Clinton in China
Die etablierte und eine aufstrebende Weltmacht sondieren eine „strategische Partnerschaft“

China hat es geschafft, mit seiner „Öffnung“ gegenüber dem siegreichen Kapitalismus nicht zum gigantischsten „emerging market“ aller Zeiten, sondern selber zu einer veritablen kapitalistischen Wirtschaftsmacht zu werden. Mit den „guten Beziehungen“, die Clinton mit seinem Besuch im Reich der Mitte pflegen will, will die USA auf dem Weg weiter kommen, amerikanisches Kapital an Chinas Nationalökonomie mit verdienen zu lassen, und damit auf die mittlerweile auch ernst zu nehmende weltpolitische Betätigung der Großmacht China auf dem asiatischen Kontinent immer mehr Einfluss zu gewinnen. Die „guten Beziehungen“ hängen also davon ab, wie die Interessen der Weltmacht Nr. 1 in dieser neuen „strategischen Partnerschaft“ mit China vor zu kommen haben, und wie man das im Reich der Mitte aufnimmt: Atomwaffen, strategische Interessen, Taiwan, wirtschaftliche Beziehungen, Finanzkrise in Asien und Menschenrechte.

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Clinton in China
Die etablierte und eine aufstrebende Weltmacht sondieren eine „strategische Partnerschaft“

Der amerikanische Präsident bricht zu einer neuntägigen Reise nach China auf. Sein Besuch im Reich der Mitte gilt als äußerst schwierig, in seiner eigenen Nation ist er gar umstritten, hierzulande ist man sehr gespannt darauf, wie er die heikle Frage der Menschenrechte anpacken wird. Am Ende der Reise erfährt man, daß sie ein großer Erfolg für Clinton, aber auch ein Achtungserfolg für China war und zwischen beiden Seiten durchaus gute Beziehungen herrschen. Mag ja sein. Da man aber nicht erfährt, worin der Sache nach der Erfolg eigentlich besteht, dessen beide Seiten sich rühmen; da der politische Stoff und Inhalt der Beziehungen gleichfalls nicht vorkommt, wenn sie mit ihrem Güteprädikat versehen werden; deswegen im Folgenden ein paar sachdienliche Hinweise zur besseren Einordnung einer nicht ganz unwichtigen Etappe imperialistischer Weltpolitik.

Grund und Zweck der Reise

China ist groß: ein beträchtlicher Fleck auf der Weltkarte, mit viermal mehr Einwohnern als die Weltmacht Nr. 1. Und China ist eine Macht, die – anders als die Staaten des sowjetischen Blocks – den Zusammenbruch des kommunistischen Systems nicht nur politisch unbeschädigt überlebt hat. Sie hat es bislang geschafft, ihre Öffnung gegenüber dem siegreichen Kapitalismus nicht zu einem Ruin ihrer materiellen Grundlagen geraten zu lassen, den neu definierten nationalen Reichtum vielmehr sogar zu mehren. Aus der ehemaligen geschlossenen Kommandowirtschaft ist eine kapitalistische Wirtschaftsmacht geworden, die an Waren viel im- und noch mehr exportiert, die für das nach profitabler Anlage suchende Kapital der Welt offensteht, und die – anders als die sogenannten „Transformations-“ und „Entwicklungsländer“ sonst – bislang einigermaßen erfolgreich dafür Sorge trägt, daß die „Integration in den Weltmarkt“ nicht zur bedingungslosen Auslieferung an die Interessen derer ausartet, die den Weltmarkt als ihr Betätigungsfeld geschaffen haben. China hat nämlich nicht bloß „Ressourcen“ zu bieten, sondern auch eigene Interessen, die sich auch gar nicht auf das eigene Land und dessen zahllose Insassen beschränken. Und es besitzt weitreichende Mittel: Mit seinen Atomwaffen verfügt es über eine strategische, mit seinem Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat über eine diplomatische Bedeutung, an der keine Macht vorbeikommt – schon gar nicht die USA, die auf der ganzen Welt soviel zu bewegen und unter Kontrolle zu halten haben. China ist, mit einem Wort, eine Großmacht.

Und außerdem ist es eine Volksrepublik; mit einer Staatspartei, die sich – aus Gründen, die jedenfalls mehr mit Traditionspflege und Ahnenkult als mit Marx und der revolutionären Arbeiterbewegung zu tun haben – kommunistisch nennt. Mit dieser irreführenden Selbstbezichtigung bietet die herrschende Partei einen ideologischen Titel, unter dem Macher und Parteigänger westlich-demokratischer Weltpolitik sich und der Welt ihre Unzufriedenheit mit der chinesischen Großmacht erklären können. Unzufrieden sind sie nämlich, bei aller „Öffnung“ und „Transformation“, mit dem bisherigen Zwischenergebnis, daß da ein Land, das eigentlich das Zeug zum gigantischsten „emerging market“ der neueren Weltmarktgeschichte hätte, so stur und sogar relativ erfolgreich seine eigene kapitalistische Akkumulation betreibt und auch keinerlei Anstalten macht, seine politische Macht in Kleinteile von handlicher Größe zu zerlegen. Marktwirtschaftlich und demokratisch ist das tatsächlich nicht, weil im Programm der maßgeblichen marktwirtschaftlichen Demokratien so überhaupt nicht vorgesehen – und wenn sie es schon selber sagen, dann wird bei den Chinesen wohl einer der letzten Fälle von kommunistischer Diktatur vorliegen.

