Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die Bundestagsdebatte zur Sterbehilfe
Sterben erlaubt – unter Vorbehalt
Im November 2015 debattiert der Deutsche Bundestag über eine Neufassung des Sterbehilfegesetzes, „eine der heikelsten Gewissensfragen überhaupt, über die Art des Sterbens, die viel über das Verständnis des eigenen Lebens offenbart“ (FAZ). Eine parlamentarische Sternstunde, ohne Zweifel. Die Fraktionsvorsitzenden setzen den politischen Alltag der parlamentarischen Demokratie ausdrücklich außer Kraft. In dieser sensiblen Materie soll sich das Gewissen der Abgeordneten nicht wie üblich in die Machtkalkulationen von Regierung und Opposition auflösen, dieses Mal soll mit dem grundgesetzlichen Ideal dieses Gewissens Ernst gemacht werden.
Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Die Bundestagsdebatte zur
Sterbehilfe
Sterben erlaubt – unter
Vorbehalt
Im November 2015 debattiert der Deutsche Bundestag über
eine Neufassung des Sterbehilfegesetzes, eine der
heikelsten Gewissensfragen überhaupt, über die Art des
Sterbens, die viel über das Verständnis des eigenen
Lebens offenbart
(FAZ).
Eine parlamentarische Sternstunde, ohne Zweifel. Die
Fraktionsvorsitzenden setzen den politischen Alltag der
parlamentarischen Demokratie ausdrücklich außer Kraft. In
dieser sensiblen Materie soll sich das Gewissen der
Abgeordneten nicht wie üblich in die Machtkalkulationen
von Regierung und Opposition auflösen, dieses Mal soll
mit dem grundgesetzlichen Ideal dieses Gewissens Ernst
gemacht werden. Und tatsächlich denken die Abgeordneten –
so scheint es jedenfalls – in diesem Fall nicht nur
entlang ihrer Verantwortung, die sie als
Fraktionsmitglieder für ein funktionierendes
Regierungsgeschäft tragen:
„Allen schien bewusst, dass sie diesmal nicht nur Gesetze für andere machen, sondern dass es auch um ihr eigenes Lebensende geht. Wir reden als Gesetzgeber auch über uns selbst.“ (Die Zeit)
Dass die Damen und Herren des Hohen Hauses ausnahmsweise
nicht nur in ihrer Herrschaftsfunktion gefragt
sind, kraft derer sie dem Volk mit Gesetzen über
Mindestlohn, Rente usw. von oben herab Vorschriften
machen; dass von der Regelung, die sie als
Staatsrepräsentanten zu treffen gedenken,
tatsächlich sie selber als Menschen wie du
und ich
betroffen sind, das sorgt für eine Stimmung
moralischer Ernsthaftigkeit im Parlament. Und die bringt
den Gesetzgebern in den Augen der Öffentlichkeit viel
Respekt ein. Nicht nur der ARD-Kommentator hat beim
Zuhören sogar Gänsehaut bekommen
, weil sich die
Abgeordneten in persönlicher Betroffenheit mit
gegenseitigem Respekt und Fingerspitzengefühl
(Die Zeit) der Frage
widmeten: In welcher Gesellschaft wollen wir
leben?
Verloren gegangen sind vor lauter Begeisterung über die hochmoralisch geführte Debatte zwei Dinge: erstens das ziemlich ernüchternde Zeugnis, das die Parlamentarier in der Debatte der real existierenden Gesellschaft ausgestellt haben, in der wir leben und sterben; zweitens die ziemlich fundamentale Zuständigkeit über Leben und Tod, die der Rechtsstaat da beansprucht.
*
Es geht um schwerstkranke Menschen, die ihr Leben beenden wollen. Dafür sind sie auf die Hilfe Dritter angewiesen, entweder für die Beschaffung von einigermaßen zweckmäßigen Medikamenten oder wegen ihrer körperlichen Hilflosigkeit, die ihnen einen Suizid verunmöglicht. Diese Hilfe finden Betroffene mittlerweile auch in Deutschland immer öfter – in Gestalt von Ärzten oder Sterbehilfevereinen, die ihnen für einen schnellen, schmerzfreien Suizid Medikamente oder Räumlichkeiten zur Verfügung stellen und in der Öffentlichkeit dafür auch werben.
Einen zivilisatorischen Fortschritt für ihre alternde Gesellschaft, in der dank moderner Medizin solche Fälle immer öfter auftreten, wollen die Politiker in diesem professionellen Angebot einer aktiven Sterbehilfe nicht sehen; die Tatsache, dass dieses Angebot von Betroffenen immer öfter in Anspruch genommen wird, ist ihnen nicht geheuer:
„Die Machenschaften des ehemaligen Hamburger Justizsenators und professionellen Sterbehelfers Roger Kusch sollten unterbunden werden. Das war gemeinsames Ziel der ganzen Sache.“ (SZ)
Exemplarisch arbeiten die Parlamentarier an diesem Fall heraus, was ihnen an den Sterbehilfevereinen nicht passt:
„Eine Korrektur ist ... erforderlich, wo geschäftsmäßige Angebote die Suizidhilfe als normale Behandlungsoption erscheinen lassen...“ – und „geschäftsmäßig“ ist definiert als eine „wiederkehrende Tätigkeit unabhängig von einer Gewinnerzielungsabsicht“ (alle nicht anders gekennzeichneten Zitate aus der schriftlichen Begründung zum verabschiedeten Gesetzentwurf).
Ein Profit muss also noch nicht einmal beabsichtigt sein.
Schon da, wo ein Sterbehilfeangebot auf eine Wiederholung
angelegt sein könnte, erst recht dort, wo eine
regelmäßige Durchführung angestrebt ist, beschleicht die
deutschen Parlamentarier, wenn sie sich in einen
sterbenskranken Menschen im heutigen Deutschland
hineindenken, ein Verdacht. Ohne Weiteres gehen sie davon
aus, dass sich viele Menschen davor fürchten, als Last
empfunden zu werden, vollständig auf die Hilfe Dritter
angewiesen zu sein und dabei ihre Autonomie zu verlieren.
Hinzu kommen tiefsitzende Ängste, schlecht und würdelos
versorgt zu werden
.
Es ist schon interessant, was die Parlamentarier da für
ein anheimelndes Bild von der Lage eines auf den Tod
wartenden Menschen in ihrer Gesellschaft zeichnen: Die
Aussicht, als hilflose Figuren, sei es auf den
Pflegestationen oder anderswo, schlecht versorgt und mies
behandelt zu werden, ängstigt diese Menschen; zudem
fürchten sie, von ihren Angehörigen nur als Last
angesehen zu werden; und als Menschen mit lebenslang
eingeübtem bürgerlichem Anstand, die immer nützlich sein
mussten und für die es eine Schande ist, unnütz zu sein,
haben sie noch mehr Angst davor, anderen oder gar „ihren
Lieben“ zur Last zu fallen. Am Ende wollen die
Betroffenen schon aus diesem Grund die eigene Familie
oder die Gesellschaft als Ganzes von dieser Last
befreien
(zitiert nach
FAZ) und deswegen lieber heute als morgen aus dem
Leben scheiden.
In den Abgründen der familiären Moral kennen Deutschlands
Parlamentarier sich anscheinend aus. Und mit dem Befund,
dass hilflose alte Menschen „im reichsten Land der Welt“
für die Angehörigen eine Belastung sind, haben
sie schon deswegen recht, weil sie schließlich selber
eine freie Marktwirtschaft regieren, in der die
allermeisten Menschen ökonomisch unter die Kategorie
„Kostenfaktor“ fallen und die Unkosten ihres Daseins
durch für andere nutzbringende Dienste zu rechtfertigen
haben; und diesen goldenen Grundsatz verlieren Politiker
auch dann nicht aus dem Auge, das sind sie allein schon
dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit schuldig, wenn sie
mit ihren wohlabgewogenen Gesetzen die arbeitsunfähigen
Opfer dieses Systems dem Kollektiv der noch diensttuenden
Insassen zur Last legen. Im Ergebnis sind auch
nächste Mitmenschen ohne nennenswerten Gelderwerb, die
sich selber nicht mehr helfen können, eine meist kaum zu
tragende Belastung der Finanzen und des Zeitbudgets
derer, die vom Sozialstaat in erster Instanz für
Unterhalt und Pflege haftbar gemacht werden. Die
Konsequenzen materieller wie moralischer Art stehen den
besorgten Gesetzgebern offenbar eindringlich vor Augen,
wenn sie meinen, mit einem Gesetz todkranke Menschen
vor gefährlichem Druck schützen
und sicherstellen zu
müssen, es solle sich niemand dafür entschuldigen
müssen, dass er noch leben will
(FAZ). Was die Autoren des
Mehrheitsentwurfs in ein solches Gesetz hineinschreiben
wollen, passt perfekt zu der diagnostizierten
Problemlage: Es muss schwerer gemacht, am besten
verboten werden, mit Hilfe geschäftsmäßiger Angebote
zur Suizidhilfe
das auszuführen, was
eingestandenermaßen in der Logik der materiellen
Lebensbedingungen in der von gestaltungswilligen Berliner
Politikern regierten Gesellschaft und der darin
herrschenden moralischen Gepflogenheiten liegt.
