalls
mehrheitlich – u.a. dafür gewählt haben, das mühsame
Geschäft des internationalen Verträgeschließens für
sie übernehmen, man versteht ja auch selber nicht so
viel davon.
Die dergestalt beauftragten politischen Herren
Europas haben zwar ihre eigenen Sorgen beim Aufbau ihrer
neuen Weltmacht, und deshalb ihre eigenen
Gründe, sich ein erstes Verfassungskapitel zu
schreiben, bevor sie noch einen europäischen Staat zu
verfassen haben; die volkstümliche Distanz zu
ihren Sorgen möchten sie aber ihren Völkern auch nicht
ohne weiteres durchgehen lassen, weshalb sie sich an sie
wenden und gleich ihren ganzen neuen europäischen
Geschäftsordnungsentwurf mit der volksfreundlichen
Absicht begründen, den Schutz der Grundrechte
für
ihre Völker zu stärken, indem sie in einer Charta
sichtbarer gemacht werden.
Der Hinweis auf die durch die Charta verbesserte
Sichtbarkeit der Grundrechte bezieht sich
einerseits auf die bisherige Zerstreuung der für das
Gemeinschaftsrecht gültigen Menschen- und Bürgerrechte in
verschiedenen internationalen Abkommen und im
europäischen Richterrecht, der durch die
Zusammenfassung in der Charta abgeholfen werden
soll; das soll den Bürger freuen, weil er dann nicht mehr
zu Hause in den vielen internationalen Dokumenten suchen
muss, sondern nur mehr in der Charta nachzulesen braucht,
was seine Grundrechte sind, auch wenn er sie vorerst
nicht einklagen kann; andererseits auf das verbreitete
Urteil, die europäischen Institutionen seien besonders
undurchschaubar und deshalb bürgerfern,
als ob irgendein Bürger die Abgründe der bayerischen
Staatskanzlei oder des Bundeskanzleramtes besser
durchschauen könnte. Der offenkundige politische Zweck
dieser Art von Verfassungslyrik
ist es
jedenfalls, den schlechten Ruf des politischen
Europa zu verbessern, um sich einen
politisch-moralischen Titel für die Einforderung von
Zustimmung gegenüber den Völkern
Europas zu verschaffen, wenn es darum geht, das
Einheitsprojekt weiter voran zu treiben. Ein wenig
erstaunlich ist es schon, mit welcher Zuversicht
europäische Politiker darauf hoffen, mit der
Grundrechte-Charta Stimmung machen zu können für ein
Europa, das seit Jahrzehnten als Berufungstitel herhält,
für die Zerstörung ganzer regionaler Industriezweige
(Stahl und Kohle), das Flachlegen der bäuerlichen
Landwirtschaft in Europa, Steuererhöhungen und
sozialsparsame Stabilitätsprogramme und zahlreiche andere
wirkliche oder eingebildete Nachteile der europäischen
Völker, von BSE bis Euro. Offenbar halten sie aber ihren
Katalog der erlaubten Freiheiten, lizenziert von einer
Macht, die auch ganz anders könnte und ihren Bürgern
einen rechtlichen Schutz vor sich selbst
gewährt, für einen echten agitatorischen Renner, der zu
nichts anderem, als einem kontinentalen
Sich-Identifizieren mit Europa und einem Schub
für die Legitimation der vergemeinschafteten
Gewalt-Institutionen führen könne. Ob der erhoffte Erfolg
eintritt, ist offen. Die Absicht, die dem Text der Charta
selbst und allen einschlägigen Kommentierungen und
politischen Bewertungen zu entnehmen ist, ist jedenfalls,
die Bürger Europas dazu zu bringen, sich auch ein wenig
als europäische Staatsbürger zu begreifen und
die Taten der EU-Bürokraten
als Derivate ihrer
sichtbarer gemachten
Grundrechte und -pflichten zu
verstehen. Die EU sollen sie als Teil der für ihre
Kollisionen zuständigen Obrigkeit kennen und akzeptieren
lernen, wenn schon nicht patriotisch zu lieben, und deren
Regelungen wegen ihres verfassungsmäßig einwandfreien
Charakters für ebenso legitim zu halten, wie die zu
Hause, wenn nicht die Heimatregierung gerade aus ihren
Gründen Dispens von der europäischen Pflicht zum Gehorsam
erteilt.