Eine wichtige Fraktion US-amerikanischer Weltpolitiker zieht aus diesem Ärgernis den keineswegs bloß ideologischen Schluß, mit China habe sich eine neue Feindmacht an die Stelle der untergegangenen Sowjetunion gesetzt; diese sei daher mit denselben politischen Mitteln zu bekämpfen, die sich nach ihrer Auffassung beim Sieg über das sowjetische „Reich des Bösen“ so gut bewährt hätten: weltpolitische Isolierung sowie militärische, wirtschaftliche und ideologische Kriegführung. Demgegenüber besteht die offizielle Politik der USA mit China darauf, sich nicht von einer nostalgischen Idee wie der eines bedingungslosen Antikommunismus leiten zu lassen. Es gelte vielmehr, ganz den Geboten zu folgen, die von einer realistischen Sicht Chinas diktiert werden. Einer, der sich diesbezüglich auskennt:

„Die Vereinigten Staaten und China sind zwei Großmächte, die danach streben, potentielle Differenzen auszuräumen und den Bereich der gemeinsamen Absichten zu stärken. Der Prüfstein für den Besuch ist die Fähigkeit, die Interessen beider Mächte zu harmonisieren und den Meinungsverschiedenheiten ihren Stachel zu nehmen.“ (H. Kissinger, in WamS, 28.6.98).

Jenseits aller diplomatisch-ideologischen Sprachregelungen – von wegen „potentielle Differenzen“ und „Harmonie“ – ist das Programm doch klar: Man will dieses Land nicht als Macht bekämpfen, weil man in der Art und den Methoden seiner Selbstbehauptung und Weiterentwicklung schon seit längerem genügend Gelegenheiten und Handhaben entdeckt und genutzt hat, um frühere „Differenzen“ zu überwinden; man setzt darauf, auf diesem Weg weiterzukommen, also an Chinas Nationalökonomie zu verdienen, genauer: Kapital aus den Staaten am chinesischen Wachstum mitverdienen zu lassen, und auf die Betätigung der politischen Macht immer mehr Einfluß zu gewinnen. Das verlangen jedenfalls, immer noch lt. Kissinger, unsere nationalen Interessen: gute Beziehungen zu diesem neu verfaßten Mitglied des Weltmarkts und der Weltpolitik.

Deren Pflege ist der politische Zweck der weiten Reise, die Clinton unternimmt. Es geht darum zu demonstrieren, also vor allem gegenüber China, aber auch fürs eigene Land klarzustellen, wie sehr die US-Regierung hinter den angesponnenen Beziehungen steht – wobei natürlich auch eine Verdeutlichung mit abfällt, welche Beziehungen die Weltmacht wichtig findet, wie sehr und inwiefern. Natürlich zielt die Unternehmung auch auf ein chinesisches Echo, das die amerikanischen Anliegen bestätigt, so daß auch für die USA feststeht, wie kräftig die Führungsfiguren der „Volksrepublik“ an der Weiterentwicklung der von der Weltmacht gewünschten Beziehungen interessiert ist. Solche wechselseitigen Klarstellungen und Bestätigungen sind in der bizarren Welt der Diplomatie notwendig, weil sie all dem, was substanziell zwischen den beteiligten Nationen läuft und nicht läuft, in durchaus praktischer Absicht die explizite Willensbekundung von höchster Stelle hinzufügen, wie das alles gemeint ist und weitergehen soll.

Die politische Agenda

des Treffens umfaßt dementsprechend viel. Ganz oben steht darauf der Stachel selbst, der politische Meinungsverschiedenheiten zwischen Großmächten heutzutage zu einer immer so prekären Angelegenheit macht:

1. Die Atomwaffen

Von diesen Geräten besitzen bekanntlich beide Mächte einige. Die Weltmacht USA sogar in einem Ausmaß, daß sie nach dem Urteil aller Sachverständigen in militärischer Hinsicht ihren exklusiven Status mit Sicherheit bis weit ins nächste Jahrhundert hinein konservieren wird. Doch ist China eben auch eine Atommacht und verfügt zwar nicht im entferntesten über eine „glaubwürdige Gegenabschreckung“ wie einst die Sowjetunion, die damit den Amerikanern das unselige „atomare Patt“ sowie eine Diplomatie der fortwährenden „Rüstungskontrolle“ aufnötigten; immerhin besitzt die Nation aber die entscheidenden Mittel, um sich inmitten der mit überlegener Waffengewalt abgesicherten amerikanisch definierten Weltordnung eine gwisse Unangreifbarkeit zu sichern. Der politische Kontrolle dieser Mittel gilt das Bestreben der Weltmacht schon seit längerem: Sie sucht eine Vergewisserung über die Bereitschaft der kleineren Atommacht, ihr Arsenal nicht in einer Weise politisch, geschweige denn militärisch zu gebrauchen, die in Widerspruch stünde zu den amerikanischen Vorstellungen über die angemessenen strategischen Kräfteverhältnisse sowie über einen verantwortlichen Umgang mit diesem militärisch wie weltpolitisch so brisanten Gerät. Mit Chinas Zustimmung zum Atomwaffensperrvertrag ist da bereits ein Fortschritt erzielt worden. Das Land hat sich damit nämlich in aller Form auf das Interesse der Weltordnungsmacht verpflichtet, militärische Gewalt in Form von Nuklearwaffen – über die sie bedauerlicherweise nicht mehr als Monopolist gebietet – einer generellen Überwachung und weltweiten Kontrolle zu unterwerfen, damit solche Vernichtungsmittel nicht in falsche Hände geraten. Welche das sind, entscheidet die Weltmacht selbst danach, wo eine Störung amerikanischer Interessen droht. Diesem imperialistischen Kontrollbedürfnis, verallgemeinert zu einem supranationalen „Regime“, hat auch China seinen Respekt nicht verweigert, und das ist für die Weltmacht ein Erfolg, auf dem sich zum Zweck einer weiteren politischen Zivilisierung der Atommacht China aufbauen läßt.

