Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Endlich! – Bundestag nimmt Reichstag in Besitz

Der Umzug nach Berlin, mag er auch noch so viel kosten, muss sein. Denn Berlin ist ein Symbol: Für eine verheerende Niederlage, aus der Deutschland sofort den Anspruch auf eine totale Revision des Kriegsergebnisses abgeleitet hat und darin siegreich war – DDR kaputt, Deutschland ganz. So ist Berlin das Symbol für die Kontinuität der deutschen Macht, deren Ansprüche heute eine ganz andere Wucht besitzen als die zweimal gescheiterte Großmachtpolitik vergangener Berlins!

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Endlich! – Bundestag nimmt Reichstag in Besitz

Am 19. April tagt der deutsche Bundestag zum ersten Mal im umgebauten Berliner Reichstagsgebäude. Die Vertreter und Führer des Volkes nutzen die erste Plenarsitzung, um der Nation die Bedeutung dieses Ereignisses zu erläutern.

1. „Berlin ist von nun an die politische Metropole Deutschlands“

Zehn Jahre nach dem Ende der Teilung geht die deutsche Regierungsgewalt also wieder von Berlin aus, der alten und neuen Hauptstadt. „Ein großer Moment für Deutschland“ – „ein bewegender Moment“ für alle. Für alle Nationalisten jedenfalls, die die Nation regieren. Denn Berlin ist ein Symbol unserer Geschichte.

– Und zwar zunächst, wir erinnern uns nur ungern, das Symbol für eine verheerende Niederlage, die Deutschland bei seinem letzten Versuch einstecken mußte, die ihm zustehende Größe durch einen ehrgeizigen Waffengang gegen den Rest der Welt zu erkämpfen. Zwar wurde, wie man hört, damals auch der „Faschismus besiegt“, und das Volk von der Naziherrschaft „befreit“; doch echte Freude und Erleichterung wollten nicht so recht aufkommen. Die geläuterte Bonner Republik, darüber herrschte unter den neuen Führern parteiübergreifende Einigkeit, war das Dokument eines unübersehbaren Machtverlustes, den die schönste Demokratie nicht aufwiegen konnte. Nicht nur daß Deutschland ziemlich verwüstet war, eine ganze Hälfte des verwüsteten Landes stand auch noch unter fremder „Besatzung“, so daß die neu geschaffene Bundesrepublik von Anfang an unter dem Geburtsfehler litt, daß ihre Führer ein „Provisorium“ regieren mußten, mit eingeschränkten Souveränitätsrechten. Wie sehr ihre Rechte eingeschränkt waren, konnten die Regierenden schon daran ersehen, daß sie selber in einem „Provisorium“ namens Bonn hockten, während die alte Metropole – „geteilt“ und einem Viermächtestatut unterstellt – mitten im Feindesland lag. Das hatte allerdings auch sein Gutes:

– Das „geteilte“ Berlin, genauer gesagt: die bessere Hälfte, wurde zum „Vorposten der freien Welt“. Dieses zweite Geschenk der Westalliierten, die nun unsere Freunde waren, hat die Republik kräftig genutzt. Denn mit der Rede vom Bonner „Provisorium“ war nicht nur das Leiden an der zurechtgestutzten Macht ausgedrückt, sondern zugleich der politische Wille als Staatsräson definiert, die „Teilung“ nicht hinzunehmen, sich also mit der erlittenen Niederlage auf keinen Fall abzufinden. Unter dem atomaren „Schutzschirm“ der USA und mit der Nato-Militärmacht im Rücken wurde und hat sich die Verlierernation zum Frontstaat aufgerüstet, der im supranationalen Bündnis eine vierzig Jahre dauernde Politik der Abschreckung und der Nichtanerkennung des Status quo betrieben und damit seiner nationalen Forderung nach Wiederherstellung seiner „Einheit“ Glaubwürdigkeit verliehen hat. Berlin wurde zur Frontstadt im Kalten Krieg, ein ständiger Stachel und „Pfahl im Fleische“ der DDR – und war damit schon wieder ein Symbol: diesmal für die „Unteilbarkeit der Nation“ und ihren unbeugsamen Willen, das ihr angetane „Unrecht“ nicht gelten zu lassen; ein Symbol also für die Frechheit des Verlierers, der aus seiner totalen Niederlage den Anspruch auf totale Revision der Kriegsergebnisse abgeleitet hat – gegen die östliche Siegermacht, die immerhin eine furchtgebietende Atommacht war.

