Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Ein Erdbeben in der Türkei und ein neues Naturgesetz:
Es trifft immer die Richtigen!
Dass Naturkatastrophen so verheerend ausfallen wie jüngst in der Türkei ist dem Geldmangel der dort lebenden Leute, den Kalkulationen von Bauunternehmen und dem Staat geschuldet. Leitartikler der SZ finden die wahren Ursachen: der Mensch als widersprüchliches Wesen.
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Ein Erdbeben in der Türkei und ein
neues Naturgesetz:
Es trifft immer die Richtigen!
Daß Naturkatastrophen ihre Gründe haben, für die verheerenden Folgen, die sie zeitigen, aber sehr oft nicht die Natur verantwortlich ist, hat sich auch in bürgerlichen Kreisen herumgesprochen. Mittlerweile registriert man dort ganz selbstverständlich, daß Wirbelstürme und Erdrutsche in Mittel- und Südamerika bevorzugt Armenviertel ausradieren, in Überschwemmungsgebieten Menschen dahingerafft werden, die gleichfalls nicht aus freien Stücken Feuchtbiotope zu ihrem bevorzugten Aufenthaltsort erklärt haben, und daß sogar im zivilisierten Europa recht oft die Natur das Elend bloß zusätzlich zur Katastrophe macht, mit dem recht viele aus ganz anderen Gründen geschlagen sind. So erfährt man auch im Falle des jüngsten Erdbebens in der Türkei ganz ohne Beschönigung, warum eine Plattenverschiebung im Erdinnern gleich 40000 Tote auf der Erdoberfläche nach sich zieht: Für dieses Ausmaß der Katastrophe verantwortlich zeichnen der Geldmangel der Leute, sich keine soliden Häuser bauen zu können, die kostensparenden Kalkulationen von Bauunternehmern, die die entsprechenden Bruchbuden hinstellen – und ein Staat, dem ein türkisches Geschäftsleben wichtiger ist als die Vorsorge gegen das Risiko, das aus der geologischen Beschaffenheit seines Staatsbodens für seine Bevölkerung resultiert.
Ein Leitartikler der SZ hat sich offensichtlich allzusehr
an dieser Auskunft über die eher unnatürliche Natur des
Elends von Naturkatastrophen gestört, die er in seinem
eigenen Blatt zu lesen bekam. Er jedenfalls setzt sich
hin und macht sich auf die Suche nach der wahren
Ursache der Katastrophe. Unter dem Titel: ‚Tragische
Hilflosigkeit‘ sowie unter Berücksichtigung aller
öffentlich gemachten Ursachen für die vielen Toten wirft
er die schwerwiegende Frage auf, ob ‚der Mensch‘ denn
nicht endlich aus Schaden klug werde: Wird er also für
das nächste Beben besser vorbereitet sein, wenn das
jetzige analysiert worden ist und sich im Bewußtsein
aller festgesetzt hat, dass das fragliche Gebiet seit
langem hochgradig bebengefährdet war und trotzdem die
Häuser derart brüchig gebaut wurden, dass sie unter den
Stößen zusammenklappen und ihre Bewohner erschlagen
mußten?
(SZ 19.8.99) Ja,
sollte ‚der Mensch‘ womöglich Schluß machen damit, sich
auf seine eigenen Lebensbedingungen in derselben Ohnmacht
zu beziehen, in der er den Mächten der Natur ausgeliefert
ist? Sollte er tatsächlich im Zuge einer soliden
Prophylaxe gegen die Folgen von Erdbeben darauf
verfallen, das System wegzuschmeißen, das für seine
unsicheren Lebensbedingungen sorgt? Genau das soll er
nicht. Er kann es nämlich gar nicht: Leider wird der
Mensch nicht besser gewappnet sein. Die nächste
Erdbebenkatastrophe wird wieder die gleichen traurigen
Bilder hervorbringen… Es lohnt sich darüber nachzudenken,
warum, dem Augenschein nach, die Auswirkungen von Beben
unveränderlich katastrophal bleiben, ja sogar die Zahl
der Opfer eher steigt als sinkt.
