Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Deutsche Leitkultur auf dem Prüfstand
Müssen wir die Burka aushalten?

Seit August macht die Burka auch den Deutschen schwer zu schaffen. Unter dem Eindruck der ersten islamistisch motivierten Attentate in Deutschland formulieren die CDU/CSU-Innenminister ihre Berliner Erklärung, in der sie zuallererst einen eindrucksvollen Aufrüstungsbedarf für ihren Polizeiapparat anmelden. Mehr staatliche Gewalt, diese Schlussfolgerung aus der Tatsache, dass Deutschland jetzt auch tätige islamistische innere Feinde hat, geht im politischen Alltag routiniert und unwidersprochen durch. Engagierte Aufregung gibt es über den Passus in der Erklärung, in dem sich die Innenminister über Burka und Niqab auslassen: Vollverschleierungen … leisten Parallelgesellschaften Vorschub. Diese sind oft ein Nährboden für Hass, Gewalt, Kriminalität und Terrorismus. Umstandslos zählen sie die vollverschleierten Damen zu den Gefährdern des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die damit unsere ganze Kultur der Freiheit und Gleichheit, namentlich der Rede, der Meinung und der von Mann und Frau, in Gefahr bringen.

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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Deutsche Leitkultur auf dem Prüfstand
Müssen wir die Burka aushalten?

Seit August macht die Burka auch den Deutschen schwer zu schaffen. Unter dem Eindruck der ersten islamistisch motivierten Attentate in Deutschland formulieren die CDU/CSU-Innenminister ihre Berliner Erklärung, in der sie zuallererst einen eindrucksvollen Aufrüstungsbedarf für ihren Polizeiapparat anmelden. Mehr staatliche Gewalt, diese „Schlussfolgerung“ aus der Tatsache, dass Deutschland jetzt auch tätige islamistische innere Feinde hat, geht im politischen Alltag routiniert und unwidersprochen durch. Engagierte Aufregung gibt es über den Passus in der Erklärung, in dem sich die Innenminister über Burka und Niqab auslassen: Vollverschleierungen … leisten Parallelgesellschaften Vorschub. Diese sind oft ein Nährboden für Hass, Gewalt, Kriminalität und Terrorismus. Umstandslos zählen sie die vollverschleierten Damen zu den Gefährdern des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die damit unsere ganze Kultur der Freiheit und Gleichheit, namentlich der Rede, der Meinung und der von Mann und Frau, in Gefahr bringen. Die Innenminister plädieren auf ein Verbot im öffentlichen Raum. Das lässt niemanden kalt, der in der deutschen Leitkultur etwas zu sagen hat. Für ein paar Tage im August sind die deutschen Feuilletons Schauplatz einer hochmoralischen „Wertedebatte“: „Burka verbieten – ja oder nein?“. Mustergültig wird an dieser Frage die dialektische Erörterung abgearbeitet, ob „wir“ hier in Deutschland es wirklich aushalten müssen oder können, dass mitten unter uns an die 1000 vollverschleierte Frauen einfach so auf Deutschlands Bürgersteigen spazieren oder einkaufen gehen dürfen.

Die einen lassen Folgendes verlauten: „Es gehört zu unserer Lebenswahrnehmung, dass wir offen miteinander umgehen. Dies ist bei einer Vollverschleierung, die den freien Blick bewusst verhindert, nicht gegeben.“ (blog.zeit.de, 19.8.16) „Erkennbar zu sein, Gesicht zu zeigen – das ist … eine Grundbedingung für die offene Kommunikation in der offenen Gesellschaft. Die Burka ist die buchstäblich verstofflichte Dialogverweigerung.“ (berliner-zeitung.de, 15.8.)

So ist das also: Wir leben in einer Gesellschaft, die von Offenheitgeprägt ist, in der wir alle unablässig der Wahrheit ins Gesicht schauen wollen (Spiegel Online, 23.8.). Es mag sein, dass mancher Beamte auf dem Finanzamt, Wohnungssuchende auf dem Mietmarkt oder investigativ tätige Journalist die Welt, wie sie ihm vertraut ist, darin nicht so ganz wiedererkennt, aber das ist völlig unerheblich. Zur Untermauerung des Verbotsantrags wird die deutsche Umwelt erstens zum guten Gegenbild der schlechten Sitten erklärt, für die die Burka steht. Womit zweitens die Burka als Inbegriff der Negation all unserer edlen Werte identifiziert ist: Sie ist kein Ausdruck von Religiosität. Der Vollschleier ist ein Herrschaftsinstrument, um Frauen zu unterdrücken und ihnen Gesicht und Freiheit zu nehmen … und die Würde, weil sie durch sie letztlich nicht mehr als Mensch erkennbar sind. (Ebd.) Womit dann drittens klar wäre, wie die Kultur von Offenheit, Freiheit und Gleichheit zu verstehen ist: Freiheit verpflichtet zur Integration bis zur Unkenntlichkeit, weil Integration nämlich zur Freiheit verpflichtet. Also zur Anpassung an Kleiderordnung und Gebräuche, deren tiefen abendländischen Sinngehalt Deutschlands Freiheitskämpfer erst, dann aber gründlich merken, wenn Rechte und Rechtsradikale mit Fremdenfeindlichkeit, Marke Anti-Islam, Stimmung machen und Stimmen mobilisieren.

Unwidersprochen bleibt das nicht in einer freiheitlichen Debattenkultur. Denn auch die Gegenseite, die ein Verbot der Burka ablehnt, versteht sich aufs Argumentieren mit höchsten Werten. So folgt unweigerlich das Bedenken, dass wir freiheitliche Werte nicht verteidigen, indem wir denjenigen, die sie angreifen, immer ähnlicher werden. (Khola Maryam Hübsch, hart aber fair, 12.9.) Ein Konter von moralisch einwandfreier Güte, stellt er doch die Verfechter eines Verbots in die Ecke derjenigen, die mit dem Verbot getroffen werden sollen, und zwar im Namen unseres hohen westlichen Ideals der Toleranz. Man kann nicht alles verbieten, was einem nicht passt, sagt der Bundesinnenminister – will sagen: Wenn schon Freiheit die Parole ist, unter der wir unangepasste Fremdlinge ausgrenzen, dann müssen wir es auch aushalten, wenn ein paar Ausgegrenzte erkennbar unangepasst bei uns herumlaufen. Das verlangt die Tugend der Toleranz, die die Überlegenheit unserer Gesellschaft gegenüber den Feinden der Freiheit beweist.

So steht Freiheit gegen Freiheit – was für ein tiefsinniges Dilemma!

Es wird sich – wie jedes andere auch – nur lösen lassen durch ein abschließendes Machtwort der Herrschaft, die die praktisch gültige Auslegung der Freiheit von uns allen bestimmt – und das geht voll in Ordnung: Denn wer sonst als die Instanz, die Freiheit gewährt, könnte bestimmen, was deren Inhalt ist.