Umgekehrt versucht auch China schon seit längerem, die überlegene Abschreckungsdrohung, die von den Nuklearwaffen der Weltmacht ausgeht, für sich ein wenig berechenbar machen. Bislang erfolglos allerdings, so daß man den Besuch Clintons erneut als Gelegenheit wahrnimmt, in dieser Sache voranzukommen: Im erneuten Vorschlag eines beiderseitigen Verzichts auf die „Option“ eines atomaren Erstschlags trägt die chinesische Regierung vor, wie sie selbst sich einen „zivilisierten“ Umgang der Atommacht USA mit ihren strategischen Waffen oder jedenfalls einen ersten Schritt dahin vorstellt.

Die Weltmacht lehnt den Antrag auf freiwillige Selbstbeschneidung ihrer Handlungsfreiheit in Sachen atomarer Abschreckung selbstverständlich ab. Den Nutzen ihrer „Erstschlags-Option“ sieht sie zu Recht darin, daß nur so ihr abschreckendes Arsenal seine politische Wirkung zu entfalten vermag: Unberechenbarkeit ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit der in jeder Hinsicht totalen Drohung, auf die die USA ihr wirkliches Kontrollregime über die Kräfteverhältnisse auf der Welt gründen. Damit, daß China seinerseits dann selbstverständlich auch nicht auf die „Option“ des atomaren Erstschlags verzichtet, kann die Weltmacht leben: Anders als seinerzeit die sowjetische ist diese Gegendrohung einstweilen ziemlich fiktiv.

Ein Einvernehmen bezüglich des Gebrauchs der Waffen, die man hat, läßt sich zwischen beiden Seiten dann aber doch noch erzielen. Die Weltmacht weist das Ansinnen Chinas, die wechselseitige Bedrohung, die vom atomaren Potential beider Mächte ausgeht, gewissermaßen einzuklammern und so die absichtsgemäß höchst einseitige Abschreckungswirkung zu relativieren, nicht einfach so zurück. Sie macht vielmehr das interessante Angebot, ersatzweise auf einem anderen Gebiet beiderseitigen Verzicht zu üben: Man könne doch die Raketen, mit denen man sich unmittelbar bedroht, fortan auch woandershin fliegen lassen und eine entsprechende Umprogrammierung der Zielkoordinaten in die Wege leiten. Quasi als Kompensation für die Klarstellung, daß sie sich natürlich nie und nimmer mit China strategisch auf eine Stufe stellen, bieten die USA den Schein einer gewissen Gleichrangigkeit an – und China ist einverstanden. So schaffen es die zwei recht ungleichgewichtigen Atommächte, einander von gleich zu gleich und auch noch einvernehmlich zu begegnen: Sie kommen überein, sich wechselseitig nicht mehr als unmittelbare Bedrohung zu betrachten. Das sind und bleiben sie zwar, verfolgen auch nach wie vor ihre diesbezüglichen atomaren Strategien; aber sie entlasten ihre Beziehungen durch die wechselseitige Versicherung, daß kein akut feindlicher Wille dahintersteht: Streitfragen, die eine Erpressung mit den „letzten“ Waffen nötig machen könnten, sehen sie aktuell nicht. Das dokumentieren sie mit einem Symbol beiderseitigen Vertrauens: dem Entschluß zur Umprogrammierung ihrer Raketen.

2. Die strategischen Interessen

Zum Status einer Großmacht hat es die chinesische Nation nicht zuletzt darüber gebracht, daß sie erfolgreich Außenpolitik betrieben hat. Sie hat es mit dem Einsatz ihrer Mittel verstanden, andere Staaten in ihrem Umkreis politisch, militärisch und wirtschaftlich an sich zu binden. Auch wenn sie nicht über soviele eigene Partner und befreundete Staaten verfügt wie ihr großer Konkurrent, so reicht ihr politischer Einfluß im gesamten asiatischen Kontinent doch so weit, daß die Selbstwahrnehmung Chinas als neue asiatische Vormacht (NZZ) keinesfalls bloße Angeberei ist.

Das ist der Weltmacht selbstverständlich nicht egal. Ihre Kontroll- und Aufsichtsbefugnisse erstrecken sich schließlich auch auf den asiatischen Kontinent. Also verlangt sie von der Macht, die dabei ist, das dort herrschende Kräfteverhältnis gründlich zu verschieben, eine offizielle Festlegung, in welchem Sinne und wie weit sie dabei gehen will, und hat ihrerseits in dieser Hinsicht Forderungen anzumelden. Um Spannungen zu vermeiden, wie sie sich bei der Konkurrenz um strategische Einflußzonen allemal ergeben, bestehen die USA auf Respekt Chinas vor ihrer Richtlinienkompetenz und den geltenden Richtlinien:

„Die Beziehungen zwischen Amerika und China sind nicht zuletzt deshalb besonderen Spannungen ausgesetzt, weil sich die derzeit einzige Supermacht einem Land gegenübersieht, das möglicherweise über das Potential verfügt, selbst eine Führungsrolle zu übernehmen. Diese drohende Umverteilung des internationalen … Kräfteverhältnisses bestimmt in hohem Masse die Handlungen der beteiligten Regierungen, die bestrebt sind, die zukünftigen Rahmenbedingungen zum eigenen Vorteil zu gestalten.“ (NZZ 23.7.98)

