Ein Dorado für Investoren, ein Hort von Armut, Korruption und Terror: Kein Paradox
Die Bundesrepublik Nigeria
Mit der islamistischen Bewegung Boko Haram hat die Welt eine neue Schreckensgestalt im Herzen Afrikas kennen gelernt, die mit ihren Taten nicht nur für zahlreiche Opfer vor Ort, sondern auch für weltweites Entsetzen sorgt. Auf ihr Konto gehen nicht nur etliche Anschläge in Nigeria – nicht zuletzt die Entführung von mehr als zweihundert Schulmädchen im April diesen Jahres – und in Kamerun; im Norden Nigerias hat Boko Haram inzwischen auch immer mehr Ortschaften und Landstriche erobert und ein Kalifat ausgerufen.
Aus der Zeitschrift
Teilen
Systematischer Katalog
Ein Dorado für Investoren, ein Hort von Armut, Korruption und Terror: Kein Paradox
Die Bundesrepublik Nigeria
Mit der islamistischen Bewegung Boko Haram hat die Welt eine neue Schreckensgestalt im Herzen Afrikas kennen gelernt, die mit ihren Taten nicht nur für zahlreiche Opfer vor Ort, sondern auch für weltweites Entsetzen sorgt. Auf ihr Konto gehen nicht nur etliche Anschläge in Nigeria – nicht zuletzt die Entführung von mehr als zweihundert Schulmädchen im April diesen Jahres – und in Kamerun; im Norden Nigerias hat Boko Haram inzwischen auch immer mehr Ortschaften und Landstriche erobert und ein Kalifat ausgerufen.
Im Zusammenhang mit Boko Haram wird von bittersten Elendszuständen im Norden Nigerias, von „grassierender Korruption“ unter den Politikern vor Ort, in der Hauptstadt und überhaupt im ganzen Land berichtet. In Fernsehreportagen und Amnesty-International-Berichten erfährt man vom nicht minder wüsten Vorgehen der zur Terrorbekämpfung eingesetzten Armee; die Ortsansässigen werden durch den bewaffneten Arm der Staatsmacht ebenso terrorisiert, wie durch die Terroristen, die er bekämpft. Gleichzeitig wissen Kenner zu berichten, dass Boko Haram von den lokalen Regierungsmannschaften für ihren Streit mit der Zentralregierung funktionalisiert wird. Ihre Fähigkeit, sich dem Zugriff der Armee weitgehend zu entziehen, lässt einheimische wie auswärtige Beobachter an Willen und Fähigkeit der Zentralregierung zweifeln, im Land für Ordnung zu sorgen.
Die hiesige Öffentlichkeit sieht in all dem ein besorgniserregendes Zeichen für das Entstehen eines weiteren „failing state“ in Schwarzafrika. Die einschlägigen Berichte überbieten sich in Metaphern für den dramatischen Zustand des Landes: Vom Tanzen am Abgrund
bis zur fertigen Diagnose des Scheiterns Dieses Haus ist zusammengebrochen
ist alles im Angebot. Andererseits erfährt derselbe Staat eine gehörige Wertschätzung von Seiten der Wirtschaftsexperten: Bei diesem „failing state“ handelt es sich nicht nur um den größten Ölexporteur Afrikas, sondern auch, so wird lobend berichtet, um eine Volkswirtschaft, die seit Jahren um durchschnittlich 7 % wächst und inzwischen Südafrika von seinem Spitzenplatz in der Rangliste der größten Volkswirtschaften Afrikas verdrängt hat. Das Land hat zwar eine der schlimmsten Armutsraten der Welt, laut der Mutter aller Investmentbanken aber auch das ökonomische Potenzial, ein zweites China
(Goldman Sachs) zu werden. Nigeria gilt als schlafender Riese
(Der Spiegel) bzw. gefesselter Riese
(Handelsblatt), der seit geraumer Zeit die globalen Beratungsunternehmen zu optimistischen Prognosen veranlasst: Nach den asiatischen Tigern kommt jetzt der afrikanische Löwe!
Für das vielzitierte Nebeneinander von großem Reichtum und noch größeren Reichtumspotenzen auf der einen, flächendeckendem Elend und zunehmendem Staatsverfall auf der anderen Seite hat sich unter journalistischen Beobachtern die Chiffre Paradox
eingebürgert. Wie kann ein mit „natürlichen Reichtümern“ so gesegnetes Land gleichzeitig so arm und so verkommen sein? Diese Frage kommt immer dann auf, wenn Nigeria wieder einmal für Negativschlagzeilen sorgt – sei es anlässlich der flächendeckenden Verseuchung des Nigerdeltas, anlässlich der periodischen Choleraausbrüche oder eben anlässlich des Terrors von Boko Haram. Die stereotype Antwort lautet, die schreienden Missstände lägen am generellen Versagen der politischen Klasse, an allumfassender Korruption
, schlechter Regierungsführung
und am mangelnden politischen Willen
der nigerianischen Politiker, besser zu regieren.
Von wegen!
Marktwirtschaft in Nigeria: viel natürlicher Reichtum, wenig kapitalistische Benutzung
Ein Ölstaat …
Nigerias Machthaber herrschen über ein Land, das mit sehr viel „natürlichem Reichtum“ gesegnet ist, nämlich mit dem Energieträger der modernen kapitalistischen Wirtschaft, mit Öl, das in Nigeria, vor allem in den Sumpfgebieten des Nigerdelta und im Golf von Guinea, massenhaft gefördert wird.[1] Doch wenn das Land in den einschlägigen Berichten unter der Rubrik „Ölstaat“ geführt wird, dann geht es dabei um etwas anderes, nämlich um die Art und Weise, wie dieses Land und seine Herrschaft an den Reichtum kommen, auf den es in der modernen, globalen kapitalistischen Marktwirtschaft ankommt: an Geld. Das ist nämlich der wahre „Reichtum der Nationen“: verdinglichte Zugriffsmacht auf alle Mittel der Produktion und Konsumtion inklusive der Arbeit; für seine Vermehrung sind alle natürlichen und produzierten Reichtümer und auch die Leute bloße Mittel. Und wenn die Erlöse aus dem Ölexport für Nigeria nicht einen Posten unter anderen in der nationalen Bilanz darstellen, sondern 70 % bis 80 % der nigerianischen Staatseinnahmen und 95 % seiner Deviseneinnahmen aus dem Ölexport stammen, dann heißt das: Produktiv in diesem Sinne, nämlich ein Mittel für die Mehrung des nationalen Geldreichtums, ist das nigerianische Öl nicht dadurch, dass es in Nigeria selbst als ein Element eines Wirtschaftslebens fungiert, das die Produktion von Geldüberschüssen zum Zweck hat und dafür taugt.[2] Zu einem kapitalistischen Geschäftsmittel wird das Öl dadurch, dass es das Land per Export verlässt und in den Händen von auswärtigen Abnehmern landet, die mit ihrer kapitalistischen Produktion einen Geldüberschuss erzielen. Der „Ölstaat“ lebt ökonomisch von seinen Lieferdiensten für einen Weltmarkt, dessen Geldreichtum nicht bei ihm, sondern in den Zentren der kapitalistischen Marktwirtschaft zustande kommt; für diesen Dienst wird Nigeria aus den Erträgen auswärtiger Akkumulation von Kapital alimentiert.
In dieser dienstbaren Rolle haben sich die jeweiligen Machthaber Nigerias seit der politischen Unabhängigkeit des Landes eingerichtet. Durch alle militärischen und demokratischen Regierungswechsel, alle Putsche und Gegenputsche hindurch haben sie verlässlich mit den Ölmultis aller Herren Länder kooperiert. Was es für das Geschäft mit dem Abtransport des Öls an Infrastruktur in weitestem Sinne braucht, wird hingestellt – mit einem nicht unwesentlichen Eigenbeitrag der ausländischen Multis selber: Die bauen Verkehrswege, sorgen für die nötige Stromversorgung und bezahlen – nicht zuletzt – Ordnungskräfte für den Schutz ihres Eigentums. Auch bei der partiellen Nationalisierung des Ölgeschäfts haben sich nigerianische Regierungen nie gegen die auswärtigen Nutznießer dieses Geschäfts gerichtet – mit Ausnahme der vorübergehenden Verstaatlichung von BP, weil das Unternehmen die Antiapartheid-Sanktionen unterlief. Die graduelle Ausweitung des staatlichen Anspruchs auf Kontrolle über das Ölgeschäft war stets nur auf eine höhere finanzielle Beteiligung bedacht; aber selbst in dieser Hinsicht haben sich die nigerianischen Machthaber stets kompromissbereit gezeigt.[3]
Komplementär zu dieser Pflege ihrer entscheidenden Reichtumsquelle behandeln die nigerianischen Staatsagenturen die Bevölkerung als das, was sie für den Staat ist, nämlich in ihrer allergrößten Mehrheit schlicht überflüssig für das gedeihliche Funktionieren des Außengeschäfts, aus dem die politische Herrschaft die Mittel ihrer Macht bezieht. Zwar beherbergt Nigeria die größte Landwirtschaft Afrikas; sie „beschäftigt“ gut 60 % der Bevölkerung, trägt aber nur ca. 20 % zum Bruttoinlandsprodukt bei; fast die Hälfte dieses Beitrags kommt auf kleinsten Flächen zustande und wird gar nicht erst zu Markte getragen – ganz zu schweigen davon, dass diese Subsistenzwirtschaft Geld für die Staatskasse abwerfen würde. Im Gegenteil: Das Land ist nach wie vor nicht in der Lage, aus eigenen Mitteln die Ernährung des Volks zu gewährleisten, wendet einen Gutteil seiner Devisen für die Einfuhr von Nahrungsmitteln auf und firmiert als der Welt größter Reisimporteur. Davon wird die Bevölkerung aber – höflich gesprochen – auch nicht satt; das nackte Elend, das in manchen Regionen herrscht, kennt die Welt spätestens seit der Berichterstattung über die Wirkungsstätte von Boko Haram und über die Kämpfe zwischen Bauern und Hirten um die Nutzung noch brauchbaren Landes im „middle belt“.[4] Wegen der Verödung ganzer Landstriche und dem wachsenden Reichtum in den wenigen Geschäftszentren eskaliert die Landflucht. In einem gigantischen informellen Sektor
mühen sich findige Nigerianer ab, mit mehr oder weniger illegalem An- und Verkauf aller möglichen Güter einen bescheidenen Anteil am Reichtum in den Großstädten des Landes zu ergattern.[5] In ihrer großen Mehrzahl kommen sie nicht einmal in Sichtweite eines Lohnarbeitsverhältnisses, in dem sie sich mit viel Arbeit und einem geschäftsdienlich niedrigen Lohn für die Produktion des nationalen Reichtums nützlich machen könnten.[6] Was sie in Gestalt ihrer elenden Lebensverhältnisse praktisch zu spüren bekommen, ist das weltweit gesehen gar nicht so unübliche marktwirtschaftliche Pech, auf eine solche Benutzung angewiesen zu sein, aber nicht gebraucht zu werden. Und was die Volksteile betrifft, die auf dem Territorium leben, das für die Ölförderung gebraucht wird, die den Boden bestellen, unter dem das Öl lagert, oder im Sumpfgebiet fischen, aus dem das Öl gepumpt wird, so sind ihre Existenznotwendigkeiten ein einziges Hindernis für die Bereicherung der Nation. An der entsprechenden Rücksichtslosigkeit haben die nigerianischen Amtsinhaber es deshalb nie fehlen lassen: Sie dulden die Ruinierung von Land und Leuten, die die Ölkonzerne mit ihrer Förderungstätigkeit im Nigerdelta anrichten,[7] und „neutralisieren“ jede Art von Widerstand, sei es schlicht durch gewaltsame Repression oder ergänzt um das Angebot an die Militanten, die Seiten zu wechseln und sich als Bewacher der Förderanlagen zu betätigen, statt sie zu attackieren.[8]
… und sein Leiden an seiner Reichtumsquelle
Mit diesem Elend können die nigerianischen Staatsmänner gut leben; das Ölgeschäft ernährt ja nicht zuletzt eine zwar kleine, aber sehr kaufkräftige Elite, deren Luxuskonsum eine Geschäftsgelegenheit für auswärtige Firmen bietet.[9] Zufrieden sind sie mit ihrer nationalen Reichtumsquelle aber noch lange nicht. Der amtierende Präsident Jonathan beklagt eine „exzessive Abhängigkeit vom Öl“ und pflichtet damit der von auswärtigen Experten erstellten Diagnose einer mangelnden „Diversifizierung“ der nigerianischen Ökonomie bei, deren Zustand journalistische Beobachter gerne mit der Metapher bebildern, Nigeria „hänge nach wie vor am Tropf der Ölindustrie“ (FAZ, 7.4.14). Vom Standpunkt des nigerianischen Staates ist der Mangel dieser Reichtumsquelle mit dem Wort „Abhängigkeit“ in der Tat nicht schlecht umschrieben. Denn wenn der Reichtum der Nation sich hauptsächlich dem Abtransport eines bloßen Naturstoffs für ein kapitalistisches Geschäftsleben verdankt, das anderswo beheimatet ist und betrieben wird, dann steht und fällt die ökonomische Potenz der Herrschaft mit einem Ölpreis, der ganz und gar vom Kalkül auswärtiger Geschäftemacher abhängt: Nicht bloß die Menge, sondern auch der Preis des verkauften Öls hängt von der Dringlichkeit der Nachfrage, also von den Konjunkturen des kapitalistischen Geschäftsgangs in den Zentren des Weltmarkts und den entsprechenden Kalkulationen der Kundschaft ab. Dem Lieferant dieses Naturstoffs, der darin seine einzige bedeutende Einkommensquelle hat, stellt sich daher die Frage eigentlich gar nicht, ob sich der Preis seines Öls für ihn lohnt. Dessen Höhe kann ein Exporteur wie Nigeria mit Steigerung oder Drosselung seines Verkaufs ohnehin kaum beeinflussen. Er muss sich mehr oder weniger mit dem zufrieden geben, was das kapitalistische Weltgeschäft für ihn abwirft: eine Abhängigkeit, die Nigeria seit Beginn seiner Karriere als Ölstaat in Gestalt der berüchtigten Preisschwankungen auf dem Ölmarkt erfährt.[10]
Was Nigeria in Gestalt dieser prekären Abhängigkeit vom Ölgeschäft praktisch zu spüren bekommt, ist der Mangel an dem kapitalistischen Reichtum, auf den es für eine Nation in der globalisierten Marktwirtschaft ankommt und der die verlässliche Grundlage staatlicher Macht im Kapitalismus bildet: eine lohnende Produktion von Geldreichtum im Land, die auf einer im nationalen Maßstab stattfindenden Ausbeutung von Arbeit beruht – das ist die Quelle des Reichtums, auf den es in der modernen kapitalistischen Staatenwelt ankommt. Wo massenhaft rentable Arbeit unter der Regie kapitalkräftiger Unternehmen stattfindet, da machen die auf einem heimischen Markt flächendeckend Gewinne; für ihre Gewinnemacherei tätigen sie wiederum Ausgaben, mit denen sie anderen Kapitalisten im Land etwas zu verdienen geben. Durch den Kauf von Rohstoffen, Vorprodukten und Produktionsmitteln, durch Lohnzahlungen an Arbeitskräfte, deren Arbeit sie für ihre Bereicherung anwenden, bestücken sie einen einheimischen Markt mit der Kaufkraft, an der sich andere Unternehmer mit ihren rentabel produzierten Waren erfolgreich bedienen können. So schaffen sie einen nationalen Kapitalkreislauf, in dem die konkurrierenden Geschäftemacher einander die benötigten Elemente für das Wachstum ihrer Geschäfte liefern – im Austausch gegen das Geld, mit dem sie einander ihre steigenden Erträge realisieren. Ein solches Geschäftsleben bietet dann auch die wachsende Basis für eine staatliche Macht, die sich – mit ihrem Steuerzugriff und ihrer Verschuldung – seiner Resultate bedient wie mit ihren Maßnahmen diese zugleich fördert. Und es stiftet zudem die Mittel dafür, den Weltmarkt ganz anders zu benutzen, als das Nationen wie Nigeria tun. Das kommt dann auch der nationalen Bilanz zugute. Und wenn dann auswärtige Kapitalisten ein Land mit dieser Sorte Geschäftsleben zu ihrem Anlageobjekt machen, dann machen auch die sich nicht bloß irgendeine Naturbedingung für ihre Akkumulation auswärts verfügbar, sondern exportieren Kapital, um am auswärtigen Standort zu akkumulieren: Indem sie sich auf diese Weise die ganze Welt als Geschäftsquelle erschließen – von Rohstoffen über fremde Arbeitskräfte bis hin zum Kreditbedarf auswärtiger Geschäftemacher und Staatsgewalten – tragen sie zugleich zur Akkumulation in den Ländern bei, an deren lohnenden nationalen Geschäftsbedingungen sie verdienen wollen. Sie hinterlassen dort nicht einfach Geld, sondern erweitern mit ihrem Kapital die Akkumulation im anderen Land; das nutzt auf diese Weise das Kapital der ganzen Welt als Mittel seines kapitalistischen Vorankommens.
Ambitionierte nigerianische Staatsmacher brauchen von dieser politökonomischen Wahrheit nichts zu wissen. Ihr Leiden an der laufend negativ erfahrenen einseitigen Abhängigkeit vom Ölgeschäft und der neidvolle Blick auf die ‚Industrieländer‘, in die sie ihr Öl verschiffen, reicht, um zu wissen, was ihnen fehlt: ein Geschäftsleben, das sie aus der einseitigen Abhängigkeit befreit und den Staat bereichert. Eine eigene, nationale Reichtumsproduktion soll her, die Land und Leute für den Reichtum und die Macht des Staates produktiv macht. Unter diesem Gesichtspunkt wird dann auch das Elend der nigerianischen Massen von Interesse – als eine einzige ungenutzte Potenz, die es zu mobilisieren gilt. Deswegen pflegen Nigerias Staatsagenten von jeher die Ambition, ihr Land mit den Erträgen aus dem Ölexport von dieser Ertragsquelle unabhängig zu machen, unternehmen immer wieder staatliche Anstrengungen, das in Gang zu setzen, was in der kapitalistischen Staatenwelt vornehm „Entwicklung“ genannt wird, und messen ihre einheimische Ökonomie vornehmlich daran, wie es um Größe und Wachstum des „non-petroleum sectors“ steht. An staatlichen Bemühungen, diese ‚Sektoren‘ zu erweitern, hat es in Nigeria nie gefehlt. Das prominenteste Beispiel ist der Beschluss der Militärregierung – begleitet von entsprechenden Ratschlägen der internationalen Finanzinstitutionen – Ende der 1970er Jahre, als der Ölpreis zwischenzeitlich exorbitant gestiegen war, ihre gewachsenen Finanzmittel für ein umfassendes „Entwicklungsprogramm“ einzusetzen: Im ganzen Land wurden Schulen gebaut; die Verkehrsinfrastruktur wurde massiv erweitert, zusammen mit dem Auf- und Ausbau ganzer Städte, die als zukünftige Geschäftszentren aufblühen sollten; im Norden wurden einige großangelegte Stahl- und Walzfabriken errichtet, und französische Autobauer wurden eingeladen, in der Mitte des Landes eine Autoproduktion aufzuziehen. Was die Militärregierung sich mit diesem Programm leistete, waren zunächst enorme Kosten, die eine entsprechend dimensionierte nationale Kapitalakkumulation dann rechtfertigen sollte. Was die an Entwicklung des Landes interessierten Politiker mit staatlichem Geldeinsatz gestiftet haben, waren ja erst einmal nur Bedingungen und Vorleistungen für eine kapitalistische Benutzung, bei der das Entscheidende fehlt: das auswärtige Kapital, das mit diesen Vorleistungen zum Investieren bewegt werden sollte. Es blieb Sache des Weltmarktkapitals, die neugeschaffenen Bedingungen nach seinem freien geschäftlichen Kalkül zu nutzen – oder nicht. Das hat die Regierung mit dem Einsatz ihrer Ölrente nicht in der Hand.
Eine nationale Akkumulation in der vom nigerianischen Staat nicht nur erwünschten, sondern mit seinen enormen Ausgaben schon vorweggenommenen Größenordnung ist darüber nicht in Gang gekommen. Die politischen Agenten eines ökonomischen Aufstiegs Nigerias haben vielmehr die Erfahrung gemacht, dass der kapitalistische Weltmarkt kein Mittel für solche nationalen Entwicklungsprojekte ist, dessen man sich mit einem gehörigen staatlichen Geldaufwand versichern kann, sondern ein weltweiter Konkurrenzkampf, in dem die entscheidenden Positionen längst von überlegenen Konkurrenten besetzt sind: zum einen von Unternehmen, die über eine Produktivität verfügen, gegen die auch mit den billigsten und willigsten Arbeitskräften nur schlecht anzukommen ist; zum anderen von Staaten, die auf ihrem Territorium längst über die florierende Kapitalakkumulation – mit „tiefen“ Märkten und Anlagemöglichkeiten aller Art – verfügen, die Nigeria erst herbeizuregieren sucht. Solche Staaten haben deswegen nicht nur eine ganz andere Finanzbasis für ihre politische Standortförderung als Länder wie Nigeria; sie haben auch die ökonomische und politische Macht, die Geschäftsbedingungen auf dem Weltmarkt im eigenen Interesse zu setzen. Konfrontiert mit dieser Konkurrenz hat sich Nigeria mit seiner Entwicklungsoffensive von seiner „exzessiven Abhängigkeit von Öl“ nicht ansatzweise emanzipieren können Statt dessen hat es sich eine weitere, nicht minder einschneidende Abhängigkeit eingehandelt: Mit dem Fall des Ölpreises auf dem Weltmarkt Anfang der achtziger Jahre blieben nämlich nicht nur marode Schulgebäude und Straßen sowie eine Reihe von „weißen Elefanten“ – so heißen solche Investitionsruinen in Nigeria – zurück. Der Sturz des Ölpreises stürzte Nigeria gleichzeitig auch in die „Schuldenfalle“, so dass die Ambitionen der nigerianischen Militärregierungen über die nächsten Jahrzehnte sich weniger um das Anschieben einer nationalen Kapitalakkumulation als um die Wiederherstellung der staatlichen Kreditwürdigkeit drehten. Einige Jahrzehnte lang war vom Aufbau eines nationalen Geschäftsleben nichts zu sehen, umso mehr von einer zunehmenden Verarmung und einem eher gescheiterten Abbau von Staatsschulden – das alles begleitet von der harschen Kritik der Experten, die das vorher von ihnen als „alternativlos“ empfohlene Aufbruchsprogramm im Nachhinein als „hoffnungslos überambitioniert“ geißeln.[11]
Das nigerianische „Wirtschaftswunder“
Inzwischen hat das Land, so der allgemeine Tenor, Fortschritte gemacht. Die heutige Regierung kann es als gute Nachricht verbuchen, dass Investmentbanker und Finanzblätter seit einigen Jahren freudig ihre Kunden und Leser informieren: Nigeria ist kein reines Rohstoff-Land mehr!
In den großen Städten des Landes, vor allem in der inoffiziellen Hauptstadt Lagos und der offiziellen Hauptstadt Abuja, existiert inzwischen ein Geschäftsleben von beachtlichen Ausmaßen, das nicht mehr allein auf den Export von Öl und Gas beschränkt bleibt. Ein Bauboom in Abuja und den Hafenstädten des Südens [12] hat die nigerianische Zementindustrie zum größten Hersteller Afrikas befördert. Das Land kann sich mit dem größten Telekommunikationssektor Afrikas schmücken, der eine Kundschaft von 122 Millionen Mobilfunknutzern bedient.[13] Auch als industrieller Standort verzeichnet Nigeria in den letzten Jahren Fortschritte. Mithilfe auswärtiger Investitionen wächst die industrielle Verarbeitung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln rasant.[14] Ausgehend vom Öl- und Gasgeschäft und befördert durch einschlägige local content-Klauseln, die die ansässigen Hersteller verpflichten, zu einem bestimmten Mindestprozentsatz einheimische Vorprodukte zu verwenden, hat sich eine kleine Zulieferindustrie entwickelt, die u.a. hochwertige Technologie für Offshoreanlagen herstellt. Insgesamt zählt der nigerianische Standort nach Ansicht der einschlägigen Experten zu den wenigen auf der Welt, auf dem sich größere „Sachinvestitionen“ noch bzw. derzeit erst richtig lohnen. Finanzkapitalistische Institutionen werben damit, dass das Land wegen seiner schieren Bevölkerungszahl von 170 Millionen einen potenziell „riesigen Markt“ zu bieten hat, der nur darauf wartet, erschlossen zu werden; die versammelte Zahlungsfähigkeit im Land soll jetzt schon die Hälfte der gesamten afrikanischen Kaufkraft ausmachen. Darüber hinaus wird das Land als eine „Ankerökonomie“ für die Eroberung der Kaufkraft auch in den umliegenden Ländern ins Auge gefasst, weshalb auch die Hersteller weniger anspruchsvoller Produkte das Land nicht nur als Absatzmarkt, sondern auch als Investitionsstandort entdeckt haben.[15]
In diesem Wachstum, insbesondere des „non-petroleum sectors“, sieht die nigerianische Regierung Ansätze genau des „diversifizierten“ nationalen Geschäftslebens, das Nigeria von seiner „exzessiven Abhängigkeit“ vom Öl, also von seinem Status als abhängiger Ölstaat befreien soll. Gemessen an diesem Maßstab hat das boomende Geschäft, das hauptsächlich vom Ölgeld lebt und angetrieben wird, allerdings seine Widersprüche – gerade in den Bereichen, von denen am meisten Aufhebens gemacht wird:
– Da ist zum einen das Geld, das mit dem gewaltigen Ausbau von Häfen und der bislang spärlichen bis verkommenden Infrastruktur verdient wird: Die Dimensionen dieses Geschäfts mögen groß sein, doch ist sein Gegenstand – die Infrastruktur – bloße Voraussetzung einer nationalen Kapitalakkumulation. Dieses Geschäft zeugt also mehr vom Umfang der Öleinkünfte auf der einen und dem bisher sehr kümmerlichen Zustand der restlichen nigerianischen Ökonomie auf der anderen Seite als von deren gegenwärtiger und künftiger Wucht. Am Her- und Hinstellen dieser Infrastruktur können die involvierten Bauunternehmen viel verdienen, aber ihr Nutzen für eine nationale Kapitalakkumulation hängt nicht von ihrer bloßen Existenz, sondern von ihrer geschäftlichen Benutzung ab. Die mag sich im Süden des Landes, wo an verschiedenen Stellen bereits ein entwickeltes Geschäftsleben existiert, partiell einstellen.[16] Aus dem Norden hingegen wird vornehmlich von „Gespensterautobahnen“ und sonstigen Fehlinvestitionen berichtet.
– Der wachsende Telekommunikationssektor bietet für ausländische Handyproduzenten und inländische Händler sicher eine fruchtbare Geschäftsgelegenheit. Dass die vielen Handys von der Bevölkerung nicht zuletzt für die Transaktion geringster Summen gebraucht werden, zeugt allerdings mehr vom fehlenden Zugang der allermeisten Nigerianer zu Bankkonten als von einem wachsenden Reichtum im Land; das einschlägige Geschäft ist also eher Ausdruck der erfolgreichen Mobilisierung auch der kleinsten Kaufkraft der Nigerianer als Resultat und Grundlage eines allgemein wachsenden Geschäftsleben.
– An alledem mögen auch nigerianische Banken ansehnlich verdienen, doch hüten sie sich wohlweislich, mit ihrer Kreditmacht, die sie hauptsächlich dem zirkulierenden Ölgeld verdanken, klein- und mittelständische nigerianische Unternehmen zu finanzieren. Es sei denn, die Zentralbank oder eine internationale Finanzinstitution bürgen für diese Kredite. Das Geschäft des nigerianischen Bankensektors besteht ganz überwiegend in der Anfeuerung einer immensen Immobilienspekulation; die Immobilienpreise in den besseren Vierteln von Lagos zählen zu den höchsten der Welt. Auch dieses Geschäft geht zwar mit einem Bauboom einher, beruht aber auf der spekulativen Vorwegnahme eines allgemeinen Wachstums, dem die ökonomische Grundlage im Land abgeht, weshalb dieselben Experten, die Nigeria als „Afrikas größten Wachstumsmotor“ feiern, gleichzeitig vor einer „Immobilienblase“ warnen.
Die Ökonomie in Nigeria wird also „diverser“; das Geschäftsleben ist nicht mehr vollständig auf den Abtransport eines Naturstoffs für eine anderswo stattfindende Kapitalakkumulation beschränkt. An einem Geschäftsleben in Nigeria wird auf breiterer Front verdient, und daran sind auch einheimische Unternehmer und Arbeitskräfte beteiligt, die mit ihren Gewinnen und ihren Löhnen zu einem einheimischen Markt beitragen, an dem wiederum auch nigerianische Unternehmer verdienen. In diesem Sinn ist Nigeria tatsächlich kein reines Rohstoffland mehr. Der Geldreichtum, der auf dem nigerianischen Markt zirkuliert, ist ein Mischprodukt aus Ölrente und einheimisch zustande gebrachtem Geldprodukt. Die Gewichte sind allerdings eindeutig verteilt: Das wachsende Geschäftsleben verdankt sich nach wie vor vornehmlich dem Geld, das durch den Ölexport ins Land hineinfließt; und die Geschäfte, die mit diesem Geld gemacht werden, tragen nur bedingt zur Mehrung des Reichtums der Nation bei, sie beruhen vor allem darauf und dienen dazu, dass der importierte Geldreichtum aufgezehrt wird. Bei der Hochrechnung der beachtlichen Kaufkraft auf dem inneren Markt des Landes mögen Investoren glasige Augen ob des immensen Bereicherungspotenzials bekommen, aber der dortige Markt bewährt sich mehr als Tummelplatz für das Absahnen von Zahlungsfähigkeit denn als Moment einer wachsenden nationalen Kapitalakkumulation. Damit legt die nigerianische Ökonomie Zeugnis von der für solche Länder unangenehmen politökonomischen Wahrheit ab, dass ein Geldreichtum, der nur zum kleinsten Teil das Resultat einer einheimischen Kapitalakkumulation ist, auch nur sehr begrenzt als deren Grundlage und Stachel wirkt. Per Saldo reproduziert das wachsende Geschäftsleben in Nigeria vielmehr genau den Zustand der „exzessiven Abhängigkeit“ des Landes vom Ölgeschäft, der ein „diversifiziertes“ Geschäftsleben in den Augen des Staates so dringlich macht. Wie manche anderen größeren „Entwicklungsländer“ auch wird Nigeria zweifellos reicher – nach mancher Tabelle befindet sich das Land unter den 30 größten Volkswirtschaften der Welt. Aber es bleibt mit seinem Reichtum das Mittel der bestimmenden Subjekte des Weltmarkts und die abhängige Variable von deren Kalkulationen – der Kapitale, die mit Nigeria als einer Unterabteilung ihres weltweiten Geschäfts kalkulieren, und der Staaten, unter deren Weltordnung diese Kapitale ihr Wachstum betreiben.
Nigeria steht zugleich für eine nicht minder typische Erfahrung: Das Geld, das an einem nationalen Aufbruch interessierte Staatsmacher ganz nach ihren Fortschrittsvorstellungen für die Züchtung eines einheimischen flächendeckend funktionierenden Kapitalismus verwenden können, steht ihnen gar nicht frei zur Verfügung. Dem Geld, über das der nigerianische Staat dank seines Ölexports verfügt, sieht man zwar nicht an, aus welcher Quelle es stammt, aber seine politische Verwendung ist, wie überhaupt die ganze politische Verfassung und das politische Leben im Land, durch diese Quelle, also durch den Status als dienstbarer Lieferant des Weltmarkts, allemal definiert.
Rechtsstaat und Demokratie in Nigeria: Konkurrenz um die Macht, die Geld bringt
Dass der nigerianische Staat nach wie vor hauptsächlich von der Ölrente lebt, diese politökonomische Grundlage der Herrschaft stellt sich für die politischen Akteure im Land und für die von ihnen Regierten genau umgekehrt dar: Der Staat ist der entscheidende und oft genug einzige Repräsentant von Reichtum, also die erste und entscheidende Adresse für den Zugang zum Reichtum. Das Geld in den Händen des Staates hängt ja nicht von den ökonomischen Resultaten ab, die seine Bürger zustande bringen; die hängen vielmehr umgekehrt in ihrer allergrößten Mehrheit von dem Geld ab, das der Staat ihnen zu verdienen und zu konsumieren gibt oder vorenthält. Insofern steht das in den erfolgreichen Zentren des globalen Kapitalismus übliche Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft gewissermaßen auf dem Kopf: Der Staat fungiert als die entscheidende ökonomische Instanz der Gesellschaft, als die Hauptquelle des im Lande zu verdienenden Geldes, auf die sich daher vornehmlich die konkurrierenden Geldinteressen richten. Daher hat der marktwirtschaftliche Imperativ „Bereichert euch!“ in diesem Land eine ganz andere Bedeutung: Der Sache nach ist er ein Aufruf zum Kampf um Teilhabe am staatlichen Geldvermögen, an dem also, was in Nigeria der national cake
heißt, und damit zum Kampf um die politische Macht als die Instanz, die beinahe exklusiv über diesen nationalen Reichtum und seine Verteilung entscheidet. Der wesentliche Inhalt der Politik ist die Konkurrenz um den Zugriff auf diese wichtigste Quelle von Reichtum im Land.
Die Konkurrenz der Staatsagenten um die Ölrente …
Die Machthaber in der Zentrale ringen darum, ihre Rolle als oberste Verfügungsinstanz über den Geldreichtum und damit erste Adresse für seine Verteilung möglichst souverän gegenüber den mannigfachen Ansprüchen auf Teilhabe wahrzunehmen, mit denen sie es unweigerlich zu tun haben und die sie um ihres eigenen Machterhalts willen nicht einfach übergehen können. Diese Ansprüche stellen zunächst und vor allem die „traditionellen Herrscher“ von über 250 Ethnien, die Gouverneure der 36 Bundesstaaten und die Chefs der lokalen Verwaltungsbezirke. Sie alle beanspruchen ihren Anteil an der Ölrente, die für die Mehrheit der Bundesstaaten – vor allem für die im Norden – die einzige Finanzquelle bildet. Die Kriterien für deren Zuteilung sind der Gegenstand eines Dauerstreits zwischen den lokalen Regierungen und zwischen ihnen und der Zentrale, die seit 1970 die Öleinnahmen so gut wie monopolisiert hat. Die süd(öst)lichen Bundesstaaten, in denen das Öl gefördert wird, sehen sich als die Melkkuh der Nation, an der die nördlichen ressourcenarmen Regionen schmarotzen. Dem trägt die Zentralregierung Rechnung, indem sie das Kriterium „wirtschaftliche Eigenleistung“ als Anrecht in den Verteilungsschlüssel einbaut. Die nördlichen Bundesstaaten prangern ihrerseits ihre „Vernachlässigung“ durch die Zentrale an, berufen sich bei ihrer Forderung nach einem größeren Anteil der Ölrente auf die Armut ihrer lokalen Bevölkerungen und hegen seit jeher den Verdacht einer unterdrückerischen Vorherrschaft des Südens, in dem sich die Ölfelder und damit ein Großteil des Ölreichtums des Landes konzentrieren. Das berücksichtigt die Zentrale wiederum mit einem zusätzlichen Verteilungskriterium „Bedürftigkeit“. In dem inzwischen recht komplizierten Verteilungsschlüssel findet dieser Dauerstreit keine Befriedung, sondern eine ziemlich prekäre Verlaufsform.[17] Wegen dieses föderalen Dauerzwists um die politische Aufteilung der Ölrente, sehen sich Nigerias Regierungen folglich ständig mit der Notwendigkeit konfrontiert, längst bevor sie irgendwelche Visionen für eine produktivere Verwendung der Ölrente ins Auge fassen, diese Gelder für den ökonomisch unproduktiven, aber politisch unerlässlichen Zusammenhalt der Nation zu verwenden.[18]
Diese Konkurrenz um die Ölrente bestimmt über diesen Streit zwischen Regionen und Zentrale hinaus das Funktionieren des nigerianischen Staats überhaupt – und zwar von oben bis unten: Je höher das jeweilige Amt im Staatsapparat angesiedelt ist, umso mehr kann sein Inhaber in finanzieller Hinsicht bewegen, umso wichtiger ist es, als Geschäftsmann seine Nähe zu suchen; deshalb zählen Nigerias Topverdiener mindestens einen Expräsidenten zu ihren engsten Freunden. Wer sich nicht in quasi-offizieller Position am Ölreichtum bedient,[19] der nützt seinen Einfluss, um am organisierten Öldiebstahl mit zu verdienen, der in industriellem Maßstab
(Der Spiegel, 29/2013) betrieben wird. So kommt es auch zu dem allseits beklagten Phänomen, dass Gelder für alle möglichen Entwicklungsprojekte regelmäßig „versickern“ bzw. in „dunkle Kanäle“ verschwinden, bevor sie überhaupt zum Einsatz kommen oder für Projekte ausgegeben werden, die erkennbar nur darauf zielen, dass sich lokale Politiker und ihre Günstlinge am Geld für die Her- und Hinstellung von Infrastruktur u.Ä. bedienen können. Wer über keinen derartigen direkten Zugriff auf das Lebensmittel der Nation verfügt oder sich damit nicht ausreichend zufriedengestellt sieht, nutzt seine politische Macht, um sich anderweitig zu bereichern, indem er z.B. als Gouverneur von heute auf morgen eine Steuer auf Satellitenschüsseln erhebt oder monate- bis jahrelang Gehälter und Pensionen unterschlägt. Die Betroffenen halten sich dann auf ganz systemgemäße Weise schadlos, indem sie, so weit es eben geht, ihre eigene untergeordnete Machtposition zu Geld machen: Polizisten errichten Checkpoints, um privat zu kassieren, und auf den untersten Stufen der Bürokratie birgt auch die kleinste Stempelautorität bis hinunter zur Führerscheinstelle die Chance, petits taxes
einzutreiben.[20] Diese Erwerbslogik macht auch vor dem Beruf nicht halt, der eigentlich durch die Unterordnung aller „eigensüchtigen Interessen“ unter die nationalen Erfordernisse bestimmt ist: Gerade das Militär spielt die entscheidende Rolle im Kampf um Posten und Gelder – und zwar vor, während und nach der Zeit der Militärdiktaturen. Die höchsten Offiziere gehören zu den Reichsten im Lande, nicht zuletzt durch schlichte Unterschlagung von Geldern, die der Staatshaushalt ans Militär überweist. Und nicht nur einfache Soldaten verkaufen ihre Waffen an den Feind, um den ihnen oft genug vorenthaltenen Sold aufzubessern, sondern auch die höheren Ränge sind im Waffengeschäft tätig.[21] Kein Wunder also, dass sie aktuell verdächtigt werden, ihre Gerätschaften an Boko Haram zu verkaufen. Das Versagen der Ordnungskräfte lässt sich schon wieder zu Geld machen; das Geschäft mit Entführungen mehr oder weniger zahlungskräftiger Ausländer blüht.[22] Und so weiter…
Die westliche Öffentlichkeit nimmt diese Sitten mit einer Mischung aus verachtender Kritik und völligem Unverständnis als „systematische Korruption“ und flächendeckende „Selbstbereicherungssucht“ der nigerianischen Politik zur Kenntnis. Da ist die Rede von dem allgegenwärtigen „rent-seeking behavior“ der Amtsträger, die ihre Verpflichtungen gegenüber dem Volk und der Entwicklung des Landes, also ihre eigentlichen Aufgaben, vernachlässigen. Der vorwurfsvolle Befund ist mit einer sachlichen Erkundung der nigerianischen Politik nicht zu verwechseln. Denn die gäbe wenig her für die Diagnose, es handle sich beim systematischen Gebrauch öffentlicher Ämter um eine Abweichung von einer ansonsten durchgesetzten Regel, um einen Verstoß gegen eine ansonsten gültigen, allgemeinverbindlichen Aufgabenkatalog des nigerianischen Staates. Der widersprüchliche Befund einer regelmäßigen Abweichung von der Regel, die Zurückführung der in der dortigen Politik systemischen Selbstbereicherung eben nicht auf das dortige System, sondern auf den – rätselhafterweise die gesamte Elite auszeichnenden – schlechten Charakter der Politiker: Das verdankt sich vielmehr einem Vergleich mit den politischen Sitten, die in den erfolgreichen marktwirtschaftlichen Demokratien zuhause sind und die den Maßstab für die „gute Regierungsführung“ abgeben, welche die hiesigen Begutachter in Ländern wie Nigeria so prinzipiell vermissen. Der Vergleich erklärt die hierzulande – mit den bekannten Ausnahmen, die als Korruption gegeißelt und verfolgt werden – durchgesetzte Scheidung zwischen der politischen Herrschaft, der die Massen als Bürger unterworfen sind, und der ökonomischen Macht des Privateigentums, der sie als einkommensabhängige Privatmenschen mit ihrer Arbeit dienen, zu einem einzigen Dienst an den Untertanen: Dass der Staat sie streng nach Recht und Gesetz beherrscht; dass er die Macht, die er über sie hat, und die finanziellen Mittel, die er ihnen abknöpft, in den Dienst des Wachstums des nationalen Reichtums, also in den möglichst erfolgreichen Verlauf der ökonomischen Konkurrenz stellt, gereicht seinen Agenten zur Ehre. Die in den erfolgreichsten marktwirtschaftlichen Demokratien bekannte Trennung zwischen dem privaten Wirtschaften und Bereichern einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft auf der einen, der staatlichen Verwaltung dieser Konkurrenz auf der anderen Seite ist aber keine Frage der Moral, sondern eine des Systems: Sie ist notwendiges Kennzeichen einer bürgerlichen Herrschaft, die in dem erfolgreichen Verlauf dieser Konkurrenz die äußerst ergiebige Quelle ihrer Macht hat.
Wo die Kritiker die flächendeckende „Korruption“ und „Selbstbereicherung“ der nigerianischen Amtsträger nicht nur als Folge einer moralischen Verfehlung abtun, sondern auf objektive Gründe abzielen, da finden sie einen solchen quasi systemischen Grund gern in einem „Ressourcenfluch“, der die Herrschaft in Ländern verdirbt, in denen die Quelle der staatlichen Machthaber im Export von Rohstoffen auf dem Weltmarkt liegt: In solchen Staaten, so die Auskunft kritischer Entwicklungsökonomen, haben die Regenten keinen politischen und ökonomischen „Anreiz“, in ihr Volk zu „investieren“ und private Konkurrenzbemühungen zu fördern, weil die Quelle des nationalen Reichtums gar nicht in deren Bemühungen liegt. Die Eigenart dieser Quelle, die auf nationalem Kapitalmangel und der produktiven Nutzung der Naturschätze für kapitalistische Bereicherung auswärts beruht, stellen sie damit auf den Kopf: Solche Länder leiden dieser Auffassung nach an einem Zuviel an Geldreichtum: an unverdientem, nämlich nicht durch nationale Leistungen verdientem Geldüberfluss, mit dem sie deshalb auch nichts Ordentliches anzufangen wissen; der nur die nationale Elite zu privater Bereicherung anstiftet, statt zu produktiven Bemühungen um das harte Geschäft der kapitalistischen Geldvermehrung anzustacheln. Dieses ‚strukturelle‘ Defizit eines Landes wie Nigeria haben dann auch die Herrscher dieses Landes gefälligst an sich selbst zu korrigieren. Egal, worauf sich die Herrschaft in solchen Ländern gründet: Wenn die Machthaber keinen guten Grund haben, ihr Volk als die produktive Basis ihrer Macht zu behandeln, dann müssen sie eben dazu gezwungen werden, einfach besser, nämlich nach „unseren“ Methoden zu regieren: Es müssen demokratische Institutionen her.
… und ihre neue, demokratische Verlaufsform
So wurde der Übergang Nigerias aus der Militärherrschaft in die Demokratie allenthalben von der Hoffnung begleitet, damit habe es dann auch ein Ende mit der „Korruption“. Durch die Beförderung der nigerianischen Untertanen zu freien Bürgern mit einer Wahlstimme und durch die Verpflichtung der Machthaber auf die personellen Entscheidungen des Volkssouveräns müsste der echte „political will“, der unparteilich und zum Wohle von Staat und Volk regiert, endlich Einzug in die Regierungsgebäude halten. Und da die Wahl seit dem Übergang zur Demokratie nun einmal die Methode ist, an die Staatsmacht zu kommen, wird seitdem den Abermillionen von ansonsten Nutzlosen periodisch die Ehre zuteil, dass sich ein Politiker mit den einschlägigen Versprechen um ihre Gunst bemüht. Das „rent-seeking behavior“ der Staatsagenten erweist sich allerdings als so zählebig, dass manche Beobachter schon resigniert feststellen, es sei aktuell „noch schlimmer“ als während der Militärdiktatur. Zwar geht es insofern sehr demokratisch zu, als das Volk auch in Nigeria als Stimmvieh gefragt ist. Es darf mit seiner Stimme Politiker ermächtigen, die dann frei bestimmen, wozu sie ermächtigt worden sind. Doch weil dieses Wozu nicht in der Ausübung von Herrschaftsaufgaben besteht, die allesamt dem verlässlichen Funktionieren einer marktwirtschaftlichen Konkurrenz dienen, in der die Herrschaft eine verlässliche und ergiebige Quelle ihres Reichtums hat; weil diese Ämter vielmehr selber die einzig verlässliche Reichtumsquelle im Land darstellen, gestalten sich auch der demokratische Wettstreit und die dazugehörige Mobilmachung des demokratischen Souveräns etwas anders als in den Mutterländern der Demokratie.
Der politische Konkurrenzkampf wird in Nigeria mit einer Härte geführt, für die sich die Bezeichnung „do or die politics“ eingebürgert hat. Die Aspiranten auf die Macht gewinnen nicht mit politischer ‚Überzeugungsarbeit‘ freie Wähler, sondern organisieren Gefolgschaften, die ihren Wahlsieg garantieren. Die rekrutieren sie aus der Ethnie, der sie angehören, weswegen die vielen nigerianischen „Stämme“, entgegen dem in der hiesigen Berichterstattung erweckten Anschein, nicht mehr viel mit einem waldursprünglichen „Stammeswesen“ zu tun haben. Sie mögen zwar in ihrer Mehrzahl aus vorkolonialer Zeit stammen, aber ihre äußerst moderne demokratische Bedeutung besteht darin, die feste mobilisierbare Basis von Konkurrenten um die politische Macht zu sein.[23] Die politischen Parteien – von denen es mittlerweile 60 gibt – geben sich nicht einmal den Anschein ideologischer oder programmatischer Differenzen; sie sind „Wahlmaschinen“ für die jeweiligen Kandidaten. Und falls sie sich in dieser Hinsicht als ineffektiv erweisen, wechseln die einschlägigen „Zugpferde“ zur Konkurrenz, und gelegentlich auch wieder zurück.
Was die Wahlen selber angeht, so nimmt schon im Vorfeld die Auseinandersetzung zwischen den Konkurrenten regelmäßig mehr als handfeste Formen an. Das gilt genauso für das Wahlvolk, bietet der Sieg des eigenen Kandidaten doch die einzige Aussicht auf irgendeine Art von Teilhabe am staatlich verwalteten Reichtum – und sei sie noch so mickrig. Deswegen schenken die Anhänger ihrem jeweiligen Kandidaten nicht nur ihre Stimme, sondern legen sich auch tatkräftig per Versprechen, Drohung und Einschüchterung dafür ins Zeug, dass ihre Mitbürger es ihnen gleich tun. Im Zweifelsfall, indem sie bei der Manipulation des Ergebnisses ihre Dienste leisten. Kein Wunder, dass am Wahltag regelmäßig die Gewalt eskaliert und im Land Ausnahmezustand herrscht.
Einmal an der Macht, gilt es für die Amtsinhaber, die eigene Klientel als verlässliche Machtbasis zu erhalten; dafür wird dann Geld locker gemacht. Was von marktwirtschaftlichen Experten als „unsinnige“ Projekte neben einer sträflichen Vernachlässigung von „wirtschaftlich Notwendigem“ gegeißelt wird, ist insofern eine politische Notwendigkeit. So kann die Öffentlichkeit dann mit resignativem Erstaunen registrieren, dass einerseits auch der massiven Unterschlagung überführte Gouverneure sich auf eine zahlreiche Anhängerschaft stützen können und als politische Stehaufmännchen unterwegs sind, andererseits so mancher als „Saubermann“ und Hoffnungsträger in die politische Konkurrenz eingestiegene Kandidat dieses Image sehr schnell wieder los ist. Flankiert wird der politische Konkurrenzkampf von der ständigen Inanspruchnahme der Verfassungs- und Appellationsgerichtshöfe, die sich das Land in Anlehnung an das angelsächsische Justizsystem gegeben hat. Einschlägige Verfahren wegen Wahlfälschung, Korruption etc. werden durch Revisionsbegehren systematisch in die Länge gezogen. Politisch missliebige Richter werden ausgetauscht, sodass die Presse des Landes feststellen muss, dass die eigene Justiz nicht einmal in der Lage ist, den größten Korruptionsfall der letzten Jahrzehnte zu ahnden.
Das demokratische Prozedere und alle Institutionen des Rechtsstaats sind also erstens nichts als neue, vom Standpunkt der Konkurrenten um die Herrschaft im Vergleich zu den Zeiten der Militärdiktatur vielleicht etwas kompliziertere Vehikel für den Kampf um eine politische Macht, die über den Zugang zum nationalen Reichtum entscheidet. Als Werte sind Rechtsstaatlichkeit und Demokratie deswegen aber keineswegs überflüssig; sie sind nämlich zweitens passende Berufungstitel in diesem politischen Konkurrenzkampf und als solche allgegenwärtig, werden von einer kritischen Öffentlichkeit kontinuierlich vermisst und entsprechend eingeklagt. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Volksmoral. Einerseits wissen die Nigerianer ganz genau, dass irgendeine, und sei es noch so geringe Teilhabe an der Staatsmacht für die eigenen Existenznotwendigkeiten entscheidend ist und deshalb im eigenen Interesse auch entsprechend ausgenützt werden muss. Die praktische Notwendigkeit, sich an irgendeiner Stelle in den Mechanismus „Korruption“ einzuklinken, geht also auch moralisch durchaus in Ordnung: Auch in Nigeria verstehen es Bürger, aus der Not eine Tugend zu machen und diese im Erfolgsfall zu feiern. Bei der Selbstbereicherung erfolgreich zu sein, verschafft dem Betreffenden hohes Ansehen unter seinesgleichen. Und von seinen Politikern erwartet das jeweilige Fußvolk, damit es selber nicht zu kurz kommt, genau das: die Ausnützung der eigenen Machtstellung auf Kosten anderer Ethnien bzw. Wählergruppen, rücksichtslos gegen irgendwelche Paragraphen. Erfolg bei der Beschaffung des Geldes und Großzügigkeit bei seiner Verteilung sind also die entscheidenden politischen Qualifikationen. Andererseits herrscht die Vorstellung, dass das „eigentlich“ nicht in Ordnung geht, die alltägliche „Korruption“ zwar überlebensnotwendig, aber gleichzeitig das Grundübel der Gesellschaft sei; dass also jeder Einzelne und die Nation insgesamt unter ihr leiden und etwas Besseres verdient hätten als den Status Quo. Und jeder Wahlkämpfer geht schon gleich mit dem Versprechen hausieren, die „Korruption“ mit Stumpf und Stiel auszurotten – und jedes Mal stellt die Öffentlichkeit der Nation nach einiger Zeit fest, dass alles nur „noch schlimmer“ geworden ist. Dass diese Kritik folgenlos bleibt, hindert aber keinen daran, sein Bedauern in den neuerlichen Ruf nach „guter Regierungsführung“ zu überführen. Insofern ist die demokratische Moral im Lande durchaus intakt: Auch in Nigeria wird die Lüge gepflegt, die elende Lage des Volkes liege nicht an Zweck und Mitteln der Herrschaft, sondern daran, dass schlecht regiert wird.
Dass das in Nigeria so flächendeckend der Fall ist, wird nicht nur dem Geiz und der Rücksichtslosigkeit der herrschenden Elite zur Last gelegt; nicht selten richtet sich solche politische Unzufriedenheit auch gegen das Volk selber: Wenn in der Nation nichts vorankomme, weder der Wohlstand der Bevölkerung noch die Macht des Staates; wenn die Nation die ihr gebührende Größe nie erlange, dann, weil nicht nur oben, sondern auch unten ein genereller Mangel an Patriotismus herrsche – an dem Willen und der Bereitschaft, sich für diese Größe einzusetzen und alle dafür nötigen Dienste zu erbringen, jeder an seinem Platz. Das nigerianische Volk bleibe stattdessen seinen überkommenen vor- und substaatlichen Loyalitäten verhaftet – dies die nigerianische Variante der demokratischen Verachtung für „Partikularinteressen“. In dem Zusammenhang vermissen nigerianische Intellektuelle eine echt eigene „national narrative“; sie plädieren damit für die Notwendigkeit einer Fiktion, die alle Nigerianer, getrennt von den gegensätzlichen Rollen, die sie in der heutigen Nation spielen, als Nigerianer verbindet, damit die wissen, wofür ihr Leiden gut ist. Dies die nigerianische Version vom Nutzen nationaler Identität, der ideellen Verpflichtung auf ein großes Ganzes, welche der Herrschaft den bedingungslosen Respekt von unten, also die Freiheit von den Ansprüchen des Volkes verschaffen soll, die zur Durchsetzung „visionärer“ Aufbruchsprogramme nötig ist. Auch in der Hinsicht ist der nigerianische Wertehimmel der Elite sehr modern, demokratisch und intakt.
Hergestellt wird der nationale Zusammenhang durch diese fiktive Gemeinsamkeit allerdings nicht. Er muss stets neu erkauft bzw. ausgehandelt werden. Und in der Tat: Das Motto Everything is negotiable
hat, bis auf die große historische Ausnahme des Biafrakrieges, noch stets seine erfolgreiche Wirkung getan, von Gouverneuren, denen ihre Unzufriedenheit abgekauft wurde, bis zu den Militanten im Nigerdelta. So bewährt sich das Öl(-Geld) als Schmiermittel für den nationalen Zusammenhalt, und journalistische Beobachter hierzulande konstatieren mit einer gewissen Verwunderung:
„Obgleich Experten seit langer Zeit vor einer Spaltung des Landes warnen, haben die rivalisierenden Eliten bislang stets einen Ausgleich gefunden.“ (SZ, 27.8.11) [24]
Damit befriedigen nigerianische Politiker nicht nur das Bedürfnis auswärtiger Geschäftsleute und Staatsmänner nach Stabilität
, also nach zuverlässiger Erfüllung der Dienste, die sie vom nigerianischen Ölstaat erwarten. Vielmehr macht Nigeria selber auf dieser Basis außenpolitische Ansprüche geltend. Dass die Herstellung und Aufrechterhaltung der inneren Ordnung eine Daueraufgabe ist, hindert die politische Führung nämlich nicht, sich nach außen an UN- und anderen Ordnungsmissionen zu beteiligen und damit um eine international anerkannte Rolle als regionale Vormacht zu konkurrieren. Das Land betätigt sich als regionale Ordnungsmacht – in Westafrika und neulich in Mali – und als Ankerstaat in einem eigenen, breit angelegten westafrikanischen Wirtschaftsbündnis (ECOWAS). Diese Erfolge können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Staatswesen bei aller Größe immerzu die Mittel abgehen, derer ein Staat heutzutage bedarf, um als respektables Subjekt in der Konkurrenz der Mächte erfolgreich zu agieren. Dieser Mangel schärft allerdings nur das Bedürfnis der Staatsführung, im Innern die Fortschritte herbeizuregieren, die das Land als Grundlage für eine solche anspruchsvolle Rolle in der Staatenwelt braucht. Und zum festen Bestandteil des Elite-Bewusstseins gehört die feste Überzeugung, dass Nigeria alle Voraussetzungen hat, mehr aus sich zu machen und damit auch auf der Welt mehr zu sein.
Nigeria heute: Ein neuer Aufbruch und ein neuer (Ver-)Fall
Wie eine Wirtschaftsreform das Land politisch spaltet
Genau das hat der derzeitige Präsident auch vor. Die Wirtschaftsreformen, die seit mehreren Jahren unter dem Namen Vision 20:2020
laufen, zielen darauf, Nigeria bis 2020 den ihm gebührenden Platz in der Liga der führenden 20 Volkswirtschaften der Welt
zu verschaffen. Mit dem wachsenden Interesse, das das internationale Kapital an Nigeria zeigt, soll endlich das gelingen, was, in den Worten des Präsidenten Goodluck Jonathan, wegen mangelndem politischem Willen
jahrzehntelang misslang:
„Eine grundlegende Transformation, welche die einseitig ausgerichtete in eine diversifizierte und industrialisierte Ökonomie verwandelt; die Abhängigkeit vom Öl als Wachstumsmotor soll beendet und die Exportstruktur von Rohstoffen auf verarbeitete Güter umgestellt werden.“ (Nigeria Vision 20:2020, Bericht der Regierung)
Das Regierungsprojekt verlässt sich eindeutig darauf, dass der Privatsektor die Führung übernimmt.
Die dafür nötigen umfangreichen Infrastrukturmaßnahmen sollen dadurch finanziert werden, dass der Staat nicht mehr selbst als Investor tätig wird, sondern sich im Rahmen von Public Private Partnership darauf konzentriert, für Bedingungen bzw. Voraussetzungen des privaten Geschäfts in Vorleistung zu gehen. Dabei ist der Regierung klar, dass der Erfolg auch dieses Modernisierungsprogramms mit der Frage steht und fällt, ob es ihr gelingt, sich neue Freiheiten im Umgang mit der Ölrente zu verschaffen – sowohl bei den Einnahmen als auch bei den Ausgaben.
Das Kernstück der Reformen besteht deswegen in der „Modernisierung“ des Ölsektors, die in Gestalt der Petroleum Industry Bill (PIB) vorangebracht werden soll. Per Gesetz soll zunächst der Status der staatlichen Ölfirma NNPC geändert werden:
Bisher „verfügt sie selbst weder über eigene Reserven noch über nennenswerte Produktionskapazitäten. Stattdessen übt sie die Oberaufsicht über Nigerias Öl- und Gasproduktion aus. Die Produktion selbst wird internationalen Ölfirmen wie Shell, ExxonMobil, Chevron oder auch Chinas Sinopec überlassen, die über Joint Ventures (mit der NNPC) und Production Sharing Agreements [25] die Ressourcen fördern. Die Erlöse aus dem Ölgeschäft fließen dann über die NNPC direkt an die Regierung.“ (www.bpb.de/politik/wirtschaft/energiepolitik)
Jetzt soll sich die staatliche Ölgesellschaft unter der Zielvorgabe „Kommerzialisierung“ teilweise über den Kapitalmarkt finanzieren, womit die finanziellen Verpflichtungen der Bundesregierung aus den Joint Ventures und Production Sharing Contracts reduziert werden. Von dieser Änderung verspricht sich der Präsident nicht nur eine Entlastung seines Haushalts auf der Ausgabenseite und damit die Freisetzung von Mitteln für ein staatliches Förderprogramm, sondern auch insgesamt wachsende Erträge aus dem Ölgeschäft. Die NNPC, die bisher als bloßer Konzessionär an den Erträgen der Multis beteiligt war, soll ein produktiv wirtschaftendes rentables Unternehmen werden, das sich dann nach dem Vorbild anderer international agierender staatlicher Ölkonzerne als Global Player betätigt. Gleichzeitig will der Staat die hauptsächlichen Nutznießer des nigerianischen Ölgeschäfts, die ausländischen Ölmultis, durch höhere Steuern und Royalties für sich mehr in Anspruch nehmen. Für einheimische Ölgesellschaften, deren Anteil an der Ölförderung bisher noch sehr gering ist, sollen die Abgaben hingegen gesenkt werden. Neue local content-Vorschriften sollen darüber hinaus der Zulieferindustrie des Landes und der Beschäftigung Einheimischer zugute kommen. Die erhöhten Einnahmen, die sich die Zentralregierung von der neuen Unternehmensform der NNPC verspricht, sollen dann ausdrücklich nicht nach dem bisher üblichen Muster an die Bundesstaaten verteilt, sondern für die Infrastrukturmaßnahmen verwendet werden, welche die Vision der Zentrale für das Land vorsieht.
Es handelt sich bei diesem Aufbruchsprogramm tatsächlich um viel mehr als eine Wirtschaftsreform. Die Maßnahmen des Präsidenten – die von den Propagandisten von good governance als ein unerlässliches, aber noch gar nicht ausreichendes Reformpaket begrüßt werden [26] – greifen die Art und Weise an, wie in und aus Nigeria überhaupt ein Staat gemacht wurde. Mit der Umsetzung seines anspruchsvollen Programms von „good governance“ setzt der Staatschef daher erst einmal keine Reichtumsquellen frei, sondern bringt die ökonomischen Quellen und die gewohnten Mechanismen der politischen Herrschaft und des auf sie gegründeten Wirtschaftslebens in der Nation gründlich durcheinander und deren Repräsentanten gegen sich auf.
Zunächst einmal die Hauptnutznießer, die Ölmultis: Dass die auf die liebgewonnenen Privilegien, die sie am Standort Nigeria bisher genießen, nicht verzichten wollen, versteht sich von selbst. Sie warnen vor der „düsteren Zukunft“ der Öl- und Gasindustrie, sollte die PIB verabschiedet werden, verschieben bereits in Aussicht gestellte Investitionen oder drohen zumindest damit, halten sich im Übrigen mit dem weiteren Ausbau der Ölförderung zurück und stellen damit die vom Präsidenten für die Verwirklichung seiner Vision eingeplanten Mittel in Frage. Kurz: Sie erpressen die Bundesregierung mit dem potenziellen Entzug des Stoffs, auf dessen Verwertung die für ihr Programm angewiesen ist. Daneben leisten sie massive Lobbyarbeit in der Nationalversammlung, um die PIB wenn nicht zu verhindern, so zumindest während des legislativen Prozesses möglichst zu „verwässern“, d.h. ihren Interessen anzupassen.
Weil dieses Reformprojekt nicht nur eine Umverteilung der Öleinkünfte, sondern überhaupt eine neue Zwecksetzung der Ölgelder anpeilt, ist es kein Wunder, dass es darüber hinaus den Dauerstreit zwischen den Regionen anheizt. Die PIB stellt immerhin einen schwerwiegenden Eingriff in das bisher übliche Prozedere dar, in dem die staatliche NNPC als „cash cow“ der Gouverneure fungiert, die immer wieder mit legalen, halb- bis illegalen Mitteln gemolken wird.[27] Der Präsident macht sich mit seinem Reformprogramm daher einen Großteil der regionalen Machtinstanzen zum Gegner, auf deren bezahlter Kooperation der Zusammenhalt der Nation überhaupt basiert, nämlich der Gouverneure und Repräsentanten der armen Regionen im Norden des Landes. Sie sehen in dem Projekt, die NNPC „nach ökonomischen Kriterien und befreit von staatlicher Bürokratie“ zu betreiben, nicht zu Unrecht eine Infragestellung ihrer Position und politischen Privilegien. Die Vertreter der nördlichen Bundesstaaten laufen daher gemeinsam mit etlichen Abgeordneten der Nationalversammlung Sturm gegen den Gesetzesentwurf mit dem charmant selbstlosen Argument, das Erdöl sei ein viel zu wichtiges nationales Gut, als dass man es dem Markt überlassen dürfe. Die Bundesstaaten des Südens, die schon seit einigen Jahren vom Interesse der Investoren profitieren und deshalb über eigene Reichtumsquellen verfügen, sehen im Programm Jonathans umgekehrt die Chance, noch mehr Investoren für sich zu gewinnen, und verstärken ihre Forderungen an die mittellosen Bundesstaaten des Nordens, sich endlich auch um eigene Einnahmen zu kümmern, anstatt immer nur am anderswo produzierten Reichtum zu schmarotzen; schließlich könne die Nation nicht auf immer und ewig vom Öl leben.[28]
Außer mit dem Widerstand der ökonomischen und politischen Nutznießer des Ölgeschäfts bekommt es der von Visionen beseelte Präsident ferner mit Widerstand von unten zu tun. In seinem Bemühen, weitere Haushaltsmittel für den Ausbau der Infrastruktur und des Gesundheitswesens frei zu machen und private Investoren dazu zu bringen, sich der bisher staatlich betriebenen und nur mit sehr geringer Kapazität produzierenden Raffinerien anzunehmen, dekretiert er einen Abbau der Benzinsubventionen und verfügt Ende 2011 eine 200 %-ige Benzinpreiserhöhung. Damit greift er die einzige direkte Form der Beteiligung der Bevölkerung am „national cake“ an. Weil Benzin nicht nur Treibstoff für Fahrzeuge ist, sondern auch für Wasserpumpen und Generatoren, die den ganz überwiegenden Teil des benötigten Stroms für die Bevölkerung liefern, ruft diese Entbürokratisierungsmaßnahme
im ganzen Land wütende Proteste hervor. So paart sich der Widerstand von „unten“ mit dem des „Kartells“ aus hochrangigen Politikern, Hafenbehörden und (Schein-)Firmen, die am Import subventionierten Benzins mittels überhöhter Mengenangaben sowie an seinem Verkauf in die Nachbarländer, in denen es dreimal so teuer ist, glänzend verdienen.[29] Der Protest ergibt das seltene Bild eines über alle sozialen, ethnischen, regionalen und konfessionellen Schranken hinweg geeinten Nigeria. Dagegen lässt der Präsident in einigen Bundesstaaten ohne die Einwilligung der zuständigen Gouverneure die Armee einsetzen. Die betroffenen Regionalregierungen werfen Jonathan daraufhin offenen Verfassungsbruch vor, und er rudert zurück...
So macht Jonathan die Erfahrung, dass die Ölrentenökonomie mit ihrem systematisch „korrupten“ Überbau nicht einfach einen Schrei nach besserer Regierung verkörpert, sondern ein auf seine Art fertig eingerichtetes System. Deswegen ist es kein Wunder, dass das, was allenthalben als Patentrezept für die Genesung des nigerianischen Patienten empfohlen wird, die Beseitigung der alten Klientelwirtschaft und damit der Aufbruch zu neuen Ufern, sich eher als Sprengsatz für die ohnehin schon fragile Einheit der Nation erweist.
Mitten in diesen Streit um die Vision 20:2020 bricht der Terror herein, der seit geraumer Zeit im Norden des Landes unterwegs ist, mittlerweile aber auch im Zentrum zuschlägt und die Weltöffentlichkeit zunehmend beschäftigt.
Boko Haram
Über die Hintergründe für den Aufstieg der islamischen Fundamentalisten im Norden Nigerias erfährt man hierzulande einiges: die schon immer trostlosen Zustände in den nördlichen Provinzen, das Aussterben der Textilindustrie – traditionell die wichtigste Einkommensquelle der Region – in den 90-er Jahren unter dem Regime der WTO, verbunden mit der Schließung von Hunderten von Betrieben und dem Verlust von zigtausenden Arbeitsplätzen. Am Ende mündet das alles aber mit stereotyper Regelmäßigkeit in eine massive Kritik an der Regierung des Landes. „Misswirtschaft“ und „Korruption“ seien dafür verantwortlich, dass die Wut auf die herrschenden Politiker vor allem unter „perspektivlosen“ Jugendlichen so um sich greife, dass diese sich zu radikalen Taten veranlasst sähen. Gleichzeitig fehlt den Kommentatoren jegliches Verständnis für den Weg des militanten Widerstandes der Anhänger Boko Harams: Die folgen einer kranken Ideologie
(SZ).
Mit dieser Einordnung wird den islamistischen Kämpfern mit ihrer radikalen Kritik am Westen und an der ‚verwestlichten‘ nigerianischen Herrschaft jeder politische Grund für ihre Gegnerschaft bestritten: Sie sind nichts als moralisch verwerfliche Fanatiker der Gewalt um ihrer selbst willen. Dabei verkünden die so umstandslos ins Reich des ‚Bösen‘ Verbannten schon in ihrem Namen („Bücher sind Sünde“, „gegen westliche Erziehung“), dass ihre fundamentalistische Kritik einem den westlichen (Un-)Werten geschuldeten Sittenverfall gilt, sich also aus der Vorstellung einer gerechten Herrschaft speist, die endlich für ein ordentliches, d.h. moralisch einwandfreies, religiös bestimmtes Leben und Zusammenleben des Volks sorgt. Wo die gängige Kritik „Korruption“, also die unverantwortliche Einstellung der politischen Führung als das Grundübel ausmacht, das für das Darniederliegen des Landes verantwortlich ist, und eine bessere, sauberere Verwaltung des existierenden Staats fordert, da machen die islamischen Fundamentalisten in der grundsätzlichen Verfasstheit der westlichen Ausrichtung der Herrschaft selbst den systematischen Verstoß gegen die Sittlichkeit eines Gemeinwesens aus, dessen fromme Maßstäbe sie aus den strengen Lebensvorschriften einer im islamischen Glauben vereinten Gemeinschaft ableiten. Das Elend des Volks und alles, was der Staat an Unzufriedenheit mit der Obrigkeit im Land stiftet, führen sie nicht auf bloßes Versagen der Regierenden gegenüber dem Ideal einer ordentlichen Herrschaft nach dem Muster westlicher Demokratien und einer funktionierenden kapitalistischen Gesellschaft zurück, sondern auf die grundfalsche, prinzipiell unsittliche Ausrichtung der Herrschaft selber, die dem Volk nicht das ihm als gläubigen Muslimen gebührende sittenstrenge Regime beschert, mit dem es sich in seiner Armut gläubig einrichten soll und kann. Sie streiten nicht um eine sauberere Verwaltung des existierenden Staats, sondern kämpfen für ein grundsätzlich anderes, religiös verpflichtetes und verpflichtendes Staatswesen bzw. für ihre eigene Herrschaft im Namen Allahs. Das ist ihre Berechtigung zur Gewalt – und die leben sie dann unter den wüsten nigerianischen Verhältnissen auch aus und machen Jagd auf alles ‚Unislamische‘.
Die Mittel dafür sind ja vorhanden. Es wird schon so sein, dass Boko Haram sich aus einer bewaffneten Schlägertruppe heraus entwickelt hat, die ihren Kandidaten auf das Gouverneursamt im heute vom Terror besonders betroffenen Bundesstaat Borno mit den im Wahlkampf üblichen Methoden durchsetzen half, um danach die Waffen gegen ihren Paten zu richten, weil er die ihnen gegebenen Versprechen nicht einhielt. Auch dass sie sich durch Entführungen und Schutzgelderpressung weitere Mittel verschafften, passt zum System Nigeria. Das Beispiel der Rebellen im Nigerdelta zeigt ja, dass man mit diesen Methoden sogar zu einer regelmäßigen Beschäftigung gelangen kann. Man muss nur lange genug durchhalten. Inzwischen haben die „Terroristen“ im Norden sich das Geld verschafft, um den regulären Soldaten auch „modernste Waffen“ abzukaufen. Derart gerüstet wagt Boko Haram aktuell sogar den Übergang in die offene Feldschlacht und besetzt ganze Städte.
Leicht entsetzt konstatiert die westliche Öffentlichkeit die Erfolge der islamistischen Kämpfer und stellt fest, dass sich Präsident Jonathan aktuell lieber um seine Wiederwahl kümmert als darum, der „terroristischen Bedrohung der Einheit des Landes“ entschieden entgegenzutreten:
Mittlerweile „kontrolliert“ die Armee „im Nordosten des Landes so gut wie nichts mehr. (…) Das politische Nigeria aber scheint von den Entwicklungen an den Grenzen zu Tschad und Kamerun weiter kaum beunruhigt zu sein.“ (FAS, 31.8.14)
Mit den Erfolgen von Boko Haram hat sich also auch der westliche Blick auf Nigeria ‚geschärft‘. Der Auftrag, den man jetzt der nigerianischen Regierung erteilt, wird am Fall der entführten Schulmädchen ein ums andere Mal bebildert: Jetzt geht es beim Ruf nach „good governance“ um die Erledigung der Islamisten im Land, die unter die Bedrohung westlicher, also ‚unserer‘ Sicherheit durch den ‚Terrorismus‘ subsumiert sind. Jetzt zählen das Elend der nigerianischen Massen und überhaupt alle ausgemachten üblen Zustände in Nigeria nur noch als Brutstätte dieser Bedrohung, und alle Ratschläge, wie dieser Sumpf mit besserem Wirtschaften und ordentlicherem Regieren auszutrocknen sei, landen zielstrebig bei der Einsicht, dass man dem Übel Boko Haram erst einmal nur mit ordentlich durchgreifender Gewalt beikommen könne. Jetzt steht der Hinweis auf die „Korruption“ der politischen Elite daher für den Vorwurf, dass die herrschenden Figuren und die Armee es versäumen, gefälligst gründlich mit diesen islamistischen Umtrieben im Land aufzuräumen. Das ist der aktuelle Ordnungsauftrag, der den kritischen Blick auf Nigeria und seine Führung bestimmt und vor dem die jetzt wieder einmal versagt.
[1] Das Land fördert durchschnittlich gut 2 Mrd. Barrel pro Tag und exportiert ca. 1,7 Mrd. Barrel.
[2] Selbst die heimische Energieversorgung funktioniert außerordentlich schlecht; die vier Ölraffinerien im Lande stehen meistens still, so dass Benzin in großen Mengen importiert werden muss. Die für die Stromversorgung zuständige Agentur NEPA (Nigerian Electric Power Authority) hieß einmal im Volksmund „Never Expect Power Anytime“; nach ihrer Umbenennung in die Power Holding Company of Nigeria (PHCN) hat sich der Volksmund ebenfalls umgestellt: „Please Hold Candle Near“. Das Geräusch der mit Benzin betriebenen privaten Generatoren im ganzen Land gilt als inoffizielle Nationalhymne.
[3] Den „natürlichen Nachteil“ seiner im Vergleich zu anderen Förderländern kleineren und über eine größere Fläche verstreuten Ölfelder für die Ölmultis macht der Staat dadurch wett, dass er sich mit einem im internationalen Vergleich bescheidenen Anteil am Gewinn aus dem Ölgeschäft zufrieden gibt: Verglichen mit den international üblichen Standards gehören die Vertragsbedingungen zu den weltweit ungünstigsten. Und das betrifft nicht nur den Anteil des Förderlandes an den Erlösen.
(R.S. Oliveira: Oil and Politics in the Gulf of Guinea, London 2007, 55). Wegen seiner zurückhaltenden Preispolitik
bleibt Nigeria ein beliebter Geschäftspartner der Multis; beinahe alle großen Ölkonzerne sind in Nigeria tätig. Zwar werden sie verpflichtet, für ihre Geschäfte auf nigerianischem Territorium dem dortigen Recht unterworfene nationale Gesellschaften zu gründen, an denen die Nigerian National Petroleum Corporation (NNPC) beteiligt ist. Aber die Regierung kommt ihnen mit entsprechend günstigen Gebühren und mit Steuererleichterungen – die, falls der Ölpreis sinkt, auch nachträglich gewährt werden – stets sehr weit entgegen.
[4] Etwa 40 Mio. Nigerianer sind von der Versteppung des Landes bedroht, die von der Sahelzone ausgeht und der jährlich schätzungsweise über 4 000 Quadratkilometer Boden zum Opfer fallen. Lediglich 1 % der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche wird bewässert. An die 50 % der Ernteerträge verrotten auf dem Transport. Gleichzeitig wird die landwirtschaftliche Nutzfläche immer wieder von schweren Regenfällen zerstört, wodurch die Bewohner Haus und Hof verlieren. Da die abnehmenden Erträge aus dieser Subsistenzwirtschaft nicht zum Leben reichen, ruinieren die Bewohner auf der Suche nach Verwertbarem zunehmend ihre eigene Lebensgrundlage und sich selbst, indem sie z.B. im Bundesstaat Zamfara, der als der ärmste Nigerias gilt, auf der Suche nach ein bisschen Gold ihre Böden flächendeckend mit Blei verseuchen.
[5] Geschätzte 50-70 % der Stadtbevölkerung in Lagos haust in Elendsvierteln und geht in diesem Sektor ihren „Geschäften“ nach – besonders beliebt ist der Treibstoffdiebstahl, wie man 2006 anlässlich der Explosion einer Pipeline in einem dicht besiedelten Vorort von Lagos erfahren durfte. Wer es nicht schafft, sich als Müllsammler, Straßenhändler, Motorradtaxifahrer durchzuschlagen, baut auf die Alimentierung durch Verwandte, welche irgendwie am wirtschaftlichen Aufschwung partizipieren. Laut Schätzungen hängen an jedem „regulär“ Beschäftigten etwa 10 Nichterwerbstätige bzw. im informellen Sektor Beschäftigte.
[6] Der Beitrag des industriellen Sektors zum BIP ist nur etwa so hoch wie die Geldüberweisungen von im Ausland arbeitenden Nigerianern („remittances“) an ihre in Nigeria lebenden Familien.
[7] 7000 Kilometer Pipeline zerschneiden das Land und seine Dörfer, aus alten, undichten Leitungen und Pumpstationen sickert Öl, und nachts erleuchten gigantische Feuersäulen die Sümpfe, überschüssiges Gas, das mit Hochdruck aus der Tiefe schießt und abgefackelt wird. Die Anwohner sind oft krank und werden nicht alt, ihre durchschnittliche Lebenserwartung ist auf unter 40 Jahre gesunken.
(Die Zeit, 5.1.2011, unter dem Titel: Verfluchter Bodenschatz
)
[8] Mit der zunehmenden Verlegung der Ölförderung in „off-shore locations“, wo die marodierenden Milizen einfach nicht hinkommen können, haben die dort engagierten Multis auch einiges dafür getan, solche Störungen zu vermeiden.
[9] Das Land stellt den am schnellsten wachsenden Markt für Champagner und Privatflugzeuge dar, mit denen Politiker, Ölmagnaten und andere superreiche Geschäftemacher sowie christliche Prediger über die mangelnde Infrastruktur und mannigfachen Sicherheitsrisiken am Boden hinwegfliegen. Auch den Produzenten von Luxuskarossen, noblen Immobilien und Mode bescheren Nigerias Öleinnahmen eine lukrative Kundschaft. In der Modebranche wird von der absurden Situation
berichtet, dass nicht nur britische Kunden afrikanische Mode in London einkaufen, sondern auch Nigerianer nach London fliegen müssen, um nigerianische Mode zu kaufen. Denn die Vertriebsstrukturen in Nigeria sind löchrig… Doch nach London reisen wohlhabende Nigerianer ohnehin. Sie lassen nach den Chinesen, Russen und Kunden aus dem Nahen Osten beim Kauf von Luxusgütern das meiste Geld in der britischen Hauptstadt. Und das ist ein Problem, denn dieses Geld wäre vor Ort in Afrika besser ausgegeben.
(Die Welt, 19.11.12)
[10] Derzeit wird das Land damit konfrontiert, dass der bisherige Hauptabnehmer seines Öls, die USA, dank seines einheimischen „Fracking“-Booms seine Abhängigkeit von der nigerianischen Ölquelle entschieden relativiert. Im Juli 2014 hat Nigeria kein einziges Barrel Öl in die USA exportiert; mit ihrer „Schieferöl-Revolution“ produzieren die USA nämlich selber in wachsenden Mengen das schwefelarme Öl, das Nigeria bisher in die USA exportiert hat. Eine Nachricht, die wieder einmal dafür sorgt, dass der nigerianischen Regierung mangelnde Diversifikation vorgeworfen wird. Aktuell ist Indien vor Brasilien, das über vergleichsweise wenig schwefelarmes Öl verfügt, der größte Importeur nigerianischen Öls.
[11] Dass Nigeria inzwischen über eine Verschuldungsquote verfügt, von der die südeuropäischen Länder nur träumen können, verdankt sich vor allem dem Beschluss des Pariser Clubs 2005, die Schulden des Landes weitgehend zu erlassen.
[12] Allein zwischen 2007 und 2009 verdoppelte Julius Berger (der größte private Arbeitgeber im Land) in Nigeria seinen Umsatz auf nahezu eine Milliarde Dollar. In Lagos baut die Firma ganze Stadtteile. Wer in Abuja vom Flughafen in die Stadt fährt, rollt auf erstklassigen Autobahnen, gebaut von Julius Berger.
(Der Spiegel, 4/2011)
[13] Ganz nebenbei ist die heimische Filmindustrie namens „Nollywood“ dank ihrer Billigproduktionen zur – jedenfalls was die Anzahl der produzierten Filme betrifft – zweitgrößten der Welt aufgestiegen.
[14] Auch die jahrzehntelang fast nur auf Subsistenzbasis existierende Landwirtschaft wird als lohnendes Objekt entdeckt: Saudische Firmen errichten eine riesige Düngemittelfabrik und chinesisches Kapital investiert in Hirsefelder zur Bierherstellung und den Anbau von Sorghum für die Herstellung von Biotreibstoff. So blüht neben der nach wie vor flächendeckenden Subsistenzwirtschaft ein Stück echtes Agrobusiness auf.
[15] Nestle, Heineken et al. lassen zunehmend vor Ort produzieren und bedienen sich dabei der einheimischen Getreidesorten. Dabei haben die engagierten Multis auch die längerfristige Entwicklung, sprich geschäftliche Nutzbarmachung des Landes im Blick: General Electric investiert nicht nur in das Elektrizitäts- und Eisenbahnnetz des Landes, sondern bildet auch Hunderte von Medizinern für den Einsatz in nigerianischen Kliniken aus. Shell betätigt sich schon seit einiger Zeit nicht mehr nur als Ölförderer, sondern auch als Investor in Kraftwerke und greift auch schon mal der einheimischen Währung durch Stützungskäufe unter die Arme.
[16] Auch aus dem Süden gibt es nicht wenige Beispiele dafür, wie die Regierung in Vorleistung für die Entwicklung eines einheimischen Geschäftslebens geht, damit durchaus auch einem einheimischen Bedürfnis entspricht, aber dann doch bloß einen weiteren „weißen Elefanten“ schafft, weil staatliche Entwicklungsprojekte keinem kapitalistischen Bedarf entspringen und schon gleich keinen stiften und umgekehrt diese Projekte am Voluntarismus der Planung eines Staats leiden, dessen Wirtschaft nicht vom kapitalistischen Erfolg solcher staatlicher Förderung lebt. Exemplarisch das „River Niger Dredging“-Projekt: Über 500 km des Niger sollen auch für größere Schiffe befahrbar gemacht werden, um das wirtschaftlich wenig entwickelte Hinterland mit dem Delta zu verbinden. Die Anliegergemeinden kritisieren, dass erstens trotz einