Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Endlich! – Bundestag nimmt Reichstag in Besitz
Der Umzug nach Berlin, mag er auch noch so viel kosten, muss sein. Denn Berlin ist ein Symbol: Für eine verheerende Niederlage, aus der Deutschland sofort den Anspruch auf eine totale Revision des Kriegsergebnisses abgeleitet hat und darin siegreich war – DDR kaputt, Deutschland ganz. So ist Berlin das Symbol für die Kontinuität der deutschen Macht, deren Ansprüche heute eine ganz andere Wucht besitzen als die zweimal gescheiterte Großmachtpolitik vergangener Berlins!
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- 1. „Berlin ist von nun an die politische Metropole Deutschlands“
- 2. „Wir wollen keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst unaufgeregten, ja geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin.“
- 3. „Wir werden auch in Berlin die Bundesrepublik sein und bleiben“
- 4. „So ist unsere Bundesrepublik erwachsen geworden, uneingeschränkt souverän. Wer aber Rechte hat, hat auch Pflichten.“
- 5. „Eine Kuppel über Berlin – Dom der Demokratie“
Endlich! – Bundestag nimmt Reichstag in Besitz
Am 19. April tagt der deutsche Bundestag zum ersten Mal im umgebauten Berliner Reichstagsgebäude. Die Vertreter und Führer des Volkes nutzen die erste Plenarsitzung, um der Nation die Bedeutung dieses Ereignisses zu erläutern.
1. „Berlin ist von nun an die politische Metropole Deutschlands“
Zehn Jahre nach dem Ende der Teilung geht die deutsche Regierungsgewalt also wieder von Berlin aus, der alten und neuen Hauptstadt. „Ein großer Moment für Deutschland“ – „ein bewegender Moment“ für alle. Für alle Nationalisten jedenfalls, die die Nation regieren. Denn Berlin ist ein Symbol unserer Geschichte.
– Und zwar zunächst, wir erinnern uns nur ungern, das Symbol für eine verheerende Niederlage, die Deutschland bei seinem letzten Versuch einstecken mußte, die ihm zustehende Größe durch einen ehrgeizigen Waffengang gegen den Rest der Welt zu erkämpfen. Zwar wurde, wie man hört, damals auch der „Faschismus besiegt“, und das Volk von der Naziherrschaft „befreit“; doch echte Freude und Erleichterung wollten nicht so recht aufkommen. Die geläuterte Bonner Republik, darüber herrschte unter den neuen Führern parteiübergreifende Einigkeit, war das Dokument eines unübersehbaren Machtverlustes, den die schönste Demokratie nicht aufwiegen konnte. Nicht nur daß Deutschland ziemlich verwüstet war, eine ganze Hälfte des verwüsteten Landes stand auch noch unter fremder „Besatzung“, so daß die neu geschaffene Bundesrepublik von Anfang an unter dem Geburtsfehler litt, daß ihre Führer ein „Provisorium“ regieren mußten, mit eingeschränkten Souveränitätsrechten. Wie sehr ihre Rechte eingeschränkt waren, konnten die Regierenden schon daran ersehen, daß sie selber in einem „Provisorium“ namens Bonn hockten, während die alte Metropole – „geteilt“ und einem Viermächtestatut unterstellt – mitten im Feindesland lag. Das hatte allerdings auch sein Gutes:
– Das „geteilte“ Berlin, genauer gesagt: die bessere Hälfte, wurde zum „Vorposten der freien Welt“. Dieses zweite Geschenk der Westalliierten, die nun unsere Freunde waren, hat die Republik kräftig genutzt. Denn mit der Rede vom Bonner „Provisorium“ war nicht nur das Leiden an der zurechtgestutzten Macht ausgedrückt, sondern zugleich der politische Wille als Staatsräson definiert, die „Teilung“ nicht hinzunehmen, sich also mit der erlittenen Niederlage auf keinen Fall abzufinden. Unter dem atomaren „Schutzschirm“ der USA und mit der Nato-Militärmacht im Rücken wurde und hat sich die Verlierernation zum Frontstaat aufgerüstet, der im supranationalen Bündnis eine vierzig Jahre dauernde Politik der Abschreckung und der Nichtanerkennung des Status quo betrieben und damit seiner nationalen Forderung nach Wiederherstellung seiner „Einheit“ Glaubwürdigkeit verliehen hat. Berlin wurde zur Frontstadt im Kalten Krieg, ein ständiger Stachel und „Pfahl im Fleische“ der DDR – und war damit schon wieder ein Symbol: diesmal für die „Unteilbarkeit der Nation“ und ihren unbeugsamen Willen, das ihr angetane „Unrecht“ nicht gelten zu lassen; ein Symbol also für die Frechheit des Verlierers, der aus seiner totalen Niederlage den Anspruch auf totale Revision der Kriegsergebnisse abgeleitet hat – gegen die östliche Siegermacht, die immerhin eine furchtgebietende Atommacht war.
– Der zähe Kampf, in dem sich die Machthaber der
„geteilten Nation“ von keiner Blockade und Drohung „der
Sowjets“ abschrecken ließen und auch selber vor keiner
Provokation und absichtsvoll inszenierten „Krise“
zurückschreckten, hat sich gelohnt. Das Bonner
„Provisorium“ hat von seiner „Westintegration“ – der
Teilnahme am ökonomischen und politisch-militärischen
Bündnisimperialismus des Westens – profitiert und soviel
Reichtum und Macht akkumuliert, daß die zweite Weltmacht
in Gestalt ihres letzten kommunistischen Vorsitzenden
schließlich „einsehen mußte“, daß man Politik nicht
gegen die Geschichte
(H.
Kohl) machen kann. Sie hat der Weltkriegsdrohung
der Nato ebenso wie dem unversöhnlichen Revanchismus der
Bundesrepublik nachgegeben und nach ihren „Vasallen“ auch
ihr letztes „Faustpfand“, die DDR, geopfert, in der
Hoffnung, die Feindschaft des Westens und seines
fanatischen Vorpostens loszuwerden. Schauplatz der
epochalen Wende war natürlich einmal mehr die alte
Hauptstadt: Das Brandenburger Tor, Inbegriff der
„Teilung“, wurde geöffnet, dann fiel die Mauer, der Rest
ist bekannt. So wurde Berlin endlich zu dem
Symbol, als das es schon immer anvisiert war – für den
Sieg der Nation: DDR kaputt, Deutschland ganz,
Revision gelungen. Für die Führungselite der Nation war
es da nicht nur eine politische Selbstverständlichkeit,
sondern nachgerade nationale Pflicht, auch die
Hauptstadtfrage zu entscheiden, die natürlich keine
ernsthafte Frage sein konnte. Ausgerechnet nach der
erfolgreichen Wiedervereinigung am Bonner „Provisorium“
festzuhalten, wäre ja wohl die verkehrteste Lehre aus der
Geschichte gewesen. Daher haben sie sich in einer der
großartigsten – auf „höchstem Niveau“ geführten –
Debatte, die der Bundestag je erlebt hat, für Berlin
entschieden. Und heute, nachdem der „Bundestag im
Reichstag“ sitzt, läßt sich endgültig ermessen, wie
wichtig und richtig diese zukunftsweisende Entscheidung
war.
– Denn Berlin steht nun – die Feierstunde zeigt es – als Symbol für die Kontinuität deutscher Macht. Die ist wiederhergestellt, wenn auch noch lange nicht fertig. Während nämlich der rundum „gelungene“ Umbau des Reichstags mit seiner „Verknüpfung von Tradition und Moderne“ zweifellos das Sinnbild einer wunderbaren Erfolgsstory ist, sehen sich die politischen Architekten der Nation mit dem erreichten Status quo deutscher Macht längst vor „neuen Herausforderungen“.
Ändert sich nun etwas, weil die Regierung den Ortswechsel vom Rhein an die Spree vollzieht? Mit dem Umzug natürlich nicht. Aber daß sich die Machtverhältnisse in Europa gründlich verschoben haben, und Deutschland die neue „Mitte Europas“, also die dominierende europäische Zentralmacht ist, darf und muß anläßlich des Umzugs unbedingt gesagt werden. Und zwar – das ist sich die politische Elite der Nation einfach schuldig – in Form von lauter ehrlich gemeinten Dementis, deren Botschaft an Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt.
2. „Wir wollen keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst unaufgeregten, ja geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin.“
Der Erste Vorsitzende des Parlaments sieht sich
veranlaßt, die von allen maßgeblichen Figuren der
Republik geteilte und deswegen demonstrativ
herausgestellte nationale Bedeutung des Umzugs mit der
„Beschwichtigungsformel“ zu erläutern, daß der
„selbstverständliche“ Ortswechsel von Regierung
und Parlament selbstverständlich keinen politischen
Richtungswechsel einleitet. Als ob sie genau
darauf gewartet hätte, greift die Öffentlichkeit dieses
Bekenntnis zur Kontinuität und Verläßlichkeit deutscher
Politik dankbar und fast erleichtert auf und verkündet
zufrieden, daß der Bezug des Reichstags doch tatsächlich
ohne Tschingderassabum
vonstatten gegangen sei,
in aller Ruhe, gelassen, geschäftsmäßig und ohne
Pomp
; und daß sogar die Veranstalter selber in ihren
Reden einen ganz unfeierlichen
, ja sogar
zivilen Ton
(FR,
20.4.) angeschlagen hätten.
Hatte man etwa erwartet oder befürchtet, daß die erste
Plenarsitzung in Berlin von einer pompösen Militärparade
auf dem Kudamm begleitet würde? Hatte man mit der
Ankündigung des Kanzlers gerechnet, daß sich Resteuropa
nun auf einiges gefaßt machen könnte? Hatte man natürlich
nicht. Wovon das heutige Deutschland sich
unterscheidet und womit es sich
folglich vergleicht, ist mit dem Bekenntnis zur
„Normalität“ deutscher Politik allerdings schon
ausgesprochen; daß die Nation bei ihrer
traditionsbewußten Nabelschau ihr „ziviles“ Auftreten so
penetrant herausstreicht, sagt immerhin soviel, daß
Deutschland seine gewachsenen Ansprüche auch anders
anmelden könnte. Deswegen folgt postwendend das Dementi:
Man sage nicht, die Rückkehr von Parlament und
Regierung nach Berlin sei ein Rückfall in schlimmste
deutsche Geschichte… Es ist nicht das Wiederanknüpfen an
preußisch-deutsche Großmachtphantasien.
(Thierse) Bemerkenswert ist es also schon
– wenn auch in ganz anderer Hinsicht, als es die
öffentliche Selbstdarstellung bezweckt –, was dem
Parlamentspräsidenten da stellvertretend für die
anwesende Politikerriege zu Berlin einfällt: Ein
Bekenntnis zur Arbeiterbewegung, immerhin ja auch eine
„Tradition“ Berlins, ist dem Wende-Bürger des ehemaligen
Arbeiter- und Bauernstaates jedenfalls nicht in den Sinn
gekommen; und die Versicherung, daß es nie wieder einen
„Rückfall in schlimmste deutsche Geschichte“ geben werde,
hat weiß Gott niemand so interpretieren können, daß damit
das Hauen und Stechen der alten Berliner Republik etwa
bei der Niederschlagung kommunistisch oder sozialistisch
infizierter Volksmassen gemeint sein könnte. Ihm und
allen anderen unaufgeregten Festrednern ist beim
Stichwort Berlin einmal mehr genau das eingefallen, was
zu den anspruchsvollen Ambitionen des modernen
Deutschland paßt: die Tradition des deutschen
Imperialismus. Entgegen dem Gerücht, daß sie
sich von dem distanziert hätten, haben ihre Dementis nur
ein Thema variiert: den Erfolgsmaßstab, der den Stoff
aller nationalen Ehrenfragen bildet.
Nichts können Nationalisten nämlich weniger leiden als
„Großmachtphantasien“, die Phantasien
bleiben. Nationalen Aufbruchsprogrammen, die
sich als Debakel erwiesen, die die anvisierten Ziele
nicht nur verfehlt, sondern geradezu ins Gegenteil
verkehrt haben, entziehen sie ihren Respekt. Was mit dem
Tenor verantwortungsbewußter Zurückhaltung der neuen
Republik daherkommt und auch so verstanden sein will, ist
die Absage an eine gescheiterte deutsche
Großmachtpolitik, die sich als Karikatur
imperialistischen Erfolgs blamiert hat. Auf so verkehrte
Weise groß werden zu wollen, das verkünden die Macher von
heute, passiert uns nicht wieder! Erst das wilhelminische
Kaiserreich, dann Hitler; zweimal schiefgelaufen. Wer
wollte an so etwas „anknüpfen“! Eine Nation, die
offensichtlich gute Gründe zur Zufriedenheit hat,
jedenfalls nicht. Mindestens genauso gute Gründe hat sie
allerdings, ihre bisherige Erfolgslage als ungenügend
anzusehen und selbstbewußt auf ihren Bedeutungswandel,
den mit der Wiedervereinigung erreichten Zugewinn an
Macht, zu pochen. Daß Deutschlands Gewicht und Bedeutung
gewachsen ist, ist seinen Machthabern ebenso klar wie die
Richtung ihres künftigen Erfolgswegs. Sie haben aus der
Geschichte gelernt und die Lehre aus ihr gezogen, daß
„nationale Alleingänge“ gegen den Rest Welt nichts
taugen, wenn sie die eigenen Fähigkeiten übersteigen:
Niemals mehr allein, das ist die Lehre unserer
Geschichte und zugleich unsere Chance
(Schäuble). Das ist das Erfolgsrezept:
Deutschlands Rechte und Interessen auf eigene Faust
durchzufechten und dabei das Risiko des Scheiterns
einzugehen, kommt nicht mehr in Frage; die Nation ist
fest entschlossen, nie wieder auf der Verliererseite,
sondern für alle Zukunft auf der Seite der Sieger zu
stehen.
So wie jetzt in Jugoslawien, wo die aus historischer
Erfahrung klug gewordene Bundesrepublik sich entschieden
hat, an der Seite ihrer Nato-Verbündeten den ersten
aktiven Kampfeinsatz ihrer Bundeswehr zu befehlen:
Nicht gegen unsere Nachbarn, sondern mit unseren
europäischen Nachbarn, haben die Deutschen den
schmerzlichen Entschluß gefaßt, sich an einer
militärischen Aktion zu beteiligen…
(Thierse). Daß auch dieser Krieg
gegen einen „unserer Nachbarn“ geht, ist für den
Mann deswegen so unerheblich, weil die
überlegene Gewalt des Bündnisses die rein
moralische Qualität des Waffengangs
unterstreicht. Nicht aus nationalem Egoismus und schon
gar nicht mit Begeisterung ziehen wir diesmal in den
Krieg, sondern aus Verantwortung, die die Geschichte uns
– neben dem Geschenk der Wiedervereinigung – als neue
Last aufgebürdet hat. Im Stil der ideologischen Phrasen
der alten Republik, die ihre ziemlich unbescheidenen
globalen Interessen mit der Attitüde weltpolitischer
Zurückhaltung gepflegt hat, skizziert der in Dialektik
und Geschichte geschulte Ossi die neue Handlungsfreiheit
der wiedervereinten Nation wie eine neue Tragik –
allerdings auf deutlich höherem Niveau: Es gibt einen
Zusammenhang von geradezu tragischer geschichtlicher
Dialektik: Die Wiederkehr eines gesamtdeutschen
Parlaments nach Berlin und der Krieg um das Kosovo haben
eine gemeinsame Ursache – das Ende des Kommunismus.
(Thierse) So weiß man also
erstens, wofür der Kommunismus gut war: Die
einst von den Kommunisten aufgestellte Alternative –
„Sozialismus oder Barbarei“ – wird von der
kriegsträchtigen postkomunistischen Ära nicht bloß in
Europa eindrucksvoll bestätigt. Zweitens weiß man jetzt
aber auch, wofür das Ende des Kommunismus gut
war. Nicht nur, daß Berlin wieder die Hauptstadt ist,
Deutschland muß und darf auch wieder bomben. Wer hätte
das vor zehn Jahren für möglich gehalten?
3. „Wir werden auch in Berlin die Bundesrepublik sein und bleiben“
Was denn auch sonst, möchte man meinen. Allerdings, in
der Politik haben auch Sätze, die wie Platitüden klingen,
so ihre Bedeutung. Wenn ausgerechnet der Regierungschef
sich zum Status quo bekennt, kann man darauf rechnen, daß
er an dessen Veränderung denkt. Dem Kanzler ist
nämlich klar, daß die Nation schon deshalb nicht so
bleiben kann, wie sie ist, weil sie ohnehin
nicht mehr das ist, was sie einmal war: In den
vergangenen Wochen hat sich dramatisch vollzogen, was als
neue deutsche Verantwortung im Grunde seit Ende des
Kalten Krieges und der staatlichen Einigung Deutschlands
absehbar war. Es ist Zeit, dies auch auszusprechen.
Daß die Reichstagseröffnung zufällig in die Zeit fällt,
in der die fertige Nation wieder ihren ersten Krieg
führt, ist für den Kanzler ein schlagender Beleg für die
symbolische Bedeutung von Berlin als neuer Hauptstadt.
Denn da gibt es eine interessante Entdeckung, die den
„dramatischen“ Unterschied zwischen damals und heute
offenlegt. Während das geteilte Berlin „schmerzlich“
daran erinnerte, daß die alte Bundesrepublik das Projekt
einer Staatsgründung von außen war – also mehr gegründet
wurde –, steht das neue Berlin dafür, daß bei
allen aktuellen und künftigen Projekten Deutschland zum
Kreis derjenigen Mächte zählt, die allein befugt sind,
über Staatsgründungs- und andere Ordnungsfragen zu
entscheiden. Damals haben andere Verantwortung
übernommen und „uns“ eine Demokratie verpaßt. Heute
belegen die Bomben auf Jugoslawien genauso wie die Kuppel
auf dem Reichstag unsere Verantwortung und
Zuständigkeit, zusammen mit unseren Nachbarn in der
weiteren Nachbarschaft für Demokratie und Menschenrechte
zu sorgen: Es geht um den Gründungsakt für ein Europa
der Menschen und der Menschenrechte. Und die
Notwendigkeit eines solchen Gründungsaktes gilt
insbesondere für unser Land nach der Vereinigung.
So braucht der Kanzler gar nicht anzukündigen, was die neue Republik alles vorhat – das wird man beizeiten schon sehen; daß Deutschland aber in jedem Fall zu den politisch gewichtigen Subjekten gehört, wenn es um die Gestaltung Europas auf dem Balkan und anderswo geht, ist die Quintessenz der neuen Lage, die es endlich – und zwar auch etwas unbefangener als der Kollege Thierse – „auszusprechen“ gilt. Und diese neue Rolle ist es, die das Regieren von Berlin aus so schön macht.
4. „So ist unsere Bundesrepublik erwachsen geworden, uneingeschränkt souverän. Wer aber Rechte hat, hat auch Pflichten.“
Berlin Regierungssitz, Deutschland „erwachsen“. Mit seiner Bildersprache beweist der Oppositionsführer seinen staatsmännischen Weitblick: Die Erfolgsstory einer Nation, die über eine 500000-Mann-Armee verfügt und ihre strategische „Vorneverteidigung“ tief im Hinterland des Feindes, der Weltmacht Nr. 2, geplant hat; einer Nation, deren Kapitalstandort Europa seinen Stempel aufgedrückt hat, und deren gutes Geld ein international begehrtes Geschäftsmittel ist; einer Nation, die aus „Ruinen auferstanden“ ist, es zum „Exportweltmeister“ und „ökonomischen Riesen“ gebracht hat, und nebenher alles andere war als ein „politischer Zwerg“ – eine solche Erfolgsstory erklärt der Mann zur infantilen Phase der Republik. Nicht, daß er einen speziellen Mangel der alten Republik benennen wollte – außer, daß sie nun einmal unfertig war –, er deutet vielmehr vierzig Jahre erfolgreichen deutschen Imperialismus und eine zu jedem Weltkriegsrisiko bereite Politik der atomaren Abschreckung so, als habe die Bundesrepublik in einer Nische der Geschichte herumgestanden, behütet und gehätschelt, während andere für das „Kind“ die Kohlen aus dem Feuer geholt hätten. Was darf man da erst von der „erwachsenen“ Republik erwarten?
Zumindest die Einhaltung ihres Versprechens, daß sie die
neue Verantwortung in aller gebotenen Freiheit wahrnehmen
wird; denn wer neue Rechte hat, hat auch die Pflicht, sie
sich zu nehmen. Selbstverständlich darf auch für diese
zwingende Schlußfolgerung aus der Geschichte – wie
überhaupt für alle „Lehren“, die an diesem Ehrentag der
Nation auf den Tisch gelegt wurden – der Umzug in den
Reichstag herhalten: Für die Freiheit steht als Symbol
der Reichstag. Und für die Freiheit steht Berlin.
Deswegen mußte für mich Berlin auch Sitz von Parlament
und Regierung werden.
(Schäuble) Nun sitzen sie also in Berlin,
das als ehemals geteilte Stadt wie kein anderes Symbol
dafür prädestiniert ist, die „Unteilbarkeit von
Frieden und Freiheit“ zu belegen. Die alte Parole, daß es
Frieden nur zu den Bedingungen der Freiheit, also zu den
Konditionen der imperialistischen Demokratien gibt, ist
also auch die neue. Einheit in Freiheit war die conditio
sine qua non, unter der die Bundesrepublik ihre Politik
der Wiedervereinigung betrieben hat. Der Erfolg hat ihr
recht gegeben, denn mit der Wiedervereinigung hat sie
genau die Freiheit bekommen, auf die es ihr
immer ankam: staatliche Handlungsfreiheit, also
Zugewinn an Macht. Und deshalb gilt heute mehr
denn je in Europa, daß niemand sich diesem
Freiheitsprogramm entziehen darf. Und wer es dennoch
versucht, den lassen wir nicht mehr in Frieden: Genau
darum geht es im Kosovo.
(ders.)
In diesem Zusammenhang hat der Architekt des
Einigungsvertrags eine Botschaft fürs Volk, speziell für
die Bürger der neuen Länder. Angesichts des einen oder
anderen Protestumzugs gegen Nato-Bomben sieht er sich zu
staatsbürgerlicher Aufklärung veranlaßt, um etwaigen
Mißverständnissen in Sachen Demokratie vorzubeugen:
Militärische Gewaltanwendung bleibt als ultima ratio
zur Wahrung von Frieden und Freiheit unverzichtbar.
Als Kenner der Zonis hat er Verständnis dafür, daß
manche Mitbürger
sich mit der neuen Verantwortung
schwertun
: Wer wollte das nicht verstehen, wo
man so lange nicht nur dem Zerrbild der
Anti-Nato-Propaganda ausgesetzt war, sondern vor allem
unter zuviel staatlicher Machtentfaltung gelitten
hat.
Daraus darf man allerdings nicht die verkehrte
Lehre ziehen, denn zuwenig ist so falsch wie
zuviel
, sondern nur die richtige: staatliche
Machtentfaltung bleibt notwendig
. Freilich, um den
Sinn dieser Dialektik ganz zu verstehen, bedarf es noch
einer Ergänzung. Die Macht, unter der unsere neuen
Mitbürger so zu leiden hatten, war das verkehrte
Deutschland, ein Unrechtsstaat, dessen Machtentfaltung in
jedem Fall ein „zuviel“ ist. Heute dagegen werden sie vom
richtigen Deutschland regiert, der legitimen
demokratischen Macht, von der es gar nicht genug und
schon gar kein „zuviel“ geben kann.
So erfährt das neu erworbene Volk, was es von seinem neu
erworbenen Staat zu erwarten hat, und kann sich ein
Urteil darüber bilden, ob das ein gerechter Tausch war:
das neue mächtige Deutschland ist die „blühende
Landschaft“, die den Zonis versprochen wurde, und die
Ehre, das Fußvolk dieser Macht zu sein, ist der
Lohn für ihren Kampf um die „Freiheit“. Oder in den
Worten des Baumeisters der Einheit: Weil alle die
Freiheit wollten, gab es 1989 nur Sieger.
Jetzt, zur
Reichstagseröffnung, sieht man, wie recht der Mann hat.
5. „Eine Kuppel über Berlin – Dom der Demokratie“
Zwei Tage lang ist die Nation wild entschlossen, den neuen Reichstag einfach gut finden. Die politische Prominenz, die Vertreter der Medien und natürlich die Berliner selbst, sie alle können nicht umhin, ein einheitliches dickes Lob auszusprechen: Groß und doch nicht monumental, viel Licht und Transparenz, moderne und traditionelle Elemente behutsam zusammengefügt, dazu die Kuppel, ein echtes Wunderwerk usw. Auch darin lag wieder eine tiefe Symbolik: Im Lob des Gesamtkunstwerks feiert die Nation sich selbst und beglückwünscht sich dafür, was für eine rundum gelungene Sache sie doch sei.