– Der zähe Kampf, in dem sich die Machthaber der „geteilten Nation“ von keiner Blockade und Drohung „der Sowjets“ abschrecken ließen und auch selber vor keiner Provokation und absichtsvoll inszenierten „Krise“ zurückschreckten, hat sich gelohnt. Das Bonner „Provisorium“ hat von seiner „Westintegration“ – der Teilnahme am ökonomischen und politisch-militärischen Bündnisimperialismus des Westens – profitiert und soviel Reichtum und Macht akkumuliert, daß die zweite Weltmacht in Gestalt ihres letzten kommunistischen Vorsitzenden schließlich „einsehen mußte“, daß man Politik nicht gegen die Geschichte (H. Kohl) machen kann. Sie hat der Weltkriegsdrohung der Nato ebenso wie dem unversöhnlichen Revanchismus der Bundesrepublik nachgegeben und nach ihren „Vasallen“ auch ihr letztes „Faustpfand“, die DDR, geopfert, in der Hoffnung, die Feindschaft des Westens und seines fanatischen Vorpostens loszuwerden. Schauplatz der epochalen Wende war natürlich einmal mehr die alte Hauptstadt: Das Brandenburger Tor, Inbegriff der „Teilung“, wurde geöffnet, dann fiel die Mauer, der Rest ist bekannt. So wurde Berlin endlich zu dem Symbol, als das es schon immer anvisiert war – für den Sieg der Nation: DDR kaputt, Deutschland ganz, Revision gelungen. Für die Führungselite der Nation war es da nicht nur eine politische Selbstverständlichkeit, sondern nachgerade nationale Pflicht, auch die Hauptstadtfrage zu entscheiden, die natürlich keine ernsthafte Frage sein konnte. Ausgerechnet nach der erfolgreichen Wiedervereinigung am Bonner „Provisorium“ festzuhalten, wäre ja wohl die verkehrteste Lehre aus der Geschichte gewesen. Daher haben sie sich in einer der großartigsten – auf „höchstem Niveau“ geführten – Debatte, die der Bundestag je erlebt hat, für Berlin entschieden. Und heute, nachdem der „Bundestag im Reichstag“ sitzt, läßt sich endgültig ermessen, wie wichtig und richtig diese zukunftsweisende Entscheidung war.

– Denn Berlin steht nun – die Feierstunde zeigt es – als Symbol für die Kontinuität deutscher Macht. Die ist wiederhergestellt, wenn auch noch lange nicht fertig. Während nämlich der rundum „gelungene“ Umbau des Reichstags mit seiner „Verknüpfung von Tradition und Moderne“ zweifellos das Sinnbild einer wunderbaren Erfolgsstory ist, sehen sich die politischen Architekten der Nation mit dem erreichten Status quo deutscher Macht längst vor „neuen Herausforderungen“.

Ändert sich nun etwas, weil die Regierung den Ortswechsel vom Rhein an die Spree vollzieht? Mit dem Umzug natürlich nicht. Aber daß sich die Machtverhältnisse in Europa gründlich verschoben haben, und Deutschland die neue „Mitte Europas“, also die dominierende europäische Zentralmacht ist, darf und muß anläßlich des Umzugs unbedingt gesagt werden. Und zwar – das ist sich die politische Elite der Nation einfach schuldig – in Form von lauter ehrlich gemeinten Dementis, deren Botschaft an Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt.

