Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien
Ein Fall für den weltöffentlichen und den weltpolitischen Katastrophen-Humanismus

Im östlichen Mittelmeer ereignet sich das schwerste Erdbeben seit über einhundert Jahren; 1,5 bis 2 Millionen Menschen sind auf einen Schlag obdachlos, es gibt zigtausend Tote und Verletzte. Die „internationale Gemeinschaft“ ist prompt zur Stelle: mit Geld, mit Lebensmitteln, mit Suchtrupps, Räumgerät, Behelfsunterkünften und mobilen Lazaretten. „Not kennt keine Nationalität“, verkündet die deutsche Außenministerin. Das ist bemerkenswert.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien
Ein Fall für den weltöffentlichen und den weltpolitischen Katastrophen-Humanismus

1.

Im östlichen Mittelmeer ereignet sich das schwerste Erdbeben seit über einhundert Jahren; 1,5 bis 2 Millionen Menschen sind auf einen Schlag obdachlos, es gibt zigtausend Tote und Verletzte. Die „internationale Gemeinschaft“ ist prompt zur Stelle: mit Geld, mit Lebensmitteln, mit Suchtrupps, Räumgerät, Behelfsunterkünften und mobilen Lazaretten. „Not kennt keine Nationalität“, verkündet die deutsche Außenministerin. Das ist bemerkenswert.

Und zwar so sehr, dass die professionellen Beobachter und Kommentatoren des Weltgeschehens sich ein paar Tage lang nicht mehr einkriegen: So sehr sind sie an die von keiner Kritik behelligte Erfahrung gewöhnt, dass zwischen den Staaten der Welt normalerweise Konkurrenz, Rivalität, bisweilen Feindschaft herrschen – in der Gegend dort unter anderem in Form eines seit zwölf Jahren andauernden Krieges in Syrien –, dass sie die Ausnahme nicht genug bestaunen können und auch den Repräsentanten der staatlichen Weltpolitik in ihren Sendungen und Zeitungen ausgiebig Gelegenheit dazu geben, sich dafür zu feiern, wie sehr sie trotz aller Gegensätze zu den Herren in Ankara und Damaskus zu Hilfe für die Menschen in der Türkei und Syrien bereit sind.

Ein paar Unterschiede kennt die Not dann doch, und die haben entgegen der baerbockschen Morallehre durchaus ihre „Nationalität“.

2.

Deren erster besteht darin, dass die Nothilfe Aktivisten und Empfänger hat. Und zwar nicht in dem banalen Sinn, dass diejenigen Leute, die von der Katastrophe betroffen sind, sich selbst nicht helfen können, also Hilfe brauchen, die hoffentlich andere leisten. Gerade in den Äußerungen, die betonen, dass angesichts der Katastrophe die Gegensätze, von denen jeder weiß, keine Rolle spielen dürfen, kommt ja zum Ausdruck, dass da nicht einfach den am östlichen Mittelmeer und im Hinterland wohnenden Menschen geholfen wird, sondern ihren Staaten. Als die souveränen Herren über ihre Bürger sind sie generell und – normalerweise – ausschließlich zuständig für die Geschicke dieser Leute, von daher auch in diesem Notfall: Ihre nationale Hoheit prädestiniert sie zu den Ersthelfern ihrer Bürger im Augenblick der Katastrophe.

Wenn ihnen nun dabei von anderen Staaten allen Ernstes geholfen wird, so ist dies nicht nur eine ungewöhnliche, sondern für die staatlichen Empfänger der Hilfe eine heikle Sache. Sie räumen damit ja ein, dass sie für die Ausübung ihrer Zuständigkeit bei der Bewältigung der Katastrophe auf sich allein gestellt nicht über die nötige Potenz verfügen – eine wirkliche Zumutung für Subjekte, für die alles, was sie, erst recht im Verhältnis zu ihresgleichen, darstellen und sich vornehmen, auf ihrer exklusiven staatlichen Zuständigkeit für Staatsterritorium und -bürger und die daraus geschöpften staatlichen Potenzen beruht.

3.

Diejenigen Staaten, die Hilfe leisten und auf deren Hilfe es auch entscheidend ankommt, sind in der Position – und das lassen sie in erster Linie schlicht durch die helfende Tat und in zweiter Linie auch durch allerlei begleitendes Geschwätz heraushängen –, dem Empfänger ihrer Hilfeleistungen dessen Impotenz und damit ihre eigene Potenz vorzuführen. Selbstlosigkeit ist hier also keine Lüge, sondern eine Frage der Ehre, nämlich der Beweis dafür, dass man zu ihr in der Lage ist. Dieses Urteil unterschreibt so natürlich niemand, aber jeder findet es selbstverständlich, dass es bei der Katastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet eher nicht auf die Beileids- und Solidaritätsbekundungen von irgendwem ankommt, sondern darauf, dass es Baerbock, Blinken und von der Leyen sind, die über jede Grenze hinweg helfen wollen.

Das tun sie ja auch, und sie beweisen damit nicht nur die Wucht des nationalen Reichtums, über den sie in auffälligem Unterschied nicht nur zur Türkei und erst recht zu Syrien, sondern überhaupt zu vielen ihrer auswärtigen Kollegen regieren und der ein THW oder ein omnipräsentes USAID einfach nebenher abwirft. Diese Potenz haben sie darüber hinaus offensichtlich schon vor dem Erdbeben in den Standpunkt der globalen Zuständigkeit für den normalen Gang der Dinge und für die Ausnahme- und Notstandslagen übersetzt, von dem aus sie mit Nationalität nichts am Hut haben, zumindest nicht soweit ihnen fremde Nationalität eine Grenze für die praktische Betreuung des Globus setzen könnte.

Ohne Ertrag bleibt ihre Uneigennützigkeit nicht: Der westliche Humanismus weiß sich wegen der Hilfe des Westens für die betroffenen Nationen jedenfalls definitiv in der Rolle, bei denen, denen man ganz ohne Hintergedanken hilft, ein bisschen nach dem Rechten zu sehen – vor allem, aber nicht nur in Bezug auf die Lage, bei deren Bewältigung man ihnen so prompt hilfreich zur Seite steht. Ein bisschen Hineinregieren steht also an und fest, das haben die Helfernationen sich verdient – ihre jeweilige Öffentlichkeit übernimmt diesen Part jedenfalls ohne zu zögern, wenn auch erst einmal nur ideell. Der berechtigte Drang dazu ist umso größer, als auf Seiten des helfenden Westens die Auffassung existiert, dass in diesem Fall im von der Naturkatastrophe betroffenen Terrain nationale Herrschaften am Ruder sind, die ansonsten schon nicht alles richtig, vielmehr alles in verbrecherischer Weise falsch machen. Da gibt es im Falle der Türkei, die „ein schwieriger Partner“, deren Präsident nämlich ein ziemlich unhandlicher „Autokrat“ ist, so einiges nachzufragen und nachzuhaken angesichts der Nettigkeiten, die er nun aus dem Westen bekommt; von Syrien mit seinem blutrünstigen Diktator Assad ganz abgesehen.

4.

In Bezug auf die Elendslage in der Türkei ist die erste kritische Frage des abendländisch aufgeklärten Verstandes – wie bei jedem Unglück – die Frage nach der Schuld. Dass alles und jedes, was auf der Welt stattfindet und das Leben der Leute bestimmt, Konsequenz gut, schlecht oder gar nicht wahrgenommener Verantwortung der zuständigen herrschaftlichen Verantwortungsträger ist – das ist demokratischen Gemütern selbstverständlich; sie kennen Fragen nach dem Grund gerade dann, wenn es wieder mal so richtig katastrophal schlecht läuft, überhaupt nicht anders denn als Suche nach Schuldigen, die nicht verhindert haben, was nun zu beklagen ist. Für staatsgläubig oder obrigkeitshörig halten sich solche Journalisten nicht – aber bei jeder kleinen oder großen Misere wissen sie sehr dogmatisch, dass es irgendjemanden geben muss, der seines Amtes nicht vorschriftsgemäß gewaltet hat: ob bei Garmisch ein Zug entgleist, das Ahrtal absäuft, in Japan ein AKW in die Luft fliegt oder eben ein Erdbeben in der Türkei zu Verwüstungen nie dagewesenen Ausmaßes führt.

Bei wem man in diesem Fall zu suchen hat, ist damit klar: Wenn schon der türkische Staat sein nationales Besitzrecht auf diesen Zipfel tektonisch aktiver Platten erstreckt, also Allzuständigkeit reklamiert für alles, was dort passiert, dann hat er sich als der zuständige Adressat aller kritischen Fragen der stets zu kritischen Fragen aufgelegten westlichen Öffentlichkeitsarbeiter ansprechen zu lassen. Die haken nun scharf nach und wollen wissen, warum das Erdbeben die desaströsen Wirkungen hatte, die es hatte und die also offensichtlich nicht verhindert wurden. Diese Verwandlung von der politischen Zuständigkeit, die der türkische Staat beansprucht und exekutiert, in die Vorhaltung moralischer Verantwortlichkeit für das Ausmaß der Katastrophe ist umso dringlicher, als man von dem Mann an der Spitze der politischen Herrschaft über das Gebiet schließlich aus ganz anderen Zusammenhängen weiß, wie er es mit der verantwortlichen Ausübung seines Regiments hält – die lässt nach maßgeblichem Urteil von Politik und Öffentlichkeit des oberzuständigen Westens bekanntlich ganz generell zu wünschen übrig.

Also und so kommt die Investigation in die Gänge: Dass sich die Leute dort wegen ihres Geldmangels erdbebensichere Häuser nicht bzw. nicht selbständig leisten können, verweist auf die Armut, von der sie betroffen sind – interessant ist an ihr in diesem Zusammenhang einzig die Frage, warum der für sie doch höchstpersönlich zuständige Erdoğan ihnen nicht finanziell unter die Arme gegriffen hat; mit einem staatlichen Fonds für die Errichtung erdbebensicherer Häuser womöglich. Ach, hat er? Und das im Staatshaushalt zur Verfügung gestellte Geld ist bloß nicht bei den eigentlichen Adressaten angekommen, sondern irgendwo versandet? Auch das bringt den Mann nicht aus der Schusslinie der qua Hilfe, die nicht sie leisten, zu jedem forschen Verdacht berechtigten westlichen Investigativjournalisten – sie müssen bloß die Frage modifizieren: Offensichtlich hat Erdoğan den Missbrauch der staatlichen Hilfen für erdbebensicheres Bauen nicht verhindert – warum? Die Frage harrt zwar noch einer wirklichen Antwort, legt die Richtung, in der nach dieser zu suchen ist, aber schon mit hinreichender Genauigkeit fest: Offenbar hat es in seinem „Umfeld“ Interessen daran gegeben, und Umfeld – weil Autokrat – ist er quasi selbst, in Form seiner Verwandten und anderer dubioser Getreuer. Eine andere Variante der Antwort, die genauso freihändig lanciert wird, lautet, er habe ebendieses korrupte Graufeld zwischen seinem Haushalt und den Empfängern der Mittel nicht im Griff. Besser ist das auch nicht.

Im Prinzip ist die Schuldfrage also damit beantwortet, dass sie gestellt wird. Aus dem gleichen Grund, aus dem sie gestellt wird, ergibt sich gleich die nächste Frage, die man vom Standpunkt berechnungsfreier Hilfsbereitschaft unbefangen zu stellen verpflichtet ist: Wird die Katastrophe und/oder unsere Katastrophennothilfe von Erdoğan womöglich missbraucht? Da fällt die Antwort insofern schwer, als man gar nicht weiß, wohin man zuerst schauen soll. Aber man schaut dann halt notgedrungen überall hin – und wird, wer hätte das gedacht, überall fündig: Er verantwortet den nationalen Rettungseinsatz, praktiziert also die souveräne Zuständigkeit für Land & Leute, zieht sich also schon von daher automatisch den Verdacht zu, sich als Macher zu inszenieren, erst recht, wenn er sich vor Ort blicken lässt und sich als oberster Helfer und Tröster seiner Landeskinder aufführt. Die Besuche auswärtiger Staatsleute, die diese offenbar für angezeigt halten, um sich – mit welchen weitergehenden Berechnungen auch immer – als Helfer und Tröster ihrer verbündeten Türken zu inszenieren, nutzt er aus, um sich in ihrem Licht zu sonnen und alle von seinen Kontrahenten in Umlauf gebrachten Vorwürfe zu widerlegen, er hätte die Türkei in der Welt isoliert. Außerdem nutzt er die Konzentration der weltöffentlichen Aufmerksamkeit aufs Erdbeben und dessen Bewältigung dazu aus, seinen militärischen Kampf gegen die Kurden unvermindert fortzuführen, was von denjenigen Beobachtern angemerkt wird, die unvermindert ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richten. Dann ist da noch der Wahlkampf bzw. Wahltermin. Zunächst muss der Verdacht erlaubt sein, dass er das Erdbeben in aller Selbstherrlichkeit dazu missbraucht, den Wahltermin zu verschieben, weil der Wahlkampf für ihn nicht so gut läuft und er daher Zeit dafür schinden will, das Ruder noch einmal herumzureißen. Dann stellt sich aber heraus, dass er es in aller Selbstherrlichkeit bei dem geplanten Termin belässt, weil er den negativen Konsequenzen für seine Zustimmungswerte zuvorkommen will, die unvermeidlich drohen, wenn der Nimbus des präsidialen Ersthelfers, den er sich missbräuchlich zugeschanzt hat, erst einmal lang genug verflogen ist. Und so weiter in einem fort...

Die ganze Sicherheit der öffentlichen Meinung hier, dass Erdoğan das Erdbeben, dessen Bewältigung und alles, was damit zu tun hat, zu seinen Gunsten missbraucht, lebt von ihrem dann doch nicht so ganz selbstlosen Wunsch nach dem Gegenteil. In denselben Nachrichtensendungen, in denen die üblichen Spendenkonten eingeblendet werden, wird von denselben Journalisten, die die üblichen humanistisch-betroffenen Textbausteine aneinanderreihen, ganz locker die Frage gestellt: „Was bedeutet das Erdbeben für Erdoğan?“ – und alle, alle wissen, was sie meinen: Welchen Schaden für ihn können wir uns erhoffen? Dass die Hoffnung nicht unberechtigt ist, ergibt sich aus der objektiven Schwäche des türkischen Staats, die von der Katastrophenlage teils erzeugt, teils offengelegt wird, und aus der damit verbundenen Abhängigkeit von der – nach Kräften demonstrierten – Potenz seiner lieben Partner, diese Lage zu bewältigen. Dass das Erdbeben mitten im Wahlkampf stattfindet, ist da die eine entscheidende Vorgabe für die westlichen Journalisten, die den westlichen Hilfstross begleiten, wenn sie nicht schon vorher da waren. Nach dem ersten äußersten Entsetzen über das Leid der Leute vor Ort gebietet es das berufliche Ethos unabhängiger Anti-Erdoğan-Recherche, bei frisch aus den Trümmern gezogenen Überlebenden, verstörten Angehörigen Vermisster, verzweifelten und erschöpften Helfern und überhaupt bei jedem, dessen sie habhaft werden, danach zu fragen, inwiefern sie das Erdbeben und seine Aus- und Nachwirkungen nun für ein Wahlargument für einen von Erdoğans Herausforderern halten, welchen, ist dabei in der Stunde des ersten Schocks nicht so wichtig. Denen schenken sie ebenfalls Zeitungszeilen und Sendeminuten, besonders dem einen, damit der tief betroffen von der Betroffenheit seiner Landsleute aus ehrlicher Liebe zu ihnen ein bisschen Wahlkampf machen und seinen Anhängern und denen, die es werden sollen, vorführen kann, dass mit ihm an der Spitze alles nicht so schlimm gekommen wäre, weil gute Beziehungen zum westlichen Ausland und so weiter.

Seismisch induzierte politische Schwäche ist das eine – sie politisch auszunutzen ist das andere, und das passiert nicht von allein, sondern will besorgt sein. Den groben Kurs dafür gibt ein ehemaliger US-Diplomat in gewohnter amerikanischer Klarheit vor: „Die Türkei ist geschwächt, sie muss also Entgegenkommen zeigen.“ Wobei? Da gibt es so schnell nichts, was Politikern und Politikberatern nicht an Verknüpfungen einfiele; der gute Mann macht es gleich selbst vor: „Zum Beispiel, wenn Washington fordert, dass sie aufhört, Russland in die Hände zu spielen.“ Aber auch bilaterale Rüstungsgeschäfte und die leidige Frage des von der Türkei bis dato verhinderten NATO-Beitritts Schwedens kommen da auf den Tisch, genauso wie das Verhalten der Türkei in der Ägäis und ihr Umgang mit den syrischen Kurden, eben alles, was die Türkei nicht bisher schon macht, was aus deutscher, europäischer ... Sicht anstünde.

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In Bezug auf Syrien gilt dieselbe Logik – nur unter etwas anderen politischen und damit moralischen Voraussetzungen. Dessen Führer Assad gilt in den westlichen Hauptstädten nicht als schwierig, sondern als Feind, den man seit vielen Jahren teils selber bekämpft, teils from behind bekämpfen lässt. In der westlichen Öffentlichkeit existiert diese politische Feindschaft als die Karikatur vom blutrünstigen Diktator, der seit zwölf Jahren sein eigenes Volk ermordet.

Von daher steht fest, dass er in Sachen Erdbeben alles nicht nur falsch, sondern richtig verbrecherisch macht. Das Erdbeben als solches kann man zwar auch Assad nicht in die Schuhe schieben, aber eben fast: Man braucht ja nur – und tut das penetrant immer und immer wieder – die Bilder der Verwüstungen durch das Erdbeben neben die Verwüstungen durch den Bürgerkrieg zu setzen, in aller sadistischen Akribie vorzuführen, „wie sich die Bilder gleichen“ und wie beides in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten Syriens zusammenkommt, schon ist klar: Die Naturkatastrophe ist quasi die Fortsetzung von Assad mit anderen Mitteln. Wenn auch dieser Regent es sich angelegen sein lässt, sich zwischen den Trümmern blicken und als fürsorglicher Landesvater feiern zu lassen, was er schon darum nötig hat, weil seine Hoheit übers Land ja immer noch mit westlicher Hilfe – oder gleich mit westlichen Truppen – gewaltsam bestritten wird, dann finden das westliche Öffentlichkeitsmenschen „verstörend“; dass dieser Mann sich als Repräsentant und Führer des Staates von seinen geretteten Landeskindern begrüßen lässt, denen die westliche Helferriege erst einmal jede Hilfe verweigert, entstört sie dabei nicht im Mindesten.

Dafür verfolgen sie gespannt, wie es in Sachen internationaler Hilfe für Syrien weitergeht. Wo im Falle der Türkei die Hilfe erst einmal stattfindet, um dann als Vorleistung für politisches Entgegenkommen in Anschlag gebracht zu werden, gibt es sie im Falle Syriens gleich nur als Gezerre um die Konditionen. Die werden von allen Seiten sehr ernst, nämlich als Ausweis dafür genommen, wie viel Anerkennung seiner politischen Existenz das syrische Regime seinen westlichen Feinden abtrotzen kann. Die kommen zudem nicht umhin zu registrieren, dass auch andere potente Staaten sich auf Erdbebendiplomatie verstehen, aber in ganz verkehrter Weise: Vor allem für ein paar arabische Autokraten, leider gut bei Kasse, ist die erdbebenmäßige Verwüstung von Teilen des Landes, das sie seit zwölf Jahren überhaupt schon ganz gut haben verwüsten lassen, der willkommene Anlass für ein paar weitere Schritte in Richtung „Annäherung“ bzw. „Normalisierung“, was keineswegs gleich Frieden, aber doch ein sanftes Abklingen ihres Stellvertreterkrieges heißt. Es zeichnet sich also die Perspektive ab, dass diesem nach allgemeiner Auffassung der in solchen Dingen bewanderten Experten grausamsten Bürgerkrieg, den es in der arabischen Welt je gegeben hat – was immer man sich unter diesem Superlativ vorstellen soll –, demnächst tatsächlich von seinen großen arabischen Sponsoren das Geld abgedreht werden könnte. Das ist nicht nur für die humanistische Öffentlichkeit des Westens eine grausige Vorstellung. Auch die westliche, insbesondere amerikanische Politik kann das gar nicht leiden. Also tut sie, was sie bekanntlich besonders gut kann: Sie justiert ihr Sanktionsregime neu. Einerseits lockert sie angesichts des Erdbebens vorübergehend ein paar Sanktionen mit dem erklärten Zweck, private und öffentliche humanitäre Geldströme nach Syrien zu ermöglichen – das ist man sich und dem Witz schuldig, die antisyrischen Sanktionen richteten sich nicht gegen das syrische Volk, das dummerweise von ihnen im Zuge eines seit nunmehr zwölf Jahren währenden Dauerkollateralschadens betroffen ist. Zum andern passiert ein „Assad Anti-Normalization Act“ schon den außenpolitischen Ausschuss des US-Kongresses. Der soll, so lautet die Begründung, verhindern, dass die aus Anlass des Erdbebens beschleunigte Wiederverbrüderung zwischen den eben noch blutig verfeindeten arabischen Staaten tatsächlich in mit Öldollars finanzierte Investitionen mündet. Vielleicht nicht das Ende des Syrien-Krieges, aber wenigstens der Wiederaufbau nach den Jahren des Schlachtens und einem gigantischen Erdbeben wird sich mit der humanitären Finanzmacht Amerikas und seiner wertegeleiteten Verbündeten doch wohl verhindern lassen.

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Die Weltpolitik ist von dem Erdbeben definitiv nicht erschüttert worden.