Auch wenn der Kommentator aus Zürich in der Stilisierung der chinesischen Macht und dessen, was von dieser alles auszugehen droht, vorwiegend seine parteilich-sorgenvolle Betrachtung des etablierten Kräfteverhältnisses zum Ausdruck bringt – in der Sache liegt er keineswegs daneben. Was die Chinesen mit ihrer Macht demnächst anstellen wollen; in welchen Staaten sie ihre Freunde, in welchen ihre Feinde sitzen sehen; was sie im jeweiligen Fall zur Pflege der Beziehungen praktisch in Erwägung ziehen oder schon vorhaben; wie sie mit Nationen kalkulieren, mit denen die Vereinigten Staaten freundschaftlichen Verkehr pflegen, wie mit denen, die zu den ausgemachten Feinden der Weltmacht gehören: Das alles ist der politische Stoff, um den sich der Meinungsaustausch über die zukünftigen Rahmenbedingungen der Weltpolitik beider Seiten dreht. So entdecken beide Mächte ihre potentiellen Differenzen, aber auch Absichten, die sie gemeinsam haben; und vor allem hinsichtlich letzterer kommt die Weltmacht ihrem Konkurrenten schon wieder mit einem interessanten Angebot. Sie stellt ihre Definition der Problemgebiete Asiens (Clinton) vor, bringt also die Fälle zur Sprache, die ihrem Weltordnungsinteresse zuwiderlaufen und die sie daher für sich als sicherheitspolitische Herausforderung (Clinton) identifiziert hat. Pakistan, das dank chinesischer Hilfe nunmehr auch Atomwaffen besitzt, die Atommacht Indien, der Iran als Vormacht in der Ölregion am Golf – das sind die vom Präsidenten der Weltmacht genannten Kandidaten, auf die sich Aufsicht und Kontrolle vordringlich zu erstrecken haben. Und bei der praktischen Wahrnehmung dieser Pflicht will Amerika keineswegs allein bleiben. Im Gegenteil, China soll in diesen Fällen Mitverantwortung tragen, also für die sachgemäße Erledigung von Fragen der Weltaufsicht mitzuständig sein. Und es gibt Erfolg zu vermelden:

„Wir verfolgen jetzt eine gemeinsame Strategie, Indien und Pakistan von weiteren Tests abzuhalten und zu einem Dialog über die Beilegung ihrer Differenzen zu veranlassen.“ (Clinton)

Man macht also den Chinesen ihr eigenes strategisches Interesse in Asien nicht streitig, sondern bindet es in die eigene politische Strategie ein, lädt die Chinesen dazu ein, bei der Definition ihrer Strategie an dem Maß zu nehmen, was man selbst an strategischem Interesse verfolgt. Atommächte und solche, die es werden wollen oder könnten, begründen für Amerika generell Aufsichts- und Ordnungsprobleme und stellen Anwendungsfälle des Gebots der Non-Proliferation dar; Mächte unterhalb dieser Schwelle, die sich fragwürdiger Absichten schuldig machen, werden mit Embargo-Maßnahmen auf den rechten Weg gebracht resp. bestraft, bei denen das Prinzip des dual-use von Gütern wie Mikrochips, Düngemitteln, Zentrifugen und Dollars zur Anwendung gebracht wird – dabei muß China mitmachen, soll das Kontrollregime flächendeckend wirksam werden. Es soll sich also erstens der ordnungspolitischen Sicht Washingtons anschließen, um dann zweitens als strategischer Partner der Weltmacht die nötige politische Ordnung vollstrecken zu helfen. Die Anerkennung, die Amerika der strategischen Rolle Chinas zollt, fällt also mit deren Einordnung in das weltumgreifende Aufsichtsregime zusammen, dessen Subjekt die USA sind – und umgekehrt. Sofern sich also die zum global partner ernannte chinesische Macht das Welt-Aufsichtsrecht zur eigenen Sache macht, das die Supermacht auf der anderen Seite des Pazifik vertritt, wird sie von der dazu ermächtigt, mit ihr gemeinsam die gefährlichen Waffen der Welt zu kontrollieren (Clinton).

Für China bedeutet diese Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten die offizielle Anerkennung als Großmacht, die über eigene weltpolitisch-strategische Ambitionen verfügt. Dafür nimmt man in Peking hin, daß – gegenwärtig wenigstens noch – an der amtierenden Weltmacht und ihrer Definition der weltpolitischen Verantwortlichkeit, welche aufstrebende Großmächte wahrzunehmen hätten, kein Weg vorbeiführt, will man sich nicht feindlich mit ihr anlegen. So findet man einen Konsens, den beide Seiten als Erfolg für sich verbuchen können.

Letzteres gelingt der Diplomatie manchmal auch dann, wenn ein Konsens über eine strittige Frage wegen allzu gegensätzlicher Interessenslagen ausbleiben muß:

3. Taiwan

Diese Insel wird von der VR China als abtrünnige Provinz betrachtet, die sie sich wieder eingliedern will. Die alten politischen Vertreter der Insel dagegen begreifen sich selbst als Repräsentanten Chinas und möchten daher das Festland an Taiwan angliedern; die neuere Politikergeneration bemüht sich um die Anerkennung der Insel als eigenes Staatswesen. Taiwan kann sich hinsichtlich seiner Partnerschaft mit den USA einer weit längeren Tradition rühmen als das postkommunistische China; zu Zeiten, als es noch eine kommunistische Gefahr einzudämmen galt, stellte sich die Weltmacht sogar hinter die in Taiwan übliche Auslegung der Ein-China-Politik. Die von Peking vertretene Lesart war dann freilich in der diplomatischen Anerkennung der chinesischen Volksrepublik durch Amerika – seinerzeit ein wichtiger weltpolitischer Schritt, der einiges zur Zersetzung des einstigen „kommunistischen Blocks“ beigetragen hat – mit eingeschlossen; jedenfalls im Prinzip. Nicht eingeschlossen war die praktische Konsequenz, daß die USA die letzte Inselbastion der „Nationalchinesen“ den „Roten“ überlassen hätte. So treiben die USA erstens seit geraumer Zeit mit einer Insel, die sie als Staat nicht anerkennen, regen Wirtschaftsverkehr und Waffenhandel, anerkennen zweitens das Festland, mit dem sie dasselbe auch gerne treiben wollen, als das einzige China weit und breit, und sorgen drittens als militärische wie politische Schutzmacht Taiwans dafür, daß die VR China sich nicht nimmt, worauf sie ihr nationales Recht erstreckt – kaum drei Jahre ist es her, daß die Weltmacht zum demonstrativen Schutz der Insel vor der Bedrohung durch ein chinesisches Manöver ihre Flugzeugträger in dieser Krisenregion aufmarschieren ließ. Ein recht belangvoller Prüfstein für den Besuch liegt also da im Weg.

Doch wo ein politischer Wille zur Harmonisierung von Interessengegensätzen vorhanden ist, da findet die Diplomatie auch einen Weg. Zuallererst wirkt die Weltmacht dem Verdacht entgegen, ihre ablehnende Haltung gegenüber einer Veränderung der Lage an ihrer strategischen Gegenküste wäre – wie früher – chinafeindlich gemeint: Befriedigt darf der chinesische Staatschef zur Kenntnis nehmen, daß er von den USA als Repräsentant von ganz China anerkannt ist und bleibt, Amerika keinesfalls Bestrebungen unterstützt, die aus Taiwan einen eigenen Staat fabrizieren wollen. Im Prinzip habe die Weltmacht auch nichts gegen eine Wiedervereinigung Chinas mit Taiwan; nur müsse diese schon friedlich vonstatten gehen und vom Willen beider Völker getragen sein, unter einem gemeinsamen Dach zu leben. Diese kleine Prämisse hat es freilich in sich. Sie bedeutet im Klartext, daß die Weltmacht ihr Recht verletzt, daher auch für sich einen eigenen Kriegsgrund vorliegen sieht, wenn etwas geschieht, was sie unfriedlich findet. Ein vereinigtes Ganzchina kommt folglich nur zustande, wenn die Weltmacht dies genehmigt: Sie behält sich, und zwar auf Dauer, das Urteil darüber vor, ob die VR China den nötigen Respekt vor dem „Volk von Taiwan“ wahrt oder Sachen unternimmt, die als Erpressung und Gewalt einzustufen sind. Völlig ausgeschlossen ist damit, daß Taiwan je einer VR China angegliedert werden könnte, deren demokratisch-rechtsstaatlich-kapitalistisches Innenleben nicht voll und ganz dem imperialistischen Standard genügt, den Taiwan schon längst erfüllt – und keineswegs eingeschlossen, daß eine lupenrein kapitalistische Volksrepublik sich Taiwan greifen dürfte: Schließlich ist China für den Geschmack des demokratischen Imperialismus schon jetzt ein viel zu ausladendes „gemeinsames Dach“. In diesem Sinne wacht die Weltmacht darüber, daß – bei aller Anerkennung des Pekinger Standpunkts – dem taiwanesischen Nationalismus nichts angetan wird.

Mit der Floskel von der friedlichen Wiedervereinigung drückt die amerikanische Diplomatie somit höflich und auf Einvernehmen mit dem Partner berechnet aus, daß sie die von diesem beabsichtigte Ausdehnung und Aufwertung seiner strategischen Position nicht zuläßt und es an der chinesischen Seite liegt, das zu akzeptieren – von US-Seite aus bräuchte das eindeutige Veto gegen Chinas Taiwan-Ambitionen keine Feindseligkeit zu begründen. Genau so ist es beim strategischen Partner dann auch angekommen, verstanden – und akzeptiert worden. Nun wissen beide, daß ihre Interessen im Fall der Insel Taiwan miteinander kollidieren, aber China sich – einstweilen – nichts herausnimmt. Sie halten an ihrem Gegensatz fest, tragen aber zu dessen Harmonisierung bei, indem sie sich auf eine Sprachregelung verständigen, in der der Interessengegensatz enthalten – und der amerikanische Vorbehalt als gültige Friedensbedingung anerkannt ist.

4. Die wirtschaftliche Beziehungen

sind dann gleich mehrfach zwischen den Partnern Thema, obwohl sie der hiesigen Berichterstattung zufolge ursprünglich bei diesem rein politischen Besuch gar nicht im Vordergrund stehen sollten. Von wegen obwohl! Auch auf diesem Feld haben strategische Partner viel zu bereden und miteinander auszumachen, weil zwischen ihnen nämlich erstens bereits ein reger wirtschaftlicher Verkehr herrscht; weil sie zweitens – aus freilich unterschiedlichen Interessen – noch sehr viel mehr von diesem Verkehr und so auch voneinander wollen; und weil drittens ihr ganzer wirtschaftlicher Verkehr ohnehin ein einziges Politikum ist.

Jenseits der Frage, ob es den vielen Chinesen deswegen besser geht: Die Volksrepublik China ist zweifellos eine aufstrebende kapitalistische Wirtschaftsmacht. Sie hat ihr menschliches und produktives Inventar den Erfordernissen des kapitalistischen Systems unterstellt, mit der Politik der zwei Systeme in einem Land allerdings darauf geachtet, daß das Land mit seinen Ressourcen nicht schlagartig der kapitalistischen Produktionsweise ausgeliefert und darüber verheert wird. Immer nur schrittweise sollte der Kapitalismus von für ihn eigens reservierten Enklaven aus expandieren, zweckmäßig und produktiv sollte er im gesamten restlichen Reich allmählich durchsickern. Freilich erhält diese politische Ökonomie einer kontrollierten kapitalistischen Erschließung Chinas auch einige kapitalistische Systemwidrigkeiten am Leben – im Vergleich zu den längst fertigen großen kapitalistischen Wirtschaftsmächten, an denen man in China ja Maß nimmt. Doch gerade mit und wegen diesen hat es China zu seiner wirtschaftlichen Potenz, zu seinem bemerkenswerten Export von Waren, zu reichlich Import von Kapital und dabei vor allem mit der führenden Weltwirtschaftsmacht in beiden Geschäftsabteilungen zu sehr vielen bilateralen Transaktionen gebracht. Wenn Clinton seinem Gastgeber von dem pulsierenden Wachstum im riesigen Markt China vorschwärmt, dann weiß er schon, daß da reichlich Geschäftemacher aus seinem eigenen Land an den erstaunlichen Wachstumsraten teilhaben.

Beim erreichten Stand seines ökonomischen Erfolgsweges will China es nicht belassen. Es möchte vollständig in den Weltmarkt integriert sein. Schon länger will es als gleichrangiger Partner am Weltmarkt teilnehmen, den Zugang zu den internationalen Märkten als eigenes, international verbrieftes Recht und Verpflichtung seiner Handelspartner verankert haben. Es strebt daher die Aufnahme als vollwertiges Mitglied in der WTO an. Das maßgebliche Subjekt, an dem dieses Begehren schon seit längerem scheitert, ist die Macht, deren oberster Repräsentant gerade zugegen ist – also ist der die genau richtige Adresse für den Antrag, zur unbeschränkten Konkurrenz auf den Weltmärkten zugelassen zu werden.

Dieser Wunsch wird abschlägig beschieden. Bei allem Respekt, den Chinas Wachstum verdient; bei allen begrüßenswerten Öffnungsmaßnahmen und Liberalisierungsschritten, die – vom Zollwesen über den Schutz des geistigen Eigentums bis zur Bekämpfung der Copyright-Piraterie – von China gefordert wurden und inzwischen ernsthaft angegangen werden: Gegen die Manier, in der in dieser Nation Kapitalismus gemacht wird, sind nach der maßgeblichen Auffassung Amerikas nach wie vor jede Menge Vorbehalte angebracht. Gemessen nämlich an den Regeln, die die USA für das freie Konkurrieren auf ihrem Weltmarkt erlassen haben, nimmt sich eine kapitalistische Entwicklungsnation, die sich nicht freiwillig zum bloßen Derivat auswärts akkumulierten Reichtums erklärt und als eine einzige Sonderzone für dessen lohnende Anlage anbietet, wie ein einziger Fremdkörper und Regelverstoß aus. Chinas unbeschränkter Zulassung zum Weltmarkt steht also seine eigene innere Verfassung grundsätzlich im Wege, was man dem Antragsteller gegenüber allerdings nicht so grundsätzlich ausdrückt, wie man es meint. Man erläutert ihm beispielsweise an den zum Himmel schreienden Handelsdefiziten, die die USA im Handel mit China zu verzeichnen haben, en detail und konkret, daß China in Sachen Öffnung noch sehr viel zu tun hat. Nach der bewährten Logik, derzufolge ein Minus im Handel, sofern es in Amerikas Büchern steht, das Ergebnis unfairer Handelspraktiken des diesbezüglichen Partners sein muß, klagt man den Protektionismus an, der in China noch immer herrsche: Für den selbstlosen Verfechter des weltweiten Freihandels sei es in keinem Fall hinnehmbar, daß dortigen Staatsbetrieben der Export subventioniert wird, während amerikanischen Autos, Telefonen und Agrarkonzernen, aber auch Banken und Versicherungen der Zugang zu Chinas Märkten verwehrt bleibe.

Die Zurückweisung des chinesischen Wunsches, von der führenden Weltwirtschaftsmacht als Handelspartner mit gleichen Rechten anerkannt zu werden, kleidet sich so in den konstruktiven Antrag, erst einmal im bilateralen Verkehr untereinander für die Voraussetzungen eines fairen, also für Amerika garantiert einträglichen Wettbewerbs zu sorgen. Falls der zufriedenstellend zustandekommt, wäre man im Gegenzug auch bereit, die Frage, ob China im Handel mit den USA speziell zu diskriminieren sei, nicht mehr einer alljährlich neuen Beschlußfassung zu überantworten: Auf immer will Clinton China Meistbegünstigung gewähren – sofern man in Washington die chinesische Wirtschaftspolitik als das Zeichen des guten Willens zu interpretieren geneigt ist, den man von China verlangt.

5. Die Finanzkrise in Asien

Während die mangelnde Konvertibilität der chinesischen Landeswährung für die USA immer ein schlagender Einwand gegen die Aufnahme Chinas in den Kreis der WTO-Partner ist, ist der Präsident der Weltfinanzmacht für den Umstand, daß der Wert dieser Währung im Unterschied zu wirklichem Welt-Geld politisch dekretiert wird, aktuell ausgesprochen dankbar. Derzeit macht China nämlich genau dadurch alles richtig, daß es sich nicht den internationalen Geldspekulanten bedingungslos öffnet. Das glorreiche globale Finanzsystem, dem die USA maßgeblich vorstehen, ist deren eigenem Urteil zufolge in einer Verfassung, daß selbst ein Staat, der darin noch gar nicht so richtig integriert ist, mit ein paar Cent weniger für den Yüan seinen Kollaps befördern kann. Die Wirkungen jedenfalls, die die berufenen Kenner der Materie aus einer Abwertung der chinesischen Landeswährung locker herleiten – sie reichen vom endgültigen Zusammenbruch erst der Märkte in Asien, dann Hongkongs, dann derer in Japan, dann der Landeswährung dort und darüber dann auch des Geldes, das zum Großteil den Kredit der ganzen kapitalistischen Welt ausmacht –, machen auch dem Präsidenten Clinton Sorge, der von alledem nichts versteht. Daß China der Spekulation gegen seine Währung – bislang wenigstens noch – eisern trotzt und mit schwerverdienten Dollars die Fiktion einer grundsoliden und „stabilen“ Landeswährung am Leben erhält, läßt für ihn und andere dieses Land daher gleich als eine Insel der Stabilität erscheinen. Und die Berechnungen der chinesischen Finanzpolitiker, auf diese Weise vielleicht doch weniger zu verlieren als auf die andere, avancieren zu Gesten der Selbstlosigkeit im Namen der globalen Verantwortung:

„China hat seine Verantwortung gegenüber der Region und der Welt während dieser letzten Finanzkrise entschlossen übernommen – und zur Vermeidung eines weiteren Zyklus gefährlicher Abwertungen beigetragen. Wir müssen weiterhin zusammenarbeiten, um diese Bedrohung des globalen Finanzsystems sowie von Wachstum und Wohlstand … abzuwehren.“

Mögen sie nach amerikanischer Auffassung auch mit unlauteren Methoden zustandegekommen sein: Wenn China seine Handelsüberschüsse weiterhin für diesen guten Zweck ausgibt, verdient es uneingeschränkt Lob.

*

So bringen die beiden Staatschefs in ihren vielen Gesprächen über alle Ebenen der Weltpolitik, die sie treiben, diplomatisch auserlesene und politisch besonders wertvolle Sprachregelungen und Sichtweisen darüber zustande, welche Interessen beide Seiten demnächst zu verfolgen gedenken. Sie wissen, bis wohin sie dabei gehen können, ohne Unmut zu erregen, wissen auch, was sie sich besser nicht erlauben sollten, wenn zwischen ihnen weiterhin gute Beziehungen herrschen sollen, und tun einander und der Welt kund, daß sie nach dem Besuch besser als vorher wüßten, wo ihre potentiellen Differenzen, aber auch die Bereiche gemeinsamer Absichten liegen. Doch auch wenn letztere nach dem Bekunden der etablierten Weltmacht sogar eine strategische Partnerschaft hergeben: Daß dieser neue Partner keineswegs den bereits etablierten, den imperialistischen Mächten von gleicher Machart wie die USA selber, gleichgestellt ist, wissen beide nach diesem Besuch auch. Um China und der Welt genau dies mitzuteilen, nimmt der amerikanische Präsident nämlich seinen Besuch zum Anlaß für eine eigene kleine Veranstaltungsreihe zum Thema:

6. Die Menschenrechte

Auch in China kennt man die Tour, in der die Weltmacht auszudrücken pflegt, daß ihr ein anderer souveräner Staatswille grundsätzlich nicht genehm ist. Mit den Menschenrechten und dem Vorwurf, sie zu mißachten, werden Verfahrensweisen, Gewohnheiten oder auch nur Einzelaktionen einer Herrschaft beim Umgang mit ihren Landesbewohnern, zu denen diese sich allemal durch ihre Verpflichtung auf Recht & Ordnung und ein durch sie definiertes Gemeinwohl ermächtigt weiß, als unerlaubte Übergriffe gegeißelt. Und zwar keineswegs alles, was einem anständigen Menschen am Walten moderner politischer Herrschaften und an den von denen eingerichteten Lebensverhältnissen mißfallen kann, sondern zielsicher eine Spezialabteilung: gewaltsame Kontrollmaßnahmen, mit denen eher ungefestigte Gewaltmonopolisten es in Sachen Stabilität den marktwirtschaftlich erfolgreichen Demokratien gleichzutun suchen. Und auch die werden keineswegs überall dort geächtet, wo sie anzutreffen sind, sondern wo man der regierenden Gewalt Stabilität nicht als oberstes Anliegen, weil Grundvoraussetzung aller weiteren politischen Wohltaten zugutehält; was immer und nur dann der Fall ist, wenn die Herrschaft selbst mißfällt. Und zwar den Instanzen, die aufgrund ihrer Macht das Recht haben, die „Menschenrechtswaffe“ zur Anwendung zu bringen: Imperialistische Nationen klagen auf die Art Staatsgewalten an, an denen sie mehr als das eine oder andere unpassende Interesse auszusetzen haben. Die Anrufung eines moralischen Grundprinzips, dem das Herrschen generell verpflichtet wäre und von dem es im vorliegenden Fall abweiche, dient dazu, dem Subjekt der Herrschaft prinzipielle Mißbilligung auszudrücken: Mit dem Deuten auf verletztes Menschenrecht wird dem Souverän und allen Rechten, die er in seinem Umgang mit seinen Menschen verfolgt, beschieden, grundsätzlich nicht respektabel zu sein.

Dies freilich auch nur in einem höheren, moralischen, nicht im handfest politischen Sinn: Die diplomatische Anerkennung, diese Grundfigur und Grundlage allen friedlichen Verkehrs souveräner Staatsgewalten miteinander, wird mit der sittlichen Diskreditierung einer auswärtigen Herrschaft allein noch nicht widerrufen. Sie kann einen solchen Schritt ankündigen; wenn die politische Ächtung eines erklärten Feindstaates ansteht, geht das nie ohne Anrufung der Menschenrechte ab; und bewaffnete Interventionen kommen erst recht nicht ohne die Rechtfertigung aus, menschenrechtswidrige Regime verstünden nur „die Sprache der Gewalt“. Das diplomatische Instrument der moralischen Fundamentalkritik läßt sich eben wegen seiner Überbau-Qualitäten aber auch so dosiert einsetzen, daß eine flott laufende und weitergeführte „politische Zusammenarbeit“ dadurch bloß unter den Generalvorbehalt gestellt wird, im Partner, so wie er politisch verfaßt und orientiert ist, noch keineswegs den passenden Erfüllungsgehilfen vor sich zu haben, sondern einen noch sehr grundsätzlich besserungsbedürftigen politischen Willen.

In diesem letzteren Sinn gibt der US-Präsident seinem chinesischen Gastgeber zu verstehen, daß bei allem beabsichtigten und absichtsgemäß herbeigeführten Einvernehmen in vielen und höchst wichtigen Einzelfragen Chinas volksrepublikanisch-großmächtige Verfassung im Ganzen auf Ablehnung trifft und jedenfalls bislang noch viele und entscheidende Anpassungsleistungen schuldig geblieben ist: Clinton bringt Anklagen vor – die einstige blutige Aktion der Volksarmee gegen demokratie-idealistische Studenten auf dem ‚Platz des himmlischen Friedens‘ ist ideell ebenso allgegenwärtig wie das um seinen Quasi-Gott betrogene tibetische Volk –, die ernstgenommen ein Widerruf all dessen wären, wozu man es beim Ausbau der Beziehungen schon gebracht hat und weiter bringen will; eben deswegen bringt er sie gerade nicht als moralische Totalabsage an seinen Gastgeber vor – dann wäre er im übrigen auch gar nicht erst verreist –, sondern als moralisierenden Zusatz, wie eine wohlmeinende Anregung für Chinas Herrscher. Das will er damit aber schon klargestellt haben, wenn er von dem Segen kündet, den die Freiheit, die freie politische Meinungsäußerung im besonderen sowie das Prinzip, sich seine politischen Führer wählen zu dürfen, für die Menschen bringen: Ganz grundsätzlich, getrennt von allem, worüber er mit der chinesischen Regierung im einzelnen politisches Einvernehmen herstellt, sind die USA mit der Volksrepublik als weltpolitischem Subjekt nicht einverstanden. Zu dieser Verdeutlichung fühlt sich der oberste Amerikaner gedrängt, gerade weil sein Staatsbesuch die Demonstration bezweckt und eine einzige Demonstration des Inhalts ist, daß die Weltmacht auf China als gutwilligen Mitmacher im zeitgenössischen Weltordnungswesen und Weltgeschäft Wert legt und dafür sogar die politischen Eigeninteressen der Volksrepublik ein gutes Stück weit gelten läßt. Daß ein Recht auf Eigenmächtigkeit daraus nicht erwächst, die selbstgesetzten Ziele der Nation keineswegs als pauschal abgesegnet gelten dürfen: Das muß den Chinesen und dem Rest der Welt entsprechend unmißverständlich gesagt werden – und wird mit der Mahnung an nicht bereutes staatseigenes Unrecht klargestellt.

Die Gastgeber reagieren entsprechend. Der oberste Repräsentant von Freiheit und Demokratie kommt in den Genuß der Meinungsfreiheit, die er von zu Hause gewohnt ist: Live im Fernsehen, mit Telefon, Fax und Auftritten in Universitäten darf er unzensiert Propaganda für die US-amerikanisch-demokratische Wertordnung machen und sogar seine christliche Notdurft verrichten. So, als überhaupt nicht unterdrückte Privatmeinung, die er ruhig äußern darf, hört der Chinese sich die netten Anregungen durchaus aufgeschlossen an, die der Präsident für China parat hat. Den politischen Vorbehalt, der darin ausgedrückt wird, nimmt die Staatsführung so auf der diplomatischen Ebene zur Kenntnis, auf der er geltend gemacht wird: als mißbilligenden Zusatz zu dem berechnend gewährten Respekt vor Chinas Macht und Wichtigkeit – und so nimmt man ihn im Interesse der eigenen Interessen in Kauf.

Dieses Theater erleichtert dann auf seine Weise die

Urteilsfindung der hiesigen Öffentlichkeit

ungemein. In dieser nimmt man vorzugsweise ganz ohne störenden Rekurs auf den politischen Stoff der diplomatischen Verhandlungen darauf Bezug, wie sich die Beziehungen zwischen dem mächtigen Gast und seinem machthabenden Gastgeber während des Besuchs gestaltet haben und nach dem Besuch so im allgemeinen darstellen. Man stellt fest, daß Clinton etliches angesprochen hat, was man als Kritik an Chinas „Machtelite“ auffassen kann: Kein Zugeständnis in den Grundsatzfragen einer moralisch nicht zu beanstandenden Herrschaft habe er gemacht, seinen Gastgebern gar eine Lektion in demokratischer Gesinnung erteilt. Andererseits stellt man auch fest, daß der Präsident viele freundliche Worte gefunden hat, die man durchaus als Anerkennung Chinas auffassen kann. Immerhin hat er ja nach eigenem Bekunden in den Dörfern die Demokratie knospen gesehen; und in der Hauptstadt hat er dem Symbol des chinesischen Menschenunrechts, dem ‚Platz des himmlischen Friedens‘, die Ehre seines Besuchs erwiesen – auf eine Weise, daß die chinesische Führung weder „ihr Gesicht verlieren“ mußte noch sich freigesprochen fühlen durfte…

Derlei Stimmungsberichte reichen dann schon für den Eindruck, daß es sich bei China um ein Land handeln muß, das irgendwie in „unsere“ Weltordnung hineingehört, aber doch auch wieder – noch – nicht so recht. Mit solcher Unsachlichkeit liegt die Weltöffentlichkeit dann doch wunderbar genau auf der Linie der demokratischen Weltpolitik.