2. „Wir wollen keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst unaufgeregten, ja geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin.“

Der Erste Vorsitzende des Parlaments sieht sich veranlaßt, die von allen maßgeblichen Figuren der Republik geteilte und deswegen demonstrativ herausgestellte nationale Bedeutung des Umzugs mit der „Beschwichtigungsformel“ zu erläutern, daß der „selbstverständliche“ Ortswechsel von Regierung und Parlament selbstverständlich keinen politischen Richtungswechsel einleitet. Als ob sie genau darauf gewartet hätte, greift die Öffentlichkeit dieses Bekenntnis zur Kontinuität und Verläßlichkeit deutscher Politik dankbar und fast erleichtert auf und verkündet zufrieden, daß der Bezug des Reichstags doch tatsächlich ohne Tschingderassabum vonstatten gegangen sei, in aller Ruhe, gelassen, geschäftsmäßig und ohne Pomp; und daß sogar die Veranstalter selber in ihren Reden einen ganz unfeierlichen, ja sogar zivilen Ton (FR, 20.4.) angeschlagen hätten.

Hatte man etwa erwartet oder befürchtet, daß die erste Plenarsitzung in Berlin von einer pompösen Militärparade auf dem Kudamm begleitet würde? Hatte man mit der Ankündigung des Kanzlers gerechnet, daß sich Resteuropa nun auf einiges gefaßt machen könnte? Hatte man natürlich nicht. Wovon das heutige Deutschland sich unterscheidet und womit es sich folglich vergleicht, ist mit dem Bekenntnis zur „Normalität“ deutscher Politik allerdings schon ausgesprochen; daß die Nation bei ihrer traditionsbewußten Nabelschau ihr „ziviles“ Auftreten so penetrant herausstreicht, sagt immerhin soviel, daß Deutschland seine gewachsenen Ansprüche auch anders anmelden könnte. Deswegen folgt postwendend das Dementi: Man sage nicht, die Rückkehr von Parlament und Regierung nach Berlin sei ein Rückfall in schlimmste deutsche Geschichte… Es ist nicht das Wiederanknüpfen an preußisch-deutsche Großmachtphantasien. (Thierse) Bemerkenswert ist es also schon – wenn auch in ganz anderer Hinsicht, als es die öffentliche Selbstdarstellung bezweckt –, was dem Parlamentspräsidenten da stellvertretend für die anwesende Politikerriege zu Berlin einfällt: Ein Bekenntnis zur Arbeiterbewegung, immerhin ja auch eine „Tradition“ Berlins, ist dem Wende-Bürger des ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaates jedenfalls nicht in den Sinn gekommen; und die Versicherung, daß es nie wieder einen „Rückfall in schlimmste deutsche Geschichte“ geben werde, hat weiß Gott niemand so interpretieren können, daß damit das Hauen und Stechen der alten Berliner Republik etwa bei der Niederschlagung kommunistisch oder sozialistisch infizierter Volksmassen gemeint sein könnte. Ihm und allen anderen unaufgeregten Festrednern ist beim Stichwort Berlin einmal mehr genau das eingefallen, was zu den anspruchsvollen Ambitionen des modernen Deutschland paßt: die Tradition des deutschen Imperialismus. Entgegen dem Gerücht, daß sie sich von dem distanziert hätten, haben ihre Dementis nur ein Thema variiert: den Erfolgsmaßstab, der den Stoff aller nationalen Ehrenfragen bildet.