Daß es bei Erdbeben
so katastrophal kommen muß und sogar noch schlimmer
kommen wird, weiß Herr P. Sartorius nämlich von dem
tiefen Nachdenken her, das er freundlicherweise
stellvertretend für ‚den Menschen‘ übernommen hat. Denn
dabei hat er erstens entdeckt, daß ‚der Mensch‘ ein in
sich zutiefst widersprüchliches Wesen ist: Zum einen
nämlich arbeitet der Mensch einfallsreich daran, sich
gegen die tödliche Kraft von Erdbeben zu schützen. Zum
anderen aber wirkt er auch genau darauf hin, dass er in
immer größerer Zahl deren Opfer wird.
Zweitens hat er
herausgefunden, daß seine Entdeckung – ‚Mensch‘ weiß sich
einerseits zu helfen, betreibt andererseits seinen
Untergang – exakt dem vertrauten Sachverhalt entspricht,
wonach sich die Gattung ohnehin in zwei Prototypen
scheidet, die sich zufälligerweise auch noch in genau die
Aufenthaltszonen aufteilen, welche für sie
charakteristisch sind: Die Armen sind es, die in
unterentwickelten Ländern leben, und die Reichen
sind es, die Industriestaaten bevölkern, und je nach dem,
wo man lebt, lebt man eher sicher oder eher nicht. So
passen Arme und Reiche genau auf die zwei Lebensräume,
von denen der eine seinen Bewohnern die Möglichkeit
offeriert, sich sichere Plätze zum Leben auszusuchen,
während man in den anderen froh ist, überhaupt irgendwo
vier Wände zum Wohnen zu finden, und seien sie noch so
einsturzgefährdet
. Drittens hat die differenzierte
Argumentation
des Schreibers herausgefunden, daß sich
die unterschiedlichen Exemplare der Gattung stets genau
den Aufenthaltsraum aussuchen, der ihnen auf den Leib
geschneidert ist, in dem sie also genau so leben, wie es
ihnen entspricht: Die einen haben Know how,
Geld, teuren Spannbeton, der Schläge auspendelt
und Hochhäuser auf Kugellagern
, und ihre Kinder
lernen auf kalifornisch und japanisch ganze
Erdbeben-Verhaltensregeln auswendig. Die anderen haben
andere Sorgen
und sehen sich der ehernen Regel
ausgeliefert, dass Erdbeben ihre fürchterlichsten
Konsequenzen dort haben, wo der Mensch weder das Know how
noch das Geld der westlichen Wohlstandswelt hat, umso
mehr aber die Neigung sich zu vermehren und sich in
einzelnen Zentren zu ballen, eben dort, wo sich für ihn
Lebenschancen bieten.
Und wer eben von Natur her die
Neigung zum Vermehren und Ballen – vorzugsweise auf
unsicherem Terrain – mitbringt, muß sich über die Folgen
nicht wundern: Naturgemäß
– wirklich: naturgemäß –
muß das dazu führen, dass er massenhaft
–
wirklich: massenhaft – zum Opfer von Naturkräften
wird.
Dies also ist die Botschaft, die man dieser und den
kommenden Katastrophen zu entnehmen hat. Die Armen
sind hilflos den Mächten der Natur ausgeliefert
– und müssen es deswegen auch bleiben. Es gibt
zwar die Erfindungen der besseren Menschen aus der
High-Tech-Welt
, weil in der einfach Geld vorhanden
ist, aus Schaden klug zu werden
– aber dem
größeren, ärmeren Teil der Welt kommt dies nicht
zugute.
‚Warum eigentlich nicht?‘, ist für diesen
Menschen keine Frage, und damit die garantiert keiner
aufwirft, belehrt er seine Zeitgenossen eigens darüber,
daß die Welt von Natur aus so eingerichtet ist, wie sie
nun einmal ist, die einen eben Geld haben und sich
Sicherheit kaufen können, die anderen eben nicht. So
lernen wir von diesem gebildeten Menschen, daß die Natur
mit ihren Beben bloß eine Selektion praktisch exekutiert,
die sie vorher schon getroffen hat: Die Armen,
die bei ihren Katastrophen zugrundegehen, belegen posthum
das Naturgesetz, daß eine Welt, in der der Reichtum zählt
und sonst nichts, für sie einfach nicht der richtige
Aufenthaltsort ist. Dazu dürfen wir dann ‚tragisch‘ sagen
und bei den nächsten Katastrophen unsere abgrundtiefe
‚Hilflosigkeit‘ beklagen, daß wir gegen die Mendel’schen
Gesetze der Armut einfach nichts ausrichten können. Jetzt
wissen wir’s also. Erdbeben werden von Menschen gemacht,
die Verteilung des Reichtums aber kommt von Natur.