Orientierungsprobleme an der Heimatfront
Die Deutschen – ein Volk von „Putinverstehern“? Das kann doch nicht wahr sein!
In so gut wie allen Organen der politischen Meinungsbildung
steht man vor einem Rätsel. Wo es angesichts der
Konfrontation zwischen dem Freien Westen und der Autokratie
in Russland doch gar keine Frage ist, wofür und wogegen man
als Deutscher Partei zu ergreifen hat, sind die Landsleute
mehrheitlich der Auffassung, die eigene Nation hätte sich da
herauszuhalten. Zeitungen staunen über die Flut von
Zuschriften ihrer Leser, die sich über Einseitigkeit und
Parteilichkeit der Berichte ihrer Lieblingsblätter
beschweren. Während Putin höchstoffiziell mit Hitler und
russischer Nationalismus mit dem Ungeist aus dem letzten
Jahrhundert verglichen wird, der auch schon den I. Weltkrieg
heraufbeschworen hat, mahnen namhafte Autoritäten des
kulturellen Lebens wie Sachverständige aus der Politik zur
Zurückhaltung. Kenner der Russen, außenpolitische Hardliner
wie Generäle i.R. empfehlen in öffentlich-rechtlichen
Talkshows leisere Töne
im Umgang mit Russland – wie
dies?
Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- I. Verantwortungsvolle politische Berichterstattung in ernsten Zeiten
- II. Entzweiung zwischen Meinungsführern und ihrem Publikum
- III. Die Antwort der Öffentlichkeit: Feindbildpflege als Mission
- IV. Kritisches Magazin kritisiert Kritiker des Westens, oder: Fakten können doch nicht über Recht und Unrecht entscheiden!
- Faktencheck 1: Wer hat ein Recht auf „Erweiterung“ seines Einflussbereichs?
- Faktencheck 2: Wessen „Ängste“ sind „berechtigt“?
- Faktencheck 3: Wessen „Einmischung in die Ukraine“ ist berechtigt?
- Faktencheck 4: Sind Rechtsradikale regierungsberechtigt?
- Faktencheck 5: Wer übt mit Recht Gewalt?
- Faktencheck 6: Ist das Referendum rechtens?
- Jenseits aller „Fakten“: Gleiches Unrecht für alle? Niemals!
- V. Die Zeit erklärt: „Wie Putin spaltet“
Orientierungsprobleme an der
Heimatfront
Die Deutschen – ein Volk von
„Putinverstehern“? Das kann doch nicht wahr sein!
In so gut wie allen Organen der politischen
Meinungsbildung steht man vor einem Rätsel. Wo es
angesichts der Konfrontation zwischen dem Freien Westen
und der Autokratie in Russland doch gar keine Frage ist,
wofür und wogegen man als Deutscher Partei zu ergreifen
hat, sind die Landsleute mehrheitlich der Auffassung, die
eigene Nation hätte sich da herauszuhalten. Zeitungen
staunen über die Flut von Zuschriften ihrer Leser, die
sich über Einseitigkeit und Parteilichkeit der Berichte
ihrer Lieblingsblätter beschweren. Während Putin
höchstoffiziell mit Hitler und russischer Nationalismus
mit dem Ungeist aus dem letzten Jahrhundert verglichen
wird, der auch schon den I. Weltkrieg heraufbeschworen
hat, mahnen namhafte Autoritäten des kulturellen Lebens
wie Sachverständige aus der Politik zur Zurückhaltung.
Kenner der Russen, außenpolitische Hardliner wie Generäle
i.R. empfehlen in öffentlich-rechtlichen Talkshows
leisere Töne
im Umgang mit Russland – wie dies?
I. Verantwortungsvolle politische Berichterstattung in ernsten Zeiten
Eines steht mit Sicherheit fest: Irgendwelche Fehler oder
Versäumnisse bei der Wahrnehmung ihrer
Informationspflichten über die Ukraine-Krise
und
deren Eskalation zur Krim-Krise
haben sich die
Journalisten deutscher Zeitungsredaktionen und
Fernsehanstalten nicht vorzuwerfen. Von Anfang an und in
aller Ausführlichkeit setzen sie ihr Publikum über die
Interessen und deren Gewicht in Kenntnis, die mit diesem
nächsten Schritt der Expansion Europas nach Osten auf dem
Spiel stehen. Sie verschweigen auch die Hindernisse
nicht, die der erfolgreichen Durchsetzung dieses
Vorhabens unter deutscher Federführung vor Ort
entgegenstehen, so dass jeder, der es wissen will, schon
mitbekommt, worum es der Sache nach geht bei diesem
Export europäischer Freiheits- und Geschäftsregeln in die
Ukraine: um die Erweiterung des europäischen, also die
Reduzierung des russischen Einfluss- und Machtbereichs.
Wie immer, und in dieser gewichtigen Angelegenheit schon
gleich, gehört zu einer gediegenen Meinungsbildung über
die außenpolitischen Affären der eigenen Nation auch die
Orientierung an Gesichtspunkten, die ein solides Urteil
darüber hergeben, was das eigene Volk von ihnen zu halten
hat. Auch diesbezüglich machen die professionellen
Meinungsbildner alles richtig. Das Recht, das sich
Deutschland und seine europäischen Partner gegenüber
Russland herausnehmen, geht für sie derart in Ordnung,
dass ihre Parteinahme für seine erfolgreiche Durchsetzung
zur Leitlinie ihrer Berichterstattung über alles wird,
was das europäische Projekt zum Bürgerkrieg ausarten
lässt. Das verlagert den Streit, den Staaten um ihre
Rechte führen, auf eine etwas andere Ebene, nämlich auf
die des höheren Rechts, das sie für sich
beanspruchen können: Kein Kampf Europas um Macht und
Einfluss findet da nach Auffassung der Berichterstatter
statt, sondern einer um die hohen Werte, für die
Europa steht und die seine Politik unwidersprechlich
machen. In ihrer Sicht der Dinge stehen sich in der
Ukraine Befürworter der guten und gerechten Sache des
ukrainischen Volkes, das darauf wartet, endlich aus einem
postsowjetischen Völkergefängnis befreit zu werden, auf
der einen und Machthaber auf der anderen Seite gegenüber,
deren einziger Zweck ist, eben dies den aufrechten
Anhängern von Freiheit
, Demokratie
,
Europa
und ukrainischer Selbstbestimmung
zu
verwehren.
Diese Botschaft teilen sie ihrem Volk dann in Wort und
Bild ausführlich mit. Das lernt in Artikeln und
Sondersendungen live vom Maidan, dass es sich bei bestens
ausgerüsteten Paramilitärs um eine spontane Aufwallung
vor allem einer jungen, aufstrebenden Elite handelt, die
gut vernetzt ist und allein deswegen schon sehr
fortschrittlich. Die will zusammen mit vielen anderen
aufrechten Bürgern eine neue Ukraine
, und in der
Hauptsache demonstrieren sie miteinander dagegen, dass
ihnen die Aufnahme ins europäische Paradies der Freiheit
verwehrt wird. Umgekehrt kann man an den Schlagstöcken
der staatlichen Sicherheitskräfte erkennen, dass die
amtierenden Machthaber nur eines im Sinn haben: ein
friedliches Volk mit Gewalt zu unterdrücken und seinen
Aufbruch in eine bessere Zukunft zu verhindern. Die
Besetzer des Maidan, die derart zu Repräsentanten eines
nach Freiheit dürstenden Volkes befördert werden, setzen
sich zwar, das zu erwähnen kommt man dann doch nicht
umhin, zu nicht unbeträchtlichen Teilen aus einem
rechten Sektor
und ukrainischen
Ultranationalisten
zusammen. Aber erstens weiß man
nicht sicher, ob das, nur weil sie die Demokratie
verachten und die Juden hassen, wirklich
Faschisten
sind; Hakenkreuze tragen sie jedenfalls
nicht am Ärmel, und außerdem sind auch echt ukrainische
Juden auf den Barrikaden gesehen worden. Selbst wenn es
stimmen sollte, dass sie etwas rechtsradikal sind, fällt
das zweitens nicht groß ins Gewicht, weil sie bei echten
demokratischen Wahlen keine Chance hätten; Reporter vor
Ort haben das in Blitzumfragen hinter den brennenden
Autoreifen ermittelt. Drittens und überhaupt ist die
Frage angebracht, ob es sich bei diesen sicherlich
zwielichtigen Schlägertrupps
nicht um
pro-russische Provokateure
, vielleicht sogar
Agenten im Dienste der Regierung Janukowitsch
handelt, damit die endlich einen Vorwand zum Zuschlagen
hat. Das will der Despot
an ihrer Spitze zwar
eigentlich nur und von Anfang an, schreckt aber dann doch
immer wieder vor seiner eigenen Unmoral zurück; woran
sich ermessen lässt, wie gewaltig die sein muss...
So geht es dahin und sprechen Tote und Verletzte gleich
welcher Seite immer dieselben Bände. Die Gewaltexzesse
der Partei, für die man ist, irgendwie ins Recht zu
setzen, um im selben Zug die Seite, gegen die man ist, zu
einem einzigen Gewaltexzess und zum Himmel schreienden
Unrecht zu stilisieren – für diesen guten Zweck legen
sich deutsche Journalisten ins Zeug und bestücken die
Nachrichten. Wenn Mitglieder des neuen Parlaments vor
laufender Kamera den Intendanten des Fernsehens
verprügeln, weil der eine Rede Putins überträgt,
berichten sie von einem kleinen Fauxpas im endlich
erfolgreich erkämpften demokratischen Procedere; der ist
vor allem deswegen hochproblematisch, weil er Putin in
die Hände spielt
. Sie entlarven den aus dem Amt
gejagten Regierungschef als Verbrecher
, seinen
Staat als einen einzigen Hort von Korruption
und
finden überhaupt nichts dabei, im selben Zug seine
Nachfolger im Amt, die sich unter Führung der famosen J.
Timoschenko ihre politischen Meriten erworben haben, als
Hoffnungsträger einer neuen demokratischen Ukraine
zu begrüßen; zu denen dürfen sich ab sofort auch einige
Oligarchen rechnen, die bis vorgestern noch Inbegriff der
im Land herrschenden Korruption waren. In der Handhabung
dieser Technik, den tobenden Machtkampf nach Recht und
Unrecht und die Parteien, die ihn führen, entsprechend in
die Guten und die Bösen zu sortieren, laufen sie dann zu
ganz großer Form auf. Die USA eskalieren den Machtkampf
in der Ukraine offen zu einer Machtfrage zwischen „dem
Westen“, dem Hort der Freiheit, und Russland, dem
Erbnachfolger des untergegangenen Sowjetimperiums
,
Deutschland reiht sich, zurückhaltend zwar, aber eben
doch auch in diese Feindschaftserklärung mit ein – und
deutsche Journalisten wissen augenblicklich, was sie zu
tun haben: Sie machen sich an die Schärfung der
Feindschaft, die Russland angesagt wird, und an die
Schärfung des Feindbilds, das die Feindschaft
braucht.