Nichts können Nationalisten nämlich weniger leiden als „Großmachtphantasien“, die Phantasien bleiben. Nationalen Aufbruchsprogrammen, die sich als Debakel erwiesen, die die anvisierten Ziele nicht nur verfehlt, sondern geradezu ins Gegenteil verkehrt haben, entziehen sie ihren Respekt. Was mit dem Tenor verantwortungsbewußter Zurückhaltung der neuen Republik daherkommt und auch so verstanden sein will, ist die Absage an eine gescheiterte deutsche Großmachtpolitik, die sich als Karikatur imperialistischen Erfolgs blamiert hat. Auf so verkehrte Weise groß werden zu wollen, das verkünden die Macher von heute, passiert uns nicht wieder! Erst das wilhelminische Kaiserreich, dann Hitler; zweimal schiefgelaufen. Wer wollte an so etwas „anknüpfen“! Eine Nation, die offensichtlich gute Gründe zur Zufriedenheit hat, jedenfalls nicht. Mindestens genauso gute Gründe hat sie allerdings, ihre bisherige Erfolgslage als ungenügend anzusehen und selbstbewußt auf ihren Bedeutungswandel, den mit der Wiedervereinigung erreichten Zugewinn an Macht, zu pochen. Daß Deutschlands Gewicht und Bedeutung gewachsen ist, ist seinen Machthabern ebenso klar wie die Richtung ihres künftigen Erfolgswegs. Sie haben aus der Geschichte gelernt und die Lehre aus ihr gezogen, daß „nationale Alleingänge“ gegen den Rest Welt nichts taugen, wenn sie die eigenen Fähigkeiten übersteigen: Niemals mehr allein, das ist die Lehre unserer Geschichte und zugleich unsere Chance (Schäuble). Das ist das Erfolgsrezept: Deutschlands Rechte und Interessen auf eigene Faust durchzufechten und dabei das Risiko des Scheiterns einzugehen, kommt nicht mehr in Frage; die Nation ist fest entschlossen, nie wieder auf der Verliererseite, sondern für alle Zukunft auf der Seite der Sieger zu stehen.

So wie jetzt in Jugoslawien, wo die aus historischer Erfahrung klug gewordene Bundesrepublik sich entschieden hat, an der Seite ihrer Nato-Verbündeten den ersten aktiven Kampfeinsatz ihrer Bundeswehr zu befehlen: Nicht gegen unsere Nachbarn, sondern mit unseren europäischen Nachbarn, haben die Deutschen den schmerzlichen Entschluß gefaßt, sich an einer militärischen Aktion zu beteiligen… (Thierse). Daß auch dieser Krieg gegen einen „unserer Nachbarn“ geht, ist für den Mann deswegen so unerheblich, weil die überlegene Gewalt des Bündnisses die rein moralische Qualität des Waffengangs unterstreicht. Nicht aus nationalem Egoismus und schon gar nicht mit Begeisterung ziehen wir diesmal in den Krieg, sondern aus Verantwortung, die die Geschichte uns – neben dem Geschenk der Wiedervereinigung – als neue Last aufgebürdet hat. Im Stil der ideologischen Phrasen der alten Republik, die ihre ziemlich unbescheidenen globalen Interessen mit der Attitüde weltpolitischer Zurückhaltung gepflegt hat, skizziert der in Dialektik und Geschichte geschulte Ossi die neue Handlungsfreiheit der wiedervereinten Nation wie eine neue Tragik – allerdings auf deutlich höherem Niveau: Es gibt einen Zusammenhang von geradezu tragischer geschichtlicher Dialektik: Die Wiederkehr eines gesamtdeutschen Parlaments nach Berlin und der Krieg um das Kosovo haben eine gemeinsame Ursache – das Ende des Kommunismus. (Thierse) So weiß man also erstens, wofür der Kommunismus gut war: Die einst von den Kommunisten aufgestellte Alternative – „Sozialismus oder Barbarei“ – wird von der kriegsträchtigen postkomunistischen Ära nicht bloß in Europa eindrucksvoll bestätigt. Zweitens weiß man jetzt aber auch, wofür das Ende des Kommunismus gut war. Nicht nur, daß Berlin wieder die Hauptstadt ist, Deutschland muß und darf auch wieder bomben. Wer hätte das vor zehn Jahren für möglich gehalten?

3. „Wir werden auch in Berlin die Bundesrepublik sein und bleiben“

Was denn auch sonst, möchte man meinen. Allerdings, in der Politik haben auch Sätze, die wie Platitüden klingen, so ihre Bedeutung. Wenn ausgerechnet der Regierungschef sich zum Status quo bekennt, kann man darauf rechnen, daß er an dessen Veränderung denkt. Dem Kanzler ist nämlich klar, daß die Nation schon deshalb nicht so bleiben kann, wie sie ist, weil sie ohnehin nicht mehr das ist, was sie einmal war: In den vergangenen Wochen hat sich dramatisch vollzogen, was als neue deutsche Verantwortung im Grunde seit Ende des Kalten Krieges und der staatlichen Einigung Deutschlands absehbar war. Es ist Zeit, dies auch auszusprechen.

Daß die Reichstagseröffnung zufällig in die Zeit fällt, in der die fertige Nation wieder ihren ersten Krieg führt, ist für den Kanzler ein schlagender Beleg für die symbolische Bedeutung von Berlin als neuer Hauptstadt. Denn da gibt es eine interessante Entdeckung, die den „dramatischen“ Unterschied zwischen damals und heute offenlegt. Während das geteilte Berlin „schmerzlich“ daran erinnerte, daß die alte Bundesrepublik das Projekt einer Staatsgründung von außen war – also mehr gegründet wurde –, steht das neue Berlin dafür, daß bei allen aktuellen und künftigen Projekten Deutschland zum Kreis derjenigen Mächte zählt, die allein befugt sind, über Staatsgründungs- und andere Ordnungsfragen zu entscheiden. Damals haben andere Verantwortung übernommen und „uns“ eine Demokratie verpaßt. Heute belegen die Bomben auf Jugoslawien genauso wie die Kuppel auf dem Reichstag unsere Verantwortung und Zuständigkeit, zusammen mit unseren Nachbarn in der weiteren Nachbarschaft für Demokratie und Menschenrechte zu sorgen: Es geht um den Gründungsakt für ein Europa der Menschen und der Menschenrechte. Und die Notwendigkeit eines solchen Gründungsaktes gilt insbesondere für unser Land nach der Vereinigung.

So braucht der Kanzler gar nicht anzukündigen, was die neue Republik alles vorhat – das wird man beizeiten schon sehen; daß Deutschland aber in jedem Fall zu den politisch gewichtigen Subjekten gehört, wenn es um die Gestaltung Europas auf dem Balkan und anderswo geht, ist die Quintessenz der neuen Lage, die es endlich – und zwar auch etwas unbefangener als der Kollege Thierse – „auszusprechen“ gilt. Und diese neue Rolle ist es, die das Regieren von Berlin aus so schön macht.

4. „So ist unsere Bundesrepublik erwachsen geworden, uneingeschränkt souverän. Wer aber Rechte hat, hat auch Pflichten.“

Berlin Regierungssitz, Deutschland „erwachsen“. Mit seiner Bildersprache beweist der Oppositionsführer seinen staatsmännischen Weitblick: Die Erfolgsstory einer Nation, die über eine 500000-Mann-Armee verfügt und ihre strategische „Vorneverteidigung“ tief im Hinterland des Feindes, der Weltmacht Nr. 2, geplant hat; einer Nation, deren Kapitalstandort Europa seinen Stempel aufgedrückt hat, und deren gutes Geld ein international begehrtes Geschäftsmittel ist; einer Nation, die aus „Ruinen auferstanden“ ist, es zum „Exportweltmeister“ und „ökonomischen Riesen“ gebracht hat, und nebenher alles andere war als ein „politischer Zwerg“ – eine solche Erfolgsstory erklärt der Mann zur infantilen Phase der Republik. Nicht, daß er einen speziellen Mangel der alten Republik benennen wollte – außer, daß sie nun einmal unfertig war –, er deutet vielmehr vierzig Jahre erfolgreichen deutschen Imperialismus und eine zu jedem Weltkriegsrisiko bereite Politik der atomaren Abschreckung so, als habe die Bundesrepublik in einer Nische der Geschichte herumgestanden, behütet und gehätschelt, während andere für das „Kind“ die Kohlen aus dem Feuer geholt hätten. Was darf man da erst von der „erwachsenen“ Republik erwarten?