*
In einem werteorientierten abendländischen Rechtsstaat ist die Sache damit noch nicht fertig. Das ehrfürchtige Bekenntnis:
„Eine Suizidbeihilfe, die ... eine Art Normalfall wäre, wäre geeignet, den gesellschaftlichen Respekt vor dem Leben zu schwächen.“
redet von dem Leben
nicht bloß als der schieren
menschlichen Existenz, sondern als einem Wert,
dem die Staatsgewalt Respekt zu verschaffen hat.
Und das nicht bloß unter dem Gesichtspunkt, dass schnöde
Vorteilsrechnungen mit dem Todeszeitpunkt lästiger bzw.
sich selbst als Last begreifender Sterbekandidaten durch
ein paar faktische Erschwernisse konterkariert werden
sollten. Dem Rechtsstaat geht es hier um den autonomen
Willen
der Betroffenen in Sachen Leben oder Tod; und
der ist nicht nur gegen fremde Einflussnahme zu sichern,
sondern auch da, wo keine Fremdbestimmung droht, als das
eine staatlich geschützte Rechtsgut gegen das andere
Objekt eines staatlichen Monopolanspruchs abzuwägen: Der
Gesetzgeber bewegt sich im Spannungsfeld der
grundlegenden Schutzgarantien der menschlichen
Selbstbestimmung einerseits und des menschlichen Lebens
andererseits
. Dieses menschliche Leben
gehört
eben keineswegs einfach dem, der lebt und womöglich nicht
mehr leben möchte; es ist vor allem andern ein
Recht und als solches Sache der allerhöchsten
Rechtsaufsicht. Als deren gesetzgebende Instanz
müssen die Parlamentarier – bei allem Respekt vor dem
autonomen Willen
, der als Rechtsgut ja gleichfalls
keine bloß individuelle Angelegenheit ist – Vorkehrungen
dagegen treffen, dass das eine Recht sich per Suizid an
dem anderen vergreift. Und auch dafür fällt ihnen ein
probates Mittel ein: ein kleiner Hindernisparcours für
den Weg in den Tod, jetzt gedacht als Härtetest und
Nagelprobe auf die von der höchsten Rechtsaufsicht zu
respektierende echte Autonomie des Sterbewillens. Denn
wenn man es dem Todkranken durch nicht aufgestellte
gesetzliche Hürden zu leicht macht, seinem Elend ein Ende
zu setzen, dann wirft der womöglich, ohne ein
anerkennenswertes Recht dazu zu haben, nicht bloß das
Leben, sondern sein staatlich gewährtes Recht darauf weg
– was man ihm zwar nicht mehr ankreiden kann, den Helfern
und vor allem den geschäftsmäßigen
Helfershelfern
mit einer sorgfältig formulierten Gesetzeslage aber
schon.
*
Am Ende dieser ergreifenden Sternstunde des bundesdeutschen Parlamentarismus, in der ausgiebig „Argumente“ von dem Muster ‚Ich kenne einen Fall, wo ...‘, ‚Ich habe selber erlebt, dass ...‘ feilgeboten werden, fasst der Gesetzgeber zwei Beschlüsse, und die auch noch in der einzig korrekten Reihenfolge. Zuerst spendiert er der organisierten Sterbebegleitung ein Quantum freundliche Beachtung und einen kleinen Haushaltsposten:
„Zunächst müssen Konsequenzen aus den beschriebenen Ängsten und Sorgen der Menschen gezogen werden, indem die gesundheitlichen und pflegerischen Versorgungsangebote sowie die Hospiz- und Palliativversorgung verbessert werden.“
Wie sehr damit die Last erleichtert ist, die Sterbende für ihre sorgende Umgebung darstellen, sei dahingestellt; ob damit die Sorge der Betroffenen gemildert ist, als Last zu gelten, und ob damit ihr moralischer Impuls gemindert ist, sich selber ins Jenseits abzuschieben – wer weiß das schon. Entlastet ist auf jeden Fall das zarte Gewissen der Parlamentarier, die stolz auf eine jahrelange Sparpolitik nicht zuletzt in der Krankenversorgung zurückblicken können, für die anschließende Entscheidung, wie sie es mit der Hoheit des Rechtsstaats über „das Leben“ in seiner Endphase halten wollen. Die Entscheidung fällt im Sinne des Mehrheitsantrags aus: Sterbewilligen darf geholfen werden, aber nicht „geschäftsmäßig“. Was immer das praktisch bedeutet, wichtig ist das eine: Selbst der Suizid ist höchstinstanzlich gesehen eine Sache, für die der Staat sich eine Lizenz vorbehält. Dafür stehen all die Vorbehalte, unter denen er sie erteilt.