Was die Feindschaft betrifft, die Russland nach
seiner völkerrechtswidrigen Annexion der Krim
erklärt wird, stellen sie nicht nur klar, dass sie vom
überparteilichen Ordnungsstandpunkt aus, den der Westen
vertritt, in jeder Hinsicht gerechtfertigt ist – sie
wissen auch sofort, auf welcher Ebene die Antwort des
Westens
allein anzusiedeln ist. Putins grüne
Männchen
, die in die Krim einsickern, Tataren
vertreiben und den Rest der Bevölkerung solange
manipulieren, bis das Volk geschlossen nach Russland will
– das alles sind für sie Eingriffstatbestände, die nur
nach einem rufen: nach dem Einsatz der gerechten
Gewalt des Westens. Dass gegen Russland eine
Intervention des Westens und seiner NATO wie im Fall
Libyens geboten und eine Flugverbotszone über der Krim
und Cruise Missiles zum Schutz bedrohter Tataren die
passende Antwort
auf das Verbrechen wäre, das man
Russland zur Last legt. Das freilich vertritt im Westen
kein amtierender Regierungschef, und das wird insoweit
auch von deutschen Journalisten respektiert: Für die ist
eine Konfliktlösung
in Gestalt einer
militärischen Intervention des Westens
selbstverständlich ausgeschlossen
und kommt auch
in Zukunft absehbar nicht in Frage
. Dann verraten
sie freilich schon, aus welchem Geist ihr nobles
Bekenntnis zur Friedenspflicht geboren ist: Im
Prinzip wäre für sie die erklärte Feindschaft
durchaus auf einem Niveau angesiedelt, für das Staaten
ihr Militär bereithalten, weshalb alles, was unterhalb
der Schwelle zum Krieg ersatzweise angesagt ist im
Katalog der zivilen Strafmaßnahmen
, für sie
ungefähr so glaubwürdig zu wirken hat
wie die Drohung mit einem Griff zu den Waffen.
Alles, was dem Westen einfällt als Sanktion für die
Annexion der Krim und zur wirksamen Abschreckung
Russlands vor einer weiteren Expansion seiner Macht in
der Ostukraine, mustern sie kritisch auf diesen
Effekt hin durch. Ob der Westen da nicht Schwäche
zeigt
, wenn er sich so vorschnell und eindeutig auf
den Verzicht auf eine härtere Gangart
festlegt
, fragen sie skeptisch – und erinnern
damit schon wieder nur an das Maß an Gewalt, das ihrer
Ansicht nach ab sofort im Umgang mit Russland eigentlich
anstünde. Harte Sanktionen
als ziviles Äquivalent
für die Schädigung des Gegners, die ihrem
Gerechtigkeitssinn vor Augen steht, befürworten sie
selbstverständlich – müssen dann aber schon kritisch
nachfragen, ob sie auch wirklich hart
sind,
nämlich so empfindlich wirken
und Russland
treffen
, dass sie vor ihrem prüfenden Blick als so
etwas wie Krieg mit anderen Mitteln bestehen können. Und
dass die NATO ein paar Soldaten an die neue Front verlegt
und ihr Chef mehr Rüstung angesichts einer neuen
Bedrohungslage fordert, registrieren sie als das
Wenigste, was das größte Kriegsbündnis aller Zeiten sich
schuldig ist. Derart begleiten sie den vom Westen noch
nicht gekündigten zivilen Verkehr mit Russland mit einem
Hintergrundrauschen, dem deutlich zu entnehmen ist, dass
der ihrer Auffassung nach eigentlich aufgekündigt gehört.
Das Feindbild, dessen Konstruktion und Pflege
sie sich widmen, heißt Putin. Der offenbart in der Krim
endgültig, dass er von Anfang an hinter allem gesteckt
hat, was die Ukraine destabilisiert
, dass also in
Russland der Inbegriff des politischen Großverbrechertums
regiert. Um das eindringlich zu vermitteln, greift man in
die Archive, die man auch nach dem Abtritt des Reichs des
Bösen vorsorglich aufbewahrt hat: Die
Sicherheitsinteressen, die zu schützen Putin vorgibt,
sind eine einzige Bemäntelung der Absichten, die ihn
wirklich umtreiben – in Wahrheit will er das alte
russische Großreich
restaurieren, wahlweise auch die
zusammengebrochene Sowjetmacht
wieder zum Leben
erwecken
. So oder so, als Zar, der sich der Methoden
Stalins bedient, oder als Stalin, der wie Hitler vorgeht,
in die Krim einmarschiert, um sich dann an die
Zerschlagung der Rest-Ukraine zu machen, ist dieser Mann
ein einziger Rückfall hinter alles, was die moderne
westlich-zivilisierte Staatengemeinschaft erfolgreich
hinter sich gebracht hat. In der hat Machtpolitik
,
schon gleich Großmachtpolitik
, nichts mehr
verloren, ist Nationalismus
ausgestorben und steht
geopolitisches Denken
auf dem völkerrechtlichen
Index. Wer in Europa Grenzen gewaltsam verschiebt
,
plant also nur eines: einen Rückfall in die Zeit des
Kalten Kriegs
. Er zeigt damit, wie wenig er
hineinpasst, dass er so richtig noch nie hineingepasst
hat und sich auch in Zukunft gar nicht einpassen will in
die friedliche Welt der Freiheit, die nach dessen Ende
herrscht – dass er daher als Fremdkörper in ihr zu ächten
ist und praktisch aus ihr ausgegrenzt gehört.
II. Entzweiung zwischen Meinungsführern und ihrem Publikum
Bei der Mehrheit der deutschen Bürger verfängt die
öffentliche Kriegshetze gegen Russland erst einmal nicht.
Viele von ihnen sind der Auffassung, dass im vorliegenden
Fall Gut und Böse, Recht und Unrecht nicht derart
einseitig
verteilt gehören, wie es ihnen auf allen
Kanälen im Fernsehen, von den Trendsettern der Leitkultur
von Jauch bis Lanz und den Leitartikeln ihrer Presse
einhellig vorgesagt wird. Für total parteilich
,
unglaubwürdig
und eine komplette Verarsche
halten sie die Berichterstattung ihrer Medien und melden
sich in Leserbriefen und Internet-Foren entsprechend zu
Wort. Was ihnen da schon zu Beginn der
Ukraine-Krise
auffällt und sie zum Anlass ihrer
Kritik machen, sind die zweckmäßig hinkonstruierten Halb-
und Unwahrheiten, mit denen man ihnen den Machtkampf in
Kiew als einen einzigen Horror vor Augen stellt, in dem
ein Regime von Verbrechern ein unschuldiges Volk bedroht,
und natürlich liegen sie vollkommen richtig, wenn sie da
Einseitigkeit und Voreingenommenheit der Berichterstatter
registrieren. Einigermaßen fassungslos stehen sie vor dem
Phänomen, dass diese Hetze in der deutschen
Öffentlichkeit flächendeckend präsent ist. Sie schreiten
zur Kritik – und die fällt nicht besonders gut aus. Mit
einem sachlichen Urteil – um das vorweg anzumerken – über
Grund und Zweck der russischen Politik, geschweige denn
über die Ziele des Westens, haben diese Stellungnahmen
allesamt wenig bis nichts zu tun. Gerade da, wo sie sich
um Sachlichkeit bemühen, die Historie von Chruschtschow
bis zurück zur Kiewer Rus bemühen, Machenschaften des
Westens benennen usw., befassen sie sich durchwegs mit
Rechtfertigungsfragen – über eine Gegenwehr
gegen die moralische Kriminalisierung „des Kreml“ kommen
die vielen Blogs und Leserbriefe selten hinaus. Die
beherrschen sie aber durchaus. Besonders gern empören
sich Kritiker darüber, dass da von den politischen
Meinungsbildnern mit zweierlei Maß gemessen
wird.
Sie nehmen zur Kenntnis, dass und wie die hehren Werte
von Völkerrecht, Freiheit und Demokratie als
Instrument verwendet werden, zur Heiligsprechung der
eigenen Seite wie dazu, Russland in allergrößtes Unrecht
zu setzen. Sie wollen schon erkannt haben, dass es die
Parteilichkeit für die eigene Seite ist, die
sich unter Berufung auf höhere Maßstäbe der
Moral ins Recht und die andere Seite ins Unrecht setzt –
und bestehen gleichwohl darauf, dass die Politik der
Staaten an diesen Maßstäben beurteilt
gehört – nur eben unvoreingenommen,
sachlich-nüchtern, wäre für sie zu ermitteln, wie in der
Staatenwelt Recht und Unrecht zu verteilen ist.
Doppelmoral
heißt deswegen ihr Vorwurf an die
Adresse der Öffentlichkeit, Heuchelei ist
das Argument ihrer Kritik, und um dieses
anzubringen, brauchen sie sich wirklich nicht näher darum
zu kümmern, was bei der politischen Streitfrage selbst
Sache ist. Konfrontiert mit der öffentlichen Propaganda,
die ihnen missfällt, subsumieren diese Kritiker sie unter
das ihnen vertraute Schema der Auseinandersetzungen auf
dem Schlachtfeld der Moral. Sie verlegen sich auf die
ihnen geläufige Übung, penetrantes Pochen auf die für
jedermann verbindlichen moralischen Werte als
Trick zu durchschauen, mit dem andere
bloß unanfechtbar machen wollen, worum es ihnen in
Wahrheit geht. Anstoß nehmen sie dabei schon am
Interesse, das der Betreffende hinter der Anrufung
höchster moralischer Titel versteckt, das – oder eben
das, was sie als sein Interesse vermuten – ist es schon,
was ihnen nicht schmeckt. Ihr Einwand bezieht sich aber
gar nicht auf dieses, sondern klagt die missbräuchliche
Verwendung der moralischen Maßstäbe und Werte an, die
jeder gute Mensch zu achten hat und deren Geltung und
unbedingtes Achtungsgebot dem Kritiker allergrößtes
Herzensanliegen ist. Für gewöhnlich pflegen sich die
moralischen Menschen freilich einzuteilen beim Gebrauch
und der Dosierung des Arguments ‚Heuchelei!‘, machen mit
dem Durchschauen der Lügen von Regierungssprechern und
anderen ihren privaten Frieden mit der Angelegenheit und
starten keine Leserbriefkampagnen. Das Argument selbst –
und auch nicht der Umstand, dass die Lügen in diesem Fall
besonders leicht zu durchschauen sind – erklärt deshalb
nicht, weshalb so viele es hier in Anschlag
bringen, und auch nicht, warum sie dies ausgerechnet
hier tun.
Die vielen Bürger, die sich weder im Mikrokosmos in Kiew
noch in der großen Perspektive der Weltpolitik die Lage
zwischen dem Westen und Russland als eine
Entscheidungsschlacht zwischen dem Guten und dem Bösen
einreden lassen wollen, gehen auf Distanz zu den
Instanzen der Öffentlichkeit, weil deren Propaganda mit
der gefestigten Haltung in Widerspruch gerät,
die sie sich beim Urteilen über die Politik ihrer Nation
im Besonderen und deren Positionierung in weltpolitischen
Affären überhaupt zu eigen gemacht haben. Diese Kritiker
melden sich als Bürger ihres Staates zu Wort, die darüber
besorgt sind, dass im Zusammenhang mit dieser
Gewaltaffäre der friedliche Weg, den die Nation
zu ihrem Erfolg als Maxime ihres weltpolitischen
Auftretens verfolgt hat, aufgekündigt werden könnte.
Bekannt ist ihnen zwar, dass Deutschland Mitglied einer
NATO ist, also auch als europäische Führungsmacht die
Wahrnehmung seiner außenpolitischen Rechte unter dem
Schutzschild eines militärischen Abschreckungspotentials
betreibt, für das die USA mit ihren überlegenen Waffen
sorgen. Aber offensichtlich haben sie sich so sehr daran
gewöhnt, dass – unbeschadet der unvermeidlichen, freilich
problematischen Kriegseinsätze, die die Mitgliedschaft in
diesem Werteverein der Freiheit manchmal kostet – die
deutsche Außenpolitik aus friedlichem Einvernehmen
mit Partnern
besteht, dass sie aus allen Wolken
fallen, wenn aus der einvernehmlichen Partnerschaft, die
Deutschland seit geraumer Zeit mit Russland pflegt, mit
einem Mal eine Feindschaft auf Kriegsebene werden soll.
Gerne verweisen sie auf die zwei Weltkriege mit ihren
verheerenden Konsequenzen für Deutschland, bringen die
jüngeren Kriege des Westens zur Sprache, die außer
Verheerungen auch nichts gebracht hätten, und geben so
ihrer Überzeugung Ausdruck, dass Deutschland mit einer
Politik ohne Krieg einfach besser fährt:
Unsinn
und ausgemachter Blödsinn
ist für
sie die Eskalation der Gegnerschaft, die nach dem Common
Sense der Öffentlichkeit im Verhältnis zu Russland
geboten ist. Ihr Urteil belegen sie mit Konsequenzen, die
der Übergang von der Partnerschaft zur Konfrontation nach
sich ziehen würde und die auf einen einzigen Schaden für
Deutschland hinauslaufen. Sie deuten auf das Erdgas, von
dem wir abhängen
und das Gazprom bislang noch
zuverlässig liefert, demnächst womöglich nicht mehr, und
führen zur Erhärtung ihres Standpunkts auch noch den
Jammer der Profiteure am deutschen Ostgeschäft als Beleg
an. Die sehen für den Fall einer ernsten Verschlechterung
der Beziehungen zu Russland die vielen zu deutscher
Zufriedenheit schon laufenden Geschäfte auf der Kippe
stehen und befürchten das Wegbrechen von
Investitionen
, mit denen deutsche Mittelständler wie
Großunternehmen auch in Zukunft gut an Russland verdienen
könnten. Im Vorwurf der Kriegshetze
an die Adresse
der Öffentlichkeit fasst sich das alles dann zusammen.
Von der sehen sich deutsche Bürger zu etwas
aufgestachelt, was nicht gut ist für die Nation, und sie
wissen auch, wer in letzter Instanz dafür nur
verantwortlich sein kann: Von Amerika
soll man da
in einen Krieg hineingezogen
werden.
Mit der Militanz gegen Russland wird nach mehrheitlich
vertretener Volksmeinung also nichts Geringeres als der
deutsche Erfolgsweg fahrlässig aufs Spiel gesetzt
.
Dieser Standpunkt findet seine beredten Repräsentanten
und Fürsprecher in Gestalt bewährter Politiker, die ihn
als Ethos der deutschen Außenpolitik
propagieren. Die heben hervor, wie gut Deutschland damit
gefahren ist, dass es grundsätzlich – und im Umgang mit
dem Osten schon gleich – auf Partnerschaft und
Verständigung gesetzt hat. Bahr, Eppler und etliche
andere unterstreichen ein ums andere Mal, dass
das die Prinzipien sind, die für die
erfolgreiche Karriere Deutschlands vom Kriegsverlierer
zur Weltwirtschaftsmacht verantwortlich sind. Sie lassen
es natürlich auch nicht an der ideologischen Überhöhung
dieses Ethos zum Dienst Deutschlands an so edlen Werten
wie dem Frieden in Europa
oder der Aussöhnung
zwischen den Völkern
fehlen, so dass beides, Ethos
wie Ideologie der deutschen Politik, im Meinungsbild der
Bürger sein Echo findet: Oft genug bestehen deren
kritische Stellungnahmen aus einem bunt
zusammengewürfelten Haufen all dessen, was sich zum Thema
„Frieden“ so alles assoziieren lässt.
Repräsentiert wird ihr vom Mainstream der Öffentlichkeit
abweichender politischer Standpunkt dann auch noch durch
die gewichtigen Voten zweier deutscher Kanzler i.R. Der
eine, Schmidt, hält Putins Annexion der Krim für
durchaus verständlich
und Sanktionen gegen
Russland für dummes Zeug
, legt dann noch nach und
wirft den öffentlichen Scharfmachern vor, einen
dritten Weltkrieg herbeizureden.
Und Schröder
bereichert den Reigen der Vergleiche des russischen
Präsidenten mit herausragenden Schreckgestalten der
politischen Weltgeschichte um eine ganz besondere
Variante. Er vergleicht Putin einfach mit sich selbst und
hält dafür, dass wie bei denen, die im zivilen Leben
Dreck am Stecken haben, auch unter politischen
Völkerrechtsbrechern der Grundsatz gilt, dass eine Krähe
der anderen kein Auge aushackt: Wenn er schon mit dem
Mitmachen Deutschlands bei der Abtrennung des Kosovo von
Serbien die geltenden Regeln für den Verkehr zwischen
Staaten gebrochen hat, dann sollen die Deutschen jetzt,
wo Putin mit der Krim dasselbe tut, besser die Schnauze
halten in Sachen moralischer Verurteilung. Dem stimmt
dann ausgerechnet noch A. Vollmer,
Ex-Bundestagsvizepräsidentin und oberste grüne
Moralwachtel a.D., vollen Herzens zu, während der
amtierende Grünen-Vorsitzende Özdemir davor warnt, auch
nur irgendeine Art von Äquidistanz zwischen den
demokratischen Bündnispartnern USA und Europa auf der
einen Seite und einem autoritären Regime im Osten auf der
anderen
in Erwägung ziehen zu wollen. Kein Zweifel:
Da geht ein tiefer Riss durchs politische Meinungsbild
der Deutschen.
III. Die Antwort der Öffentlichkeit: Feindbildpflege als Mission
Diesen Riss zu kitten, nehmen sich die für die
Meinungspflege im Land verantwortlichen Organe dann
entschlossen vor. Dass ihr Feindbild beim Publikum nicht
wie gewünscht ankommt, verstehen sie nicht. Stolz
berichten sie von ihren Erfolgen bei der Anti-Putin-Hetze
im Rahmen der olympischen Spiele in Sotschi, davon, wie
viele Deutsche noch vor drei Monaten Putins Auftreten
als bedrohlich
empfunden hätten – und jetzt, wo
der Mann sich ganz praktisch als eine einzige Bedrohung
erweist, können dieselben Deutschen nicht nachvollziehen,
dass man gegen die auch vorzugehen hat?! Also müssen die
Meinungsbildner nachlegen bei ihrer Überzeugungsarbeit,
und weil es diesmal um Ernsteres geht als bloß darum, den
obersten Russen als Angeber zu entlarven und sein Land
als Saustall, das daher auch bei Leistungen auf dem
Gebiet des Sports keinen Respekt verdient, mit der
gebotenen Eindringlichkeit.
Die Anti-Stimmung im Land auszuräumen, ist freilich kein leichtes Unterfangen. An der einen Front gilt es, die Einwände abzuarbeiten, die einem entgegengebracht werden, sie nach Möglichkeit zu entkräften und darüber für den eigenen Standpunkt zu werben. An der anderen ist die Haltung zu bekämpfen, auf die sich die Deutschen mehrheitlich versteifen und deretwegen sie sich so uneinsichtig zeigen – und angesichts von Leuten, die sich in ihrer Überzeugung derart verstockt und unbelehrbar geben, läuft die Widerlegung der Gesichtspunkte, an denen sie sich orientieren, ziemlich schnell darauf hinaus, diese mitsamt ihren Vertretern einfach schlechtzumachen: Wenn der Stimmung im Land mit allen vernünftigen Argumenten, die man pausenlos ausbreitet, nicht beizukommen ist, dann liegt auf Seiten der öffentlichen Stimmungsmacher der Verdacht schon nahe, dass da bei nicht wenigen im Volk einiges nicht stimmen kann im Kopf, dass sie grundverkehrt gepolt sind – und das muss man ihnen dann schon auch deutlich zu verstehen geben.
Diese Anti-Kritik von Kritikern der demokratischen
Öffentlichkeit bringt die entsprechenden Schönheiten
freiheitlicher Streitkultur hervor. Deren Richtlinien
setzen, wie schon bei der Schärfung der Feindschaft und
Vertiefung des Feindbilds, vorbildlich die sog.
Anchormänner und -frauen der Nachrichtensendungen in
Kraft. Die belassen es nicht dabei, in bewährter Manier
bei ihren Berichten aus der Krisenregion
zu
verschweigen, was ihnen nicht ins Konzept passt,
umgekehrt aus ihrem Repertoire von
Hintergrundinformationen
die ihnen willkommenen
herauszupräparieren und mittels ausgiebigen Gebrauchs der
Technik der Wiederholung so penetrant in den Vordergrund
zu rücken, bis dem Publikum endlich die Deutung klar
wird, für die die Fakten
zu sprechen haben. In
ihrem Instrumentenkoffer für die Widerlegung abweichender
Auffassungen und missliebiger Standpunkte liegen auch
alle Techniken der Verleumdung und üblen Nachrede bereit,
und von denen machen sie ausgiebig Gebrauch. Wer sich
entweder gar nicht oder nach ihrem Befinden zu wenig
ihrer Sicht und politischen Wertung der Lage anschließt,
hat sich um allen Respekt gebracht, auch um den, den
bürgerliche Menschen in den Formalien ihrer Höflichkeit
einander immerhin noch entgegenbringen. So hat sich im
öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur besten Sendezeit der
Vorsitzende der Siemens-AG dafür zu rechtfertigen, dass
er wegen seiner Geschäfte mit Russland in Moskau nicht
nur mit Putin spricht, sondern auch noch mit einem, den
die USA auf ihre Sanktionsliste gesetzt haben. Für den
Chefredakteur des ZDF steht fest, dass die Sanktionen des
Westens Russland unbedingt zu schädigen haben,
daher ist es für ihn ein einziger Skandal, wenn eine
Größe der deutschen Wirtschaft business as usual treibt,
und den Skandal inszeniert er dann im Studio: Als
Inkarnation der vaterländischen Pflicht, der zu gehorchen
jetzt doch wohl jedermann anstehe, baut er sich vor dem
Manager auf und und schiebt ihn wegen seiner
kleinkrämerischen Geldrechnungen ins moralische
Zwielicht.
Das Feindbild auf diejenigen zu erstrecken, die es nicht
teilen: Das ist die Technik, mit der man Leute
denunziert, deren Haltung einem nicht passt. In Morgen-
und anderen Magazinen z.B. kommen gediegene Professoren
als Ostexperten
zu Wort – und werden durch
pausenloses Dazwischenquatschen erst aus dem Konzept
gebracht, dann durch Abschalten endgültig mundtot
gemacht, wenn die professoralen Weisheiten für den
Geschmack der inquisitorischen Gesprächspartner von allzu
viel Verständnis
für Putin zeugen: Die Argumente,
die sie für ihre Sicht der Dinge vorbringen, firmieren
als Beleg der absolut verkehrten Gesinnung, von der sie
einfach nicht ablassen wollen. Als spezielle
Herausforderung in der Mission, in der sie unterwegs
sind, begreifen die Frontmänner und -frauen der deutschen
Öffentlichkeit den Kampf gegen alles, was als
Gegenmeinung in Zeitungen auch noch zu Wort kommt und von
Zeitgenossen vertreten wird, auf die man eventuell hört.
Die Moderatoren sämtlicher Talkshows vertreten wie ein
Mann und absolut einsinnig den Standpunkt, dass Putin der
Schuldige ist und gestoppt
werden muss. Ihre
geladenen Gäste, durchwegs respektable Größen aus der
deutschen und europäischen Politik und Wirtschaft, sind
mehrheitlich zumindest auch von bremsenden Bedenken
getragen – und finden sich in einem kleinen Schauprozess
wieder: Sie werden von den Leitern der Gesprächsrunden
tendenziell der Kumpanei mit Putin bezichtigt und mitsamt
ihren Argumenten in die Ecke russischer Gegenaufklärung
geschoben. Schulterschluss mit dem Westen!
– das
ist für die Chefintendanten der politischen Leitkultur im
Land das Gebot der Stunde, und das verabsolutieren sie
dermaßen, dass sie einfach alles vom Tisch wischen und
als Feindpropaganda denunzieren, was immerhin auch bei
offiziellen politischen Vertretern des
deutsch-europäischen Lagers an Bedenken gegenüber dieser
Linie zirkuliert.
Ihr Rigorismus duldet keine Bedenklichkeiten, auch solche
nicht, die aus purer Verantwortung für Deutschland laut
werden, und auch dann nicht, wenn wirklich nur der Antrag
ergeht, möglicherweise problematische Konsequenzen nicht
aus den Augen zu verlieren. Putinversteher
heißt
kurz und bündig die Zurückweisung, die über die
Verwerflichkeit der Gesinnung desjenigen schon alles
sagt, der sich entweder selbst als solcher outet oder in
den Ruch gerät, so einer zu sein: Wer Putin versteht,
macht sich gemein mit ihm! Insgeheim sympathisiert er, da
kennen sich Leitartikler seriöser Tageszeitungen aus, mit
dem Macho-Getue
des Russen. Er frisst zwar nicht
gleich kleine Kinder, hat aber ohne Zweifel viel übrig
für den Hass auf Schwule und Lesben, die sich in dem
Zusammenhang auch noch ihrer Aufwertung zum Inbegriff
freiheitlicher Zivilisiertheit erfreuen dürfen. Damit ist
vollends klar, wen man da in Wahrheit vor sich hat: einen
Vertreter des denkbar reaktionärsten Menschen- und
Gesellschaftsbildes. Um Altkanzler Schröder, der Putin
versteht und mit ihm befreundet ist, endgültig
zu diskreditieren, reicht in diesem geistigen Klima dann
auch schon ein bloßes Foto, auf dem er anlässlich einer
privaten Feier breit grinsend dem russischen
Gottseibeiuns um den Hals fällt. Wer bei dieser
Putin-Sause
mit dabei war, steht im Verdacht des
Landesverrats, auch wenn er kein Freund Putins ist. Es
reicht, dass er ein Russlandkenner
ist,
offensichtlich die nationale Sache versteht
, die
Putin kommandiert, obendrein auch noch in einem
Förderverein deutsch-russischer Beziehungen Verantwortung
trägt – und wenn er dann auch noch dem CDU-Präsidium
angehört, ist im freien demokratischen Diskurs der Bär
los. Glatt brüskiert
sieht sich die Partei durch
diesen Fehltritt
ihres außenpolitischen
Fraktionssprechers, zitiert ihn zum Rapport vor ein
parteiinternes Strafgericht – und mit gar nicht
klammheimlicher Sympathie spekuliert die ‚Süddeutsche
Zeitung‘ tags darauf schon über den bevorstehenden
Karriereknick eines politischen Shootingstars, der ihre
antirussische Hetzkampagne von Anfang an stört. Dieses
Blatt druckt übrigens, wie viele andere auch, über Wochen
alles ab, was die eigenen Leitartikel bei den eigenen
Lesern an Empörung regelmäßig hervorrufen. Die
Volksmeinung, die man korrigieren will, schweigt man
nicht tot, sondern lässt sie ausgiebig zu Wort kommen –
um die Stichworte einzusammeln, an denen entlang man in
den nächsten Ausgaben dann wieder über alles herziehen
kann, was einem an der Einstellung des offensichtlich
unbelehrbaren Packs missfällt. Und so weiter.
Wer will, kann sich diese Sternstunden journalistischer Informationsarbeit im Netz ansehen, in dem eine große Gemeinde von Freunden einer echt demokratischen Gegenöffentlichkeit alles dokumentiert, was sie für sich selbst entlarvende Entgleisungen der deutschen Öffentlichkeit hält. Damit liegen sie daneben. Denunziationen und alle anderen Methoden der Diskreditierung einer missliebigen politischen Haltung sind Konsequenz der Entschlossenheit, mit der deren Vertreter den Notwendigkeiten ihres Berufs nachkommen. Die Sache ihrer Nation, um die sie sich verantwortungsvoll kümmern, steigt ihnen in ernsten Zeiten derart zu Kopf, dass sie gar keinen Unterschied mehr kennen wollen zwischen der Politik und ihren Berechnungen, die ihnen durchaus vertraut sind, und den moralischen Grundsätzen, an denen entlang sie das politische Geschäft zu beurteilen pflegen: Sie verabsolutieren ihre Moral zu Grundsätzen, denen die Politik ab sofort zu gehorchen hat, und werden bedingungslose Fanatiker der Wertmaßstäbe, an denen sie Gut und Böse scheiden, in der Staatenwelt genauso wie bei den Inhabern einer freien Meinung daheim. Als Missionare des Guten verstehen sie sich und sind entsprechend unterwegs, betreiben Volksverdummung in höherem erzieherischem Auftrag und daher besten Gewissens und finden es vollkommen normal, im Rahmen ihres Überzeugungskampfes gegen abweichende Auffassungen und nicht zu billigende politische Standpunkte mit Methoden vorzugehen, über die sie als Vertreter des journalistischen Adels für gewöhnlich verachtungsvoll die Nase rümpfen, wenn sie bei BILD und anderen Revolverblättern auf sie stoßen.
*
Doch stehen sie in ihrem Kampf gegen russenfreundliche Umtriebe im eigenen Land nicht allein. In Österreich verfolgt man aufmerksam, vor welche Probleme deutsche Journalisten im Zuge ihrer Überzeugungsarbeit sich gestellt sehen, belässt es aber nicht dabei. In traditionsreicher Verbundenheit mit dem großen Nachbarn auch in seinen schweren Stunden steigt man mit ein in den deutschen Meinungsstreit und leistet Schützenhilfe für den Sieg der guten Sache.
IV. Kritisches Magazin kritisiert Kritiker des Westens, oder: Fakten können doch nicht über Recht und Unrecht entscheiden!
Folgendermaßen stimmt das Magazin „profil“ seine Leser in die Lage im Nachbarland ein:
„Russlands Militärintervention in der Ukraine und ihre breite Ablehnung durch westliche Regierungen und Medien haben zur Herausbildung einer überraschenden Phalanx geführt. Intellektuelle, Künstler, Politiker und unzählige Normalbürger aus allen möglichen Lagern wollen es nicht hinnehmen, dass Präsident Wladimir Putin zum ‚Brandstifter‘ (‘Der Spiegel‘), ‚Macho-Russen‘ (‘Bild‘) oder ‚gefährlichsten Mann der Welt‘ (profil) erklärt wird. Ebenso unangebracht finden es viele, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dem Kreml-Chef bescheinigt, ‚in einer anderen Welt zu leben‘, und Hillary Clinton die Annexion der Krim damit vergleicht, ‚was Hitler in den 1930er-Jahren getan hat‘.“ (profil 24.3.14, Zitate ebd.)
In dieser schweren Stunde eines kleinen
Meinungsaufstandes, eines Meinungs-Maidan sozusagen,
wendet sich „profil“ an das Leservolk, um die
Unbotmäßigen durch einen nüchternen Faktencheck
wieder einzufangen. Heraus kommt ein Lehrstück in Sachen
kritisch-parteilicher Meinungsbildung. (Im Original auf:
http://www.profil.at/articles/1412/982/373669/ukraine-ihr-putin)
Faktencheck 1: Wer hat ein Recht auf „Erweiterung“ seines Einflussbereichs?
„In Wahrheit hat der Westen den Ukraine-Konflikt heraufbeschworen
‚Es war zunächst der Westen, der keine Ruhe gab und unaufhaltsam Richtung Osten drängte – und weiter drängt.‘ Alice Schwarzer, feministische Autorin.“
Frau Schwarzer operiert mit einer populären Denkfigur. Sie fragt, wer angefangen hat, und nachdem diesbezüglich die Lage eindeutig ist, wäre damit aus ihrer Sicht auch die Schuldfrage geklärt. Das ist dem kritischen Magazin natürlich viel zu oberflächlich:
„So lautet der Generalvorwurf, und er bezieht sich auf drei Aspekte: im konkreten Fall auf das Assoziierungsabkommen, das die EU mit der Ukraine und drei anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ausgehandelt hatte, aber auch auf die NATO-Osterweiterung und die Unterstützung von Protestbewegungen in der Nachbarschaft von Russland. Und tatsächlich ist es auch so, dass der Kreml die Einbindung der Ukraine in die Europäische Union als ‚rote Linie‘ betrachtet.“ Das russische Projekt einer „Eurasischen Union“ „sollte ab 2015 acht Länder, darunter auch die Ukraine, zu einer Wirtschaftsgemeinschaft – mit starkem politischen Zusammenhalt – vereinigen. Und dabei erwies sich die EU als unerwarteter Störfaktor: Sie bot der Ukraine – noch unter der prorussischen Regierung Viktor Janukowitsch – sowie Moldau, Georgien und Armenien ein Assoziierungsabkommen an. Hätten alle unterzeichnet, hätte Russland auf vier Märkten mit insgesamt 62 Millionen Konsumenten empfindlich an Einfluss verloren. Die EU gab der Ukraine auch klar zu verstehen, eine Mitgliedschaft in der Eurasischen Union sei mit dem Assoziierungsabkommen nicht vereinbar – wenn man will, eine implizite Drohung. Ganz explizit war umgekehrt der wirtschaftliche Druck, mit dem Russland eine Europa-Anbindung der Ukraine zu verhindern versuchte. Also: Eine einseitige Provokation des Westens? Um das zu bejahen, muss man ausblenden, dass der Kreml und die EU gleichzeitig dasselbe versuchten. Und man muss der Ansicht sein, Russland habe ein exklusives Vorrecht auf Länder und Märkte wie Moldau, Georgien, Armenien und die Ukraine. Aber warum eigentlich?“
Was die Sache mit dem Drängen nach Osten
betrifft,
pflichtet „profil“ Frau Schwarzer und allen, die das
ähnlich sehen, bei: Ja, die EU drängt
nach Osten;
ja, das Assoziationsabkommen mit der EU soll die
dem Land von Europa immer vorgeworfene
Schaukelpolitik
durch einen Anschluss an die EU
beenden; selbstverständlich stört
der Vorstoß
massiv nicht nur die russischen Pläne, sondern auch die
bisher existierende russische Kooperation mit der
Ukraine; und dass Russland das nicht einfach hinnimmt,
ist schon auch irgendwie klar.
Irgendwie freilich nur, denn selbstverständlich bleibt
bei einer derart nüchternen Berichterstattung über die
Lage das Wichtigste an ihr unterbelichtet, nämlich alles,
was es zu einer ausgewogenen Antwort auf die aufgeworfene
Schuldfrage braucht. Also setzt „profil“ die nötigen
Akzente, und wartet dazu als erstes mit dem schlauen
Hinweis auf, dass zum Streiten immer noch zwei gehören:
Indem der Kreml und die EU gleichzeitig dasselbe
versuchten
, wollen sich beide die Ukraine
als ihren Einflussbereich zurechnen, so dass es letztlich
doch ganz unerheblich ist, wer damit als erstes
angefangen hat. Um angesichts dieses Patts in der
Schuldfrage die Waage der Gerechtigkeit nach der
richtigen Seite ausschlagen zu lassen, wird näher
differenziert: Ein russischer Druck
ist für das
Magazin ganz eindeutig als Erpressung zu erkennen, sogar
als explizite
- eine europäische Drohung
hingegen ist nur eine, wenn man will
, also mehr
oder weniger bloße Ansichtssache. Damit wäre der Vorwurf,
hier läge eine einseitige Provokation des Westens
vor, schon einmal zur Hälfte entkräftet. Den Rest
erledigt ein objektiver Blick auf die Fakten, die man
ausblenden
muss, um diesen Vorwurf überhaupt
erheben zu können. Fakt ist nämlich, dass das europäische
Recht auf Durchsetzung der eigenen Belange gegen Russland
fraglos in Ordnung geht – deswegen liegt es auf der Hand,
dass es sich beim gegenläufigen Interesse der anderen
Seite nur um den Anspruch auf ein gänzlich inakzeptables
exklusives Vorrecht
handeln kann. Fakt ist auch,
dass rote Linien
zur Markierung nicht
kompromissfähiger Angriffe auf eigene Interessen
selbstverständliches Recht der USA sind – im Falle
Russlands also pure Anmaßung und Beharren auf
einem Privileg, für das es im egalitären Westen
nun wirklich kein Recht gibt.
Faktencheck 2: Wessen „Ängste“ sind „berechtigt“?
„Es ist verständlich, dass sich Russland gegen den Expansionismus der NATO wehrt
‚Als historisch denkender Mensch hat Wladimir Putin auch gewisse Einkreisungsängste.‘ Gerhard Schröder, deutscher Bundeskanzler a. D.“
Im Namen eines historisch denkenden
Putin erinnert
Kanzler a. D. Schröder an gewisse russische Erfahrungen
und empfiehlt, beim Umgang mit Russland in Rechnung zu
stellen, dass die Expansion der NATO aus russischer Sicht
eine Bedrohung darstellt – was sollte ein in den letzten
Jahren am Balkan und im Mittleren Osten hochaktives
Militärbündnis denn auch sonst sein?! „profil“ ignoriert
die dezente Anspielung auf den letzten Weltkrieg und den
‚Kalten Krieg‘ danach gänzlich und aus Überzeugung.
Einkreisung
Russlands als Kontinuität im Westen?
Bloß weil Hitler die Sowjetunion überfallen, der Westen
anschließend die Eindämmung einer atomar gerüsteten
Sowjetunion betrieben hat und diese auch gegenüber dem
russischen Nachlassverwalter der untergegangenen
Sowjetmacht ungebrochen und raumgreifend durch die
NATO-Erweiterung fortsetzt? Nie und nimmer!
Das freilich, was der Kanzler ‚Expansionismus‘ nennt, ist ein Faktum, das man überhaupt nicht in Abrede stellt:
„In den vergangenen 15 Jahren gewann die NATO zwölf neue Mitglieder – allesamt einstige Mitglieder des Warschauer Pakts, dazu mit Slowenien und Kroatien zwei Staaten aus dem blockfreien Jugoslawien. … an der Südflanke Russlands in Zentralasien errichteten die USA im Zuge des Afghanistan-Krieges eine Militärbasis nach der anderen. In den neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten des Transatlantik-Bündnisses wurde mit der Errichtung eines Raketenabwehrsystems begonnen.“
Am Vormarsch der NATO gibt es nichts zu rütteln, und der geht für die kritischen Intellektuellen des Magazins auch dermaßen in Ordnung, dass sie an ihm bloß eine Frage aufwerfen: Warum sehen das die Russen nicht auch für so überaus selbstverständlich an, wie sie das tun?
„Russland müsse sich dadurch umzingelt und bedroht fühlen, sagen Kritiker des Westens. Dieses Gefühl mag auf russischer Seite existieren, aber wie berechtigt ist es? (…) Hat Russland gute Gründe, sich durch die Osterweiterung der NATO bedroht zu fühlen?“
Die Frage ist schon die komplette Antwort: Umzingelt
werden sie ja schon, die Russen, das lässt sich schlecht
in Abrede stellen. Auch dass sie sich selbst bedroht
fühlen
, ist ein Faktum, das man gelten lässt.
Entscheidend daran und viel wichtiger freilich ist die
Frage, ob ihr Gefühl berechtigt
ist, ob also die
Präsenz des größten Gewaltvereins der Welt unmittelbar an
den eigenen Grenzen überhaupt ein Grund
ist, sich
von dem bedroht zu fühlen
. Damit wäre der Übergang
von einem Kapitel imperialistischer Machtpolitik zur
bekanntlich sehr abgründigen russischen Seele als ihrem
Resonanzboden erfolgreich absolviert, so dass sich diese
russischen Befindlichkeiten zu einer einzigen Absurdität
erklären lassen: Man stellt sich entschlossen dumm,
abstrahiert von allem, was das Bedrohungspotential der
westlichen Militärallianz ist, vom politischen Zweck
dieser Allianz ebenso wie der gewaltsamen Natur ihrer
Mittel – und dann bleibt von der NATO einfach nur noch
eines übrig: ihre rechtfertigende Ideologie, allein zur
Verteidigung ihrer Mitglieder, deren Werte und des
Friedens auf der Welt überhaupt unterwegs zu sein. So
besehen hat die NATO überhaupt keinen Gegner
mehr, gegen den sie sich richtet, weil sie
einfach nur für alle da ist, die sich im Lager
der Freiheit versammeln – und damit hat auch Russland
absolut keinen Grund, irgendeinen guten Grund
schon gleich nicht, sich vom Verein der westlichen Werte
bedroht
zu fühlen. Für dieses Urteil hat das
Magazin einen Zeugen aufzubieten, der in dieser
Angelegenheit an Kompetenz und Glaubwürdigkeit nicht zu
übertreffen ist:
„In einem BBC-Interview im Jahr 2000 sagte Wladimir Putin, damals erstmals Präsidentschaftskandidat, auf die Frage einer möglichen NATO-Mitgliedschaft Russlands: ‚Ich sehe keinen Grund, warum ich das ausschließen soll. Aber ich wiederhole: erst wenn Russlands Standpunkte als die eines gleichberechtigten Partners in Betracht gezogen werden.‘ Angesichts der Ukraine-Krise ist ein solcher Schritt undenkbar, doch Putins Aussage von damals zeigt, dass die NATO auch aus Moskauer Perspektive nicht notwendigerweise als Feind angesehen werden muss“.
Die Genugtuung, so einen Spruch ausgegraben zu haben,
beruht allerdings schon auf seiner professionellen
Verfälschung: Die Autoren von „profil“ ignorieren die
entscheidende Bedingung Putins – Russland als
gleichberechtigter Partner
! – ungefähr genauso
kaltschnäuzig wie die EU im Umgang mit der Ukraine
Russland gerade praktisch ignoriert hat. Russland als
Mitglied der NATO – das schließt Putin nicht aus, weil
Russland dann in den exklusiven Zirkel der Mächte
aufgestiegen wäre, die zur Aufsicht über die
Gewaltfragen der Staatenwelt berechtigt sind, und
nicht mehr unter die Rubrik der Objekte
westlicher Aufsicht fallen würde, die sich die
Berechtigungen und die Grenzen ihrer Interessen von der
NATO vorbuchstabieren lassen müssen. Über Letzteres führt
Putin vernehmlich Beschwerde, ersteres war vom Westen nie
vorgesehen, und wenn man beides absichtsvoll verschweigt,
hat man natürlich eine Moskauer Perspektive
herauspräpariert, in der die westliche Militärallianz
auch nichts weiter ist als ein Verein wie ZSKA, in dem
man Mitglied werden kann oder auch nicht.
Steht so fest, dass die NATO von den Russen keinesfalls
notwendigerweise als Feind angesehen werden muss
,
offenbart auch die Osterweiterung dieses Vereins sogleich
ihren tieferen rechtfertigenden Sinn. Diesmal stehen die
neuen Mitglieder im Zeugenstand:
„Haben Staaten des ehemals sowjetischen Einflussbereichs gute Gründe, zu ihrer Sicherheit unter die Fittiche der NATO zu schlüpfen?“
Und da ist die Faktenlage derart eindeutig, dass auch
diese Frage sich von allein beantwortet: Die
russischen Interventionen in Georgien und jetzt auf der
Krim sprechen jedenfalls dafür
. Vollkommen
unverständlich also, dass Russland sich vom Westen
bedroht fühlt, aber wer sich von Russland bedroht fühlt,
hat dazu die allerbesten Gründe: Die Abwehr einer
Offensive der georgischen Armee und die aktuellen
russischen Gegenmaßnahmen gegen einen weiteren Schritt
der eigenen Einkreisung durch den Westen sind der
allerbeste Grund für Polen und Balten, sich schon immer
von Russland bedroht und eingekreist gefühlt zu haben!
Faktencheck 3: Wessen „Einmischung in die Ukraine“ ist berechtigt?
„Der Westen verfolgt durch die Unterstützung von Protestbewegungen eine subversive Agenda, um Russland zu schwächen
‚Was hat man im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt von Russland erwartet, als man … die ukrainische Opposition ermunterte, gegen den – immerhin gewählten – Despoten Janukowitsch aufzustehen?‘ Jakob Augstein, Kolumnist.“
Der Journalist aus Deutschland verfügt keineswegs über
Geheimwissen. Aktivitäten westlicher Geheimdienste, vom
Westen finanzierte NGOs und ähnliche Engagements sind
Fakten, die es in deutschen Zeitungen zwar nicht zu
Schlagzeilen bringen, aber doch unter den Miszellen der
hinteren Seiten Erwähnung finden. Sie sind auch den
Leuten von „profil“ bekannt, und zwar so gut, dass sie
auch bei der Durchforstung russischer Medien
auf
sie gestoßen sind. Daraus lässt sich etwas machen:
„In russischen Medien wird bitter beklagt, dass der Westen die Ukraine seit Langem manipuliere. Der US-Geheimdienst CIA sei in Kiew ebenso aktiv wie von Washington bezahlte NGOs sowie Agenten der Europäischen Union. Ukrainischen Bürgern werde vorgegaukelt, es gehe um ‚Demokratie‘ und ‚Freiheit‘, tatsächlich aber wollten die USA und Europa die Ukraine unter ihre Kontrolle bringen, warnt John Robles, in den USA geborener Autor der staatlichen russischen Radiostation Voice of Russia und einziger US-Bürger, der in Russland als politischer Flüchtling anerkannt ist.“
Wenn sich etwas schlecht leugnen lässt, versucht man es gar nicht erst. Man sät da besser Zweifel in die Berechtigung des Vorwurfs, indem man auf die zwielichtige Natur der Quelle deutet, aus der er kommt: Russland! Da muss dem Leser augenblicklich klar sein, dass es sich um parteiliche Feindpropaganda handelt – von den Erzeugnissen der ihm vertrauten heimischen Presse kennt er ja auch nichts anderes als Propaganda gegen den Feind! Und dann noch ein J. Robles, Angestellter des staatlichen Rundfunks in Russland, an dessen pur anti-westlicher Gesinnung keine Zweifel bestehen können: Wer vom westlichen Lager ins russische überläuft und dort willkommene Aufnahme findet, hat schon alles darüber verraten, was für einer er ist, und wenn er dann etwas sagt, spricht aus ihm nur Hetze gegen den Westen.
Ist das erledigt und der Vorwurf subversiver Machenschaft unter der Rubrik ‚Propaganda der Gegenseite‘ einsortiert, bekennt man sich selbst zu allem, was einem so vorgeworfen wird:
„Hat der Westen tatsächlich gezündelt, den Aufstand gegen die Regierung Janukowitsch angeheizt und die ukrainische Öffentlichkeit auf subversive Weise manipuliert? Richtig ist, dass sich höchste Repräsentanten westlicher Staaten – etwa Deutschlands damaliger Außenminister Guido Westerwelle – an der Seite der Maidan-Demonstranten zeigten; dass sie sich mit der protestierenden Opposition solidarisierten; dass sie die neue Regierung unter Arseni Jazenjuk nicht nur sofort anerkannten, sondern auch von Beginn an unterstützten. Und wenn man das Promoten von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und liberalen Minderheitengesetzen als umstürzlerische Propaganda ansieht, dann haben sich wohl einige staatliche und nicht-staatliche Institutionen schuldig gemacht. … Der Westen – und besonders die Europäische Union – hat im Konflikt zwischen Ex-Präsident Viktor Janukowitsch und der Opposition Partei ergriffen, verbal und atmosphärisch. Aber hat man sich auf widerrechtliche Weise in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt, wie etwa Russland dies auf der Krim mit dem Einsatz von Soldaten in Uniformen ohne Abzeichen getan hat? Nein.“
Umstürzlerische Propaganda
– ja natürlich, wenn
man denn schon so harte Worte gebrauchen will.
Selbstverständlich hat man sich eingemischt in die
inneren Angelegenheiten der Ukraine
und dort einen
Bürgerkrieg heraufbeschworen – aber doch nicht auf
widerrechtliche Weise
! So etwas ist ganz
grundsätzlich ausgeschlossen beim Promoten
von
Demokratie und Rechtsstaat, weil man beim Dienst an den
höchsten Rechten, die die Menschheit kennt, natürlich
alles Recht auf seiner Seite hat!
Das Unrecht der russischen Einmischung auf der Krim hingegen ist allein schon an Bewaffneten zu erkennen, die gar keine russischen Abzeichen tragen.
Faktencheck 4: Sind Rechtsradikale regierungsberechtigt?
„Die Protestbewegung in der Ukraine war doch von Rechtsextremisten unterwandert – und die sind jetzt an der Regierung
‚Wir wissen auch, dass jetzt eine Partei an der Regierung beteiligt ist, die mit antisemitischen Äußerungen, aber auch Attacken gegen Synagogen aufgefallen ist.‘ Heinz-Christian Strache, FPÖ-Chef“
Ein österreichischer Rechtsradikaler und nicht eben bekennender Sympathisant des Judentums hat Bedenken dagegen, dass in der Ukraine Gesinnungsfreunde an der Macht sind – ja wo gibt’s denn so was, denkt der Leser und soll er auch denken: Die – wenigstens für drei Viertel der Österreicher – etwas fragwürdige Reputation des Mannes ist schon die halbe Entkräftung des Vorwurfs, den er an die Adresse der EU und ihrer ukrainischen Schützlinge loswerden will. Die andere Hälfte erledigt eine ausgewogene Würdigung der Sachlage:
„Nach den ukrainischen Wahlen 2012 hatte sich das EU-Parlament in einer Stellungnahme wegen der ‚zunehmenden nationalistischen Stimmung, die zum Ausdruck kommt in der Unterstützung für die Partei Swoboda (‚Freiheit‘)‘, besorgt gezeigt. (…) Jetzt stellt dieselbe Swoboda-Partei in der mit Akzeptanz der EU gebildeten Übergangsregierung den dritten Vize-Premier, den Verteidigungs-, den Umwelt- und den Landwirtschaftsminister – also vier von insgesamt 20 Ressortchefs sowie den Generalstaatsanwalt. Der ‚Prawy Sektor‘ ist zwar nicht per se im Kabinett vertreten, hat allerdings mit dem neuen Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, einem ehemaligen Swoboda-Mann und Maidan-‘Kommandanten‘, einen engen Vertrauten dort. Und das von den Außenministern Frank-Walter Steinmeier (Deutschland), Laurent Fabius (Frankreich) und Radoslaw Sikorski (Polen) ausgehandelte Abkommen zur Beilegung der Krise, das unter anderem die Entwaffnung aller nicht-staatlichen Milizen vorsah, wurde letztlich nie umgesetzt. So unappetitlich das alles sein mag: Dass, wie Russland und Links-Politiker vor allem aus Deutschland insinuieren, in der Ukraine ‚die Faschisten‘ an der Macht sind, lässt sich daraus nicht ableiten.“
Das Blatt greift zum Stilmittel der Übertreibung, um sein
eigenes Konstrukt als übertrieben zurückweisen zu können.
In der Ukraine sind demnach nicht die
Faschisten
an der Macht, sondern nur einige. Und die sind nicht
einmal an der Macht, sondern stellen bloß ein Fünftel der
Regierung und den Generalstaatsanwalt. Beides beweist,
dass von einer Unterwanderung der freiheitlichen
Protestbewegung durch Rechtsradikale keine Rede sein
kann. Dass solche mit in der Regierung sitzen: Ja, das
ist schon unappetitlich
. Aber erstens dient es der
guten Sache und zweitens ist es längst nicht so
unerträglich wie alles andere, was die Propaganda von
Russen und Linken aus diesem kleinen Schönheitsfleck der
demokratischen Erneuerung ableiten
will.
Faktencheck 5: Wer übt mit Recht Gewalt?
„Der Westen hat angesichts der Kriege im Irak, in Afghanistan und im Kosovo kein Recht, Putin an den Pranger zu stellen
‚Glaubt ihr, Frau Merkel hätte sich nur eine Sekunde aus dem Fenster gelehnt, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika sich das Recht herausgenommen hätten, in welchem Land auch immer das Militär zum Schutz amerikanischer Bürger einzusetzen? Genauso lautet die Rechtfertigung Putins für seinen Aufmarsch.‘ Konstantin Wecker, Sänger“
Die kritischen Journalisten von „profil“ werden mit dem Vorwurf der westlichen Doppelmoral konfrontiert: Dasselbe Recht auf Gewalt, das der Westen sich herausnimmt, wann und wo immer er will, dürfe er Russland keinesfalls absprechen. Um diesen Vorwurf zu entkräften, holen sie ganz tief aus und erklären ihren Lesern, wie es so ganz überhaupt um die Rechtfertigung der westlichen Gewalteinsätze bestellt ist:
„Als die NATO im Jahr 1999 Jugoslawiens Hauptstadt Belgrad bombardierte, tat sie das weder aus Selbstverteidigung noch mit der Deckung eines Mandats des UN-Sicherheitsrates – Russland hatte ein Veto eingelegt. Bis heute vertreten Kritiker der ‚Operation Allied Force‘ die Meinung, es habe sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gehandelt. Die Gegenmeinung lautet, der NATO-Einsatz habe eine ‚humanitäre Intervention‘ dargestellt, die in Anlehnung an ein Nothilferecht nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar dringend geboten gewesen sei.“
Im Fall Jugoslawien ist man also bis heute geteilter Meinung, ob die Bomben auf Belgrad und die Abtrennung des Kosovo von Serbien in Ordnung gingen. Auch „profil“ lässt den Streit zwischen Meinung und Gegenmeinung offen, ergreift weder Partei für die eine Seite noch für die andere – um aus der Konzession, dass die Rechtfertigung von Kriegen im Namen des Menschenrechts manchmal schon etwas problematisch ist, den gebotenen Schluss auf Russland zu ziehen. Für Gewaltaktionen dieser Nation gibt es absolut keine Rechtfertigung, gerade dann nicht, wenn Putin sich bei seiner Annexion der Krim auf das westliche Vorbild Kosovo beruft:
„Die Provinz wurde schließlich Jugoslawien mittels Gewalt entzogen, und im Jahr 2008 proklamierte das kosovarische Parlament die Unabhängigkeit des Territoriums als ‚Republik Kosovo‘. Eine Blaupause für die Krim? Nein. Dem Eingreifen der NATO waren im Kosovo Massaker auf beiden Seiten – der Serben und der Kosovo-Albaner – vorangegangen, der UN-Sicherheitsrat hatte die serbische Seite wegen des ‚exzessiven Einsatzes von Gewalt‘ verurteilt und die kosovarische Führung aufgefordert, ‚terroristische Handlungen zu verurteilen‘. Die NATO konnte zu Recht darauf hinweisen, sie interveniere, um weitere Tötungen und Vertreibungen zu verhindern. Weiters wurde die Provinz Kosovo nach Kriegsende unter die Verwaltungshoheit der Vereinten Nationen gestellt – auch das ein völlig anderes Vorgehen als jenes von Russland auf der Krim. Und schließlich wurde die Unabhängigkeit des Kosovo nicht überfallsartig wenige Tage nach dem Einmarsch fremder Truppen durchgepeitscht, sondern nach langen Verhandlungen und begleitet von einer Verfassung, die starke Minderheitenrechte enthält. Was Irak und Afghanistan betrifft, lassen sich schwerlich konkrete Parallelen zur Krim ziehen: Beide Kriege richteten sich gegen tatsächlich despotische Regimes, auch wenn sich die Gründe im Fall von Saddam Hussein nachträglich als erlogen herausstellten. Beide wurden zudem in der Öffentlichkeit heftig kritisiert. Und man kann unabhängig von ihrer Bewertung zum Schluss kommen, dass die Intervention auf der Krim völkerrechtswidrig ist.“
Schön, welche Unterschiede es sind, die den Westen mit
seiner Gewalt ins Recht und die Russen ins Unrecht
setzen. Nach den vielen schon gelaufenen Massakern
im jugoslawischen Bürgerkrieg, den man dort be- und
gefördert hat, galt es im Kosovo ein weiteres zu
verhindern – und auf der Krim hat nicht einmal ein
einziges stattgefunden! Dann ist der Westen im Kosovo gar
nicht einmarschiert, hat sich auch ganz viel Zeit
gelassen bei der endgültigen Eingliederung der Provinz in
seinen Machtbereich – und den Russen kann es gar nicht
schnell genug gehen mit der Verteidigung ihres
strategischen Vorfelds! Und dann noch Irak und
Afghanistan: Das war westliche Militärgewalt gegen
despotische Regimes
– und gab es auf der Krim auch
nur einen klitzekleinen Despoten? Gut, der Westen hat
seine Kriege mit lauter Lügen begründet – aber er ist
dafür in der Öffentlichkeit
– und zwar in seiner
eigenen! – heftig kritisiert worden
! Damit steht
fest: An deren Überparteilichkeit auch nur
irgendwie zu zweifeln, verbietet sich – also verbieten
sich auch alle Zweifel an der Richtigkeit der
Schlussfolgerungen, zu denen diese unbestechliche Instanz
der Kritik im vorliegenden Fall gelangt. Die Tatsache,
dass man bei westlichen Gewalteinsätzen
geteilter Meinung sein kann, belegt,
dass man bei Russland geschlossen einer Meinung
sein muss. Denn wer sich so viel Skrupel macht
bei der Prüfung des Rechts des Westens, kann einfach nur
im Recht sein, wenn er bei Putin absolut keine Skrupel
kennt und das Recht auf Gewalt, das der sich herausnimmt,
für ein einziges Unrecht befindet!
Faktencheck 6: Ist das Referendum rechtens?
„Die Krim hat das gute Recht, sich für eine Angliederung an Russland zu entscheiden
‚Wer das geplante Krim-Referendum kritisiert, muss auch die neue Regierung in Kiew kritisieren, die auf illegale Weise zustande gekommen ist.‘ Sarah Wagenknecht, Linkspartei“
Wieder der Vorwurf des zweierlei Maßes, das bei der Verurteilung Russlands in Anschlag gebracht wird, und da behelfen sich die Autoren von „profil“ mit einer kleinen Akzentverschiebung. Wagenknecht will den Blick der Kritiker des Krim-Referendums auf die Illegitimität der Regierung in Kiew richten – und sie kaprizieren sich auf Fragen, die die Legitimität des Referendums betreffen:
„Was spricht eigentlich dagegen, dass sich die Krim von der Ukraine abspaltet? Immerhin gehörte die Halbinsel bis vor 60 Jahren zu Russland. Das spiegelt die Bevölkerungsstruktur bis heute wider. Mehr als 60 Prozent der Krim-Bewohner sind russischstämmig, und über ihre Sympathien herrscht kein Zweifel – über ihre wirtschaftlichen Interessen ebenso wenig: Die Schwarzmeerflotte nutzt Sewastopol seit über 200 Jahren als Heimathafen, ist damit auch einer der wichtigsten zivilen Arbeitgeber und hat die Stadt im Vergleich zum Rest des Landes durchaus wohlhabend gemacht. Rechtlich galt die Halbinsel bislang als autonome Republik innerhalb der Ukraine. … Es besteht also wenig Zweifel: Das Referendum, bei dem nach offiziellen Angaben mehr als 90 Prozent der abgegebenen Stimmen auf eine Eingliederung der Krim in die Russische Föderation entfielen, war nicht manipuliert.“
Nach dem kleinen Zugeständnis, dass an der Authentizität
des geäußerten Volkswillens trotz aller Zweifel nicht zu
zweifeln ist, macht man sich daran, über den Nachweis der
illegitimen Mittel beim Einholen des Votums dem
Vorwurf Wagenknechts den Wind aus den Segeln zu nehmen:
nur zwei Wochen Vorlaufzeit statt zwei Jahre Wahlkampf,
wie sich das bei uns gehört. Keine Debatte über
nicht-russische Minderheiten, während hierzulande
Ausländern höchster Respekt im politischen Diskurs
gezollt wird – das und anderes mehr führen zu dem Fazit:
Ein Unabhängigkeitsreferendum unter derartigen
Bedingungen wäre in Europa undenkbar – erst recht nicht,
wenn es von schwer bewaffneten Soldaten jenes Landes
überwacht wird, das sich ein Territorium einverleiben
will, und die einheimischen Truppen währenddessen in
ihren Kasernen als Geiseln gehalten werden.
So manövriert man einen Einwand, zu dessen Entkräftung
einem nichts Rechtes einfällt, ins Abseits. Auf das
heikle Feld, den pro-westlichen Marionetten, die sich in
Kiew an die Macht geputscht haben, den Persilschein
demokratischer Legitimität auszustellen, begibt man sich
klugerweise gar nicht erst. Beim Referendum auf der
Krim hingegen steht man auf festem Boden, das
widerspricht allen demokratischen Formalien, die ihm
unter dem strengen Blick der „profil“-Redakteure
allenfalls Legitimität hätten attestieren können.
So illegal wie das Referendum ist die Regierung
in Kiew jedenfalls nicht zustande gekommen, also
muss
man die auch gar nicht so kritisieren – und
schon gar nicht aus der Großzügigkeit, mit der der Westen
über die faktische Rechtsgrundlage der Kiewer
Herrschaften hinwegsieht, einen Anspruch auf
Zurückhaltung beim Vorwurf der Illegitimität gegen das
Volksbegehren der Krim-Bewohner ableiten, wie Frau
Wagenknecht das verlangt.
Jenseits aller „Fakten“: Gleiches Unrecht für alle? Niemals!
Das erste Fazit, für das nach ihrer nüchternen
Betrachtung durch die Redaktion von „profil“ die Fakten
sprechen, ist das Gebot zu Nüchternheit und Sachlichkeit,
dem man selbst so vorbildlich gehorcht hat: Man
braucht Wladimir Putin nicht zu verteufeln. Man braucht
auch die Politik des Westens mit ihren eigenen
Völkerrechtsverstößen und durch Humanitätsrhetorik
behübschten Eigeninteressen nicht schönzureden. Aber ein
Unrecht macht ein anderes eben nicht gut.
Ganz ohne
Verteufelung Putins, ganz ohne blinde Parteilichkeit für
den Westen: Gerade die Zweifel an dessen moralischem
Recht belegen, wie unbedingt Russland im Unrecht ist. Mit
den Vorkommnissen in der Ukraine und auf der Krim hat das
eher nichts zu tun. In letzter Instanz nämlich verbürgen
diese kritisch-parteilichen Vertreter der westlichen
Sache selbst die Richtigkeit ihrer Urteile, und zwar
allein durch die Tatsache, dass man ihnen bei ihrer
Parteilichkeit keine Vorschriften macht. Im Gegenteil,
sie dürfen kritisch auf Distanz gehen selbst zu
den Kriegen, die im Namen von Freiheit, Demokratie und
Menschenrecht geführt werden, und diese Lizenz fällt für
sie mit der Selbstverpflichtung auf unbedingte
Parteinahme für den Lizenzgeber zusammen:
„Und es gibt immer noch einige große Unterschiede zu Putins Russland: Die Regierungen der europäischen Staaten und auch die USA müssen sich für ihr Handeln vor einer Öffentlichkeit rechtfertigen, die nicht massiven Behinderungen der Meinungs- und Pressefreiheit unterworfen ist – westliche Medien waren die schärfsten Kritiker des Irakkriegs.“
Von der unbestechlichen Instanz, vor der sie sich
rechtfertigen müssen, bekommen die Regierungen des
Westens im Gegenzug das Geschenk ihrer
Rechtfertigung, nicht pauschal, nicht immer gleich in
jedem Fall, aber doch ganz prinzipiell, was ihre
Gegnerschaft zu Russland betrifft. Staaten, die Kritik an
sich zulassen, sind, nach drei „wenn“ und vier
„aber“, letztlich immer im Recht – im Unterschied zu
anderen Staaten, die allein schon deswegen im Unrecht
sind, weil ihre Öffentlichkeit kein „wenn“ und kein
„aber“ kennt. So mündet der Faktencheck
in eine
Hymne auf die Demokratie, weil deren Regierungen die
bedingungslose Wertschätzung seitens ihrer
Öffentlichkeiten nicht geschenkt bekommen, sondern sie
sich immer hart erarbeiten müssen:
„Die westlichen Regierungen müssen den Konsens mit der Bevölkerung suchen, immer im Bewusstsein, bei der nächsten Wahl andernfalls abgelöst zu werden. Sie haben ein manchmal peinigend kompliziertes Regelwerk an rechtsstaatlichen Normen entwickelt und müssen sich permanent daran messen lassen. Und sie fühlen sich durchaus glaubwürdig einer Vielzahl von Werten verpflichtet, die in Russland keine Rolle spielen – etwa dem Schutz von Minderheiten. Das heißt: Alles zusammen genommen sollte es nicht schwerfallen, im Ukraine-Konflikt zu beurteilen, welche Seite im Unrecht ist und von wo die Gefahr ausgeht.“
Die Frage nach Recht und Unrecht
in außen-und
weltpolitischen Affären entscheidet sich für „profil“
definitiv nicht an dem, was Staaten auf der weiten Welt
so treiben, mit welchen gewaltträchtigen Anläufen sie
ihre Interessen auswärts durchsetzen, welche
Fakten
sie dabei anerkennen, schaffen oder
zerstören; sie entscheidet sich daran, was das
für Staaten sind, die bei Bedarf über Leichen
gehen. Nur Zustände wie bei UNS – ein Kriterium, dem
allein WIR gerecht werden – lassen Nationen mit
Recht imperialistisch fuhrwerken. Ein demokratisches
Regime, das sich regelmäßig wählen lässt und dadurch sein
Volk immer wieder hinter sich bringt, dessen Machthaber
sich von rechtsstaatlichen Normen
solange
peinigen
lassen, bis sie diese modifizieren, und
das sogar Werte hat: So eine gute Herrschaft ist
immer im Recht, in allem, was sie auswärts anrichtet, und
so einem hinreißenden Regime lassen die Weltenrichter von
„profil“ alles durchgehen, was sie einem
autokratischen
Präsidenten ohne unsere Werte nie
und nimmer erlauben.
*
Das zu begreifen, meint das österreichische Magazin,
sollte nicht schwer fallen
, und es spricht damit
den deutschen Vertretern der Zunft so was von aus dem
Herzen. Die können es einfach nicht fassen, dass sie mit
allen ihren guten Argumenten so wenig ankommen, und der
Frage, wieso denn Leuten so schwer fällt, was doch so
einfach zu haben ist, widmen sie sich dann eigens auch
noch.
V. Die Zeit erklärt: „Wie Putin spaltet“
In der Ausgabe Nr. 16/2014 des Blattes gibt sich der
Autor, B. Ulrich, bestürzt
:
„Wenn die Umfragen nicht täuschen, dann stehen zurzeit zwei Drittel der Bürger, Wähler und Leser gegen vier Fünftel der politischen Klasse, also gegen die Regierung, gegen die überwältigende Mehrheit des Parlaments und gegen die meisten Zeitungen und Sender. (…) Viele Leser erwarten von uns Ausgewogenheit, was auch in diesem Fall völlig normal wäre, wenn denn lediglich über die Vernünftigkeit von Sanktionen oder die Fehler der EU gestritten würde – da wäre ja alles demokratisch und menschenrechtlich so rum und so rum im grünen Bereich. Tatsächlich jedoch wird die Legitimität des Völkerrechts offensiv infrage gestellt, die von Putins nationalistisch imperialer Ideologie aber ernstlich erwogen.“
In die Niederungen des laufenden politischen Diskurses,
des Rechtens darüber, welche Haltung gegenüber Russland
man einzunehmen hat, und des Kampfes gegen die, die sich
auf keinen Fall gehört, begibt der Mann sich gar nicht
erst. Über Fehler beim Programm der europäischen
Osterweiterung oder dessen Umsetzung kann man nach seiner
Auffassung durchaus konträrer Meinung sein, auch über die
Zweckmäßigkeit von Sanktionen ließe sich für ihn noch
streiten. Doch in der Hauptfrage, auf die es ankommt, ist
für ihn der Fall so klar wie nur irgendetwas und gibt es
einfach nichts zu streiten: Unbedingte Parteilichkeit für
den Westen und gegen Russland ist ein Gebot des
Völkerrechts, das versteht sich ganz von selbst und
bedarf keiner weiteren Begründung; wer sich ihr nicht
anschließt, das steht damit auch von selbst fest,
untergräbt dessen Legitimität und Geltungsanspruch und
hält, was auch nur folgerichtig ist, statt dessen eine
Ideologie für legitim, die nach allen völkerrechtlichen
Geboten nur zu ächten ist. Wo das so sonnenklar ist,
hätte also ein einziger Aufschrei durch Deutschland zu
gehen – und der bleibt aus, obwohl sich alle
Verantwortungsträger der Öffentlichkeit größte Mühe
geben, ihn loszutreten. Das bestürzt ihn, aber:
Bestürzung hilft nichts, nur Verstehen hilft
, und
darum kümmert er sich dann. Wieso diese doch so
selbstverständliche Reaktion ausbleibt und die
gebotene affirmative Parteilichkeit vom Volk nicht
akzeptiert wird: Das ist die Frage, die er sich
vorlegt und über deren Beantwortung er sich und seinen
skeptischen Lesern verständlich zu machen sucht, wofür er
absolut kein Verständnis hat. Die verstockten Deutschen
will er verstehen können, sich in ihre Motivlage
einfühlen und eventuell vorliegende mildernde Umstände
ihres Verhaltens aufspüren. Das ist seine Tour der
Verurteilung einer Haltung, die sich nicht gehört.
Als erstes hält er Rückschau auf die Kriege des Westens und darauf, wie die jeweils offiziell begründet wurden, und da kann er die Deutschen schon verstehen, wenn sie in den hohen Fragen von Moral und Völkerrecht in diesem Fall so leidenschaftslos sind:
„Man muss sich noch einmal vor Augen führen, mit welchem Pathos George W. Bush oder Tony Blair seinerzeit vor die Weltöffentlichkeit getreten sind und wie sie am Ende alle enttäuscht und getäuscht haben, um jetzt die Milde zu verstehen, mit der viele über Putin urteilen. So inflationär haben damals viele westliche Politiker das Wort Freiheit benutzt, um Kriege zu begründen, dass heute die meisten schon Krieg hören, wenn das Wort Freiheit außerhalb von Sonntagsreden fällt. Wenn die einen von Demokratie sprechen, sehen die anderen schon die F-16-Bomber aufsteigen.“
Fast möchte man ihn beglückwünschen zu seiner Entdeckung,
wozu die feinen Werte im Verkehr zwischen Staaten gut
sind und warum sie in dem so gerne Verwendung finden: Sie
taugen zur Ächtung und Delegitimierung einer gegnerischen
Macht, und damit zugleich zur Legitimierung der eigenen
Gewalt, mit der man gegen die vorgeht. Aber er will ja
auf eine ganz andere Lesart der praktischen Wahrheit
hinaus, die er seinen Lesern zur Kenntnis bringt:
Missbräuchlich wären vom Westen – und da
natürlich vor allem: von dessen amerikanischer
Führungsmacht und ihren selbstherrlichen Anmaßungen –
diese Werte verwendet worden. Dies obendrein auch noch so
inflationär
, dass sie gerade jetzt, wo die Ächtung
Putins für jeden aufrechten Freund der Freiheit zur
selbstverständlichen Pflicht wird, den guten Dienst nicht
mehr tun, für den sie vorgesehen sind und den er von
ihnen verlangt. Das Markenzeichen, das die westliche
Gewalt heilig spricht, ist durch überreichlichen Gebrauch
verwässert worden, nicht zu Unrecht sind die Menschen
also moralisch ziemlich frustriert, und so nimmt das
Verhängnis seinen Lauf: Putin spaltet
die
Deutschen – auch das kriegt dieser Verbrecher
noch hin. Nach dem Verständnis des Autors sind den
Deutschen zwar schon dank des weltpolitischen Wütens
Amerikas mit Freiheit & Demokratie die moralischen
Koordinaten abhanden gekommen, an denen entlang sich die
Staaten verlässlich wie der Reflex beim Pawlowschen Hund
in solche scheiden lassen, denen bei der Anwendung ihrer
Gewalt allerhöchstes Recht gebührt, und in andere, für
die das grundsätzlich nicht gilt und denen daher jeder
Respekt, gar irgendeine Art von Verständnis für ihre
Taten zu verweigern ist. Doch bemerkbar wird dieser
Verlust eben erst jetzt, im Zuge der Machenschaften
Putins, so dass in Wahrheit er es ist, der die
Deutschen dissoziiert: In solche, die wegen Bush
demokratisch verroht
sind und jetzt damit
auffällig werden, und in die anderen, die in ihrer
Parteilichkeit für die Demokratie einfach immun sind
gegen noch so viele Kriege und Lügen.
Doch nicht nur der Westen macht es den Deutschen schwer, ihren Zeitungs- und Fernsehredakteuren zu folgen, die den Glauben ans Gute nicht verloren haben. Manchmal machen schon auch die Vertreter der Medien selbst es ihren Lesern schwer. Sie geben ihr Bestes, Putin als skandalösen Verbrecher an allem vorzustellen, was jedem guten demokratischen Menschen hoch und heilig zu sein hat. Sie machen einen richtigen Hype – so nennt der Autor selbst die Technik, aus so gut wie jedem Anlass einen öffentlichen Aufreger zu verfertigen – aus dem, was sie in einem Kapitel imperialistischer Weltpolitik für vollkommen untragbar halten, in seltener Geschlossenheit, ohne jeden Führerbefehl und aus allen Rohren, über die die Organe der pluralistischen Meinungsbildung verfügen, und dann so etwas:
„Wenn die übergroße Mehrheit der Medien wie im Falle der Ukraine in eine ähnliche Richtung argumentiert, so ist es (...) alles andere als leicht, selbst für gutwillige Leserinnen und Leser, zu unterscheiden, ob es sich hier a) mal wieder um einen Hype handelt oder b) um eine unausgesprochene Volkserziehungsmaßnahme oder aber c) um einen Fall von tief sitzenden demokratischen und menschenrechtlichen Überzeugungen. Denn das gibt es natürlich auch, dass wir Journalisten uns (…) auf unsere innersten Werte beziehen und einfach deswegen unisono gegen einen Meinungsfreiheit und Völkerrecht missachtenden Autokraten anschreiben, weil das der tiefste Sinn unseres Arbeitens ist.“
Selbstkritisch klopft er sich auf die eigene Brust und
exkulpiert seine Leser, die in der geistigen Umnachtung,
die sie aktuell an den Tag legen, doch nur das Produkt
ihrer journalistischen Erzieher sind. Denn von denen
haben sie ja gelernt, politische Fragen höchsten Ranges
wie den allerletzten Mist aus dem Privatleben eines
Prominenten als einen Hype zu nehmen und den genau so
lange für wichtig und interessant zu finden, wie es ihnen
die Laune oder die Konzentration auf den nächste Hype
derselben Machart gebietet. Wie sollen sie da noch das
Gewicht der Botschaft erkennen können, die ihnen von der
journalistischen Elite jetzt mit ihrem Anti-Putin-Hype
ans Herz gelegt wird?! Infotainment-gestählt, wie sie
sind: Schon verständlich, dass sie dann, wenn sie von
allen Zeitungen dasselbe gesagt bekommen, angeödet sind,
weder den Ernst der Lage erfassen noch auf das hören, was
der gebietet, und sich stattdessen von einer
Volkserziehungsmaßnahme
bevormundet wähnen, einer
unausgesprochenen
obendrein, wo doch nun wirklich
alle Journalisten überdeutlich aussprechen, in welche
Richtung sie das Volk umerziehen wollen. Aber da gibt es
ja noch ein Drittes, was die verehrten Leser und
Leserinnen, insbesondere die gutwilligen
unter
ihnen, vielleicht auch einmal in Erwägung ziehen könnten.
Wenn ihnen wg. Bush schon die moralische Orientierung und
im Zuge ihrer Zeitungslektüre dann auch noch die
Scheidung zwischen wichtig und unwichtig abhanden
gekommen ist, könnten sie nach Auffassung des Autors es
ja mit der Alternative c) versuchen – und sich endgültig
davon beeindrucken lassen, dass es sich bei ihm und
seinesgleichen um echte Überzeugungstäter
handelt. Die drücken nur aus, was tief in ihnen steckt,
hetzen im Namen von Völkerrecht und Meinungsfreiheit
gegen Putin, weil das ihre eigenen, auch noch
innersten
Werte sind. Dies rührt, wie man weiter
hört, bei den Mitgliedern dieser wertvollen Spezies gar
nicht bloß aus dem Umstand, dass es sich um ihre
festen Überzeugungen handelt, die sie dazu anhalten, für
sie zu missionieren und das Volk zu mobilisieren: Diese
Überzeugungen sind Conditio sine qua non des
Berufes, den sie ausüben. Sie machen den
tiefsten Sinn
des demokratischen Journalismus aus,
so dass man von einem, der sein Innerstes nach außen
kehrt, erfährt, dass bei Journalisten
Meinungsfreiheit
und die bedingungslose
Parteilichkeit für den Staat, der sie ihnen gewährt,
untrennbar zusammengehören. Die eigene
Dankbarkeit für die Lizenz, gegen Putin und sein
Russland hetzen zu dürfen, als Argument: Das ist
so ziemlich der originellste Grund dafür, mit dem
Feindbild, das man propagiert, Zustimmung zu finden.