Zumindest die Einhaltung ihres Versprechens, daß sie die neue Verantwortung in aller gebotenen Freiheit wahrnehmen wird; denn wer neue Rechte hat, hat auch die Pflicht, sie sich zu nehmen. Selbstverständlich darf auch für diese zwingende Schlußfolgerung aus der Geschichte – wie überhaupt für alle „Lehren“, die an diesem Ehrentag der Nation auf den Tisch gelegt wurden – der Umzug in den Reichstag herhalten: Für die Freiheit steht als Symbol der Reichstag. Und für die Freiheit steht Berlin. Deswegen mußte für mich Berlin auch Sitz von Parlament und Regierung werden. (Schäuble) Nun sitzen sie also in Berlin, das als ehemals geteilte Stadt wie kein anderes Symbol dafür prädestiniert ist, die „Unteilbarkeit von Frieden und Freiheit“ zu belegen. Die alte Parole, daß es Frieden nur zu den Bedingungen der Freiheit, also zu den Konditionen der imperialistischen Demokratien gibt, ist also auch die neue. Einheit in Freiheit war die conditio sine qua non, unter der die Bundesrepublik ihre Politik der Wiedervereinigung betrieben hat. Der Erfolg hat ihr recht gegeben, denn mit der Wiedervereinigung hat sie genau die Freiheit bekommen, auf die es ihr immer ankam: staatliche Handlungsfreiheit, also Zugewinn an Macht. Und deshalb gilt heute mehr denn je in Europa, daß niemand sich diesem Freiheitsprogramm entziehen darf. Und wer es dennoch versucht, den lassen wir nicht mehr in Frieden: Genau darum geht es im Kosovo. (ders.)

In diesem Zusammenhang hat der Architekt des Einigungsvertrags eine Botschaft fürs Volk, speziell für die Bürger der neuen Länder. Angesichts des einen oder anderen Protestumzugs gegen Nato-Bomben sieht er sich zu staatsbürgerlicher Aufklärung veranlaßt, um etwaigen Mißverständnissen in Sachen Demokratie vorzubeugen: Militärische Gewaltanwendung bleibt als ultima ratio zur Wahrung von Frieden und Freiheit unverzichtbar. Als Kenner der Zonis hat er Verständnis dafür, daß manche Mitbürger sich mit der neuen Verantwortung schwertun: Wer wollte das nicht verstehen, wo man so lange nicht nur dem Zerrbild der Anti-Nato-Propaganda ausgesetzt war, sondern vor allem unter zuviel staatlicher Machtentfaltung gelitten hat. Daraus darf man allerdings nicht die verkehrte Lehre ziehen, denn zuwenig ist so falsch wie zuviel, sondern nur die richtige: staatliche Machtentfaltung bleibt notwendig. Freilich, um den Sinn dieser Dialektik ganz zu verstehen, bedarf es noch einer Ergänzung. Die Macht, unter der unsere neuen Mitbürger so zu leiden hatten, war das verkehrte Deutschland, ein Unrechtsstaat, dessen Machtentfaltung in jedem Fall ein „zuviel“ ist. Heute dagegen werden sie vom richtigen Deutschland regiert, der legitimen demokratischen Macht, von der es gar nicht genug und schon gar kein „zuviel“ geben kann.

So erfährt das neu erworbene Volk, was es von seinem neu erworbenen Staat zu erwarten hat, und kann sich ein Urteil darüber bilden, ob das ein gerechter Tausch war: das neue mächtige Deutschland ist die „blühende Landschaft“, die den Zonis versprochen wurde, und die Ehre, das Fußvolk dieser Macht zu sein, ist der Lohn für ihren Kampf um die „Freiheit“. Oder in den Worten des Baumeisters der Einheit: Weil alle die Freiheit wollten, gab es 1989 nur Sieger. Jetzt, zur Reichstagseröffnung, sieht man, wie recht der Mann hat.

5. „Eine Kuppel über Berlin – Dom der Demokratie“

Zwei Tage lang ist die Nation wild entschlossen, den neuen Reichstag einfach gut finden. Die politische Prominenz, die Vertreter der Medien und natürlich die Berliner selbst, sie alle können nicht umhin, ein einheitliches dickes Lob auszusprechen: Groß und doch nicht monumental, viel Licht und Transparenz, moderne und traditionelle Elemente behutsam zusammengefügt, dazu die Kuppel, ein echtes Wunderwerk usw. Auch darin lag wieder eine tiefe Symbolik: Im Lob des Gesamtkunstwerks feiert die Nation sich selbst und beglückwünscht sich dafür, was für eine rundum gelungene Sache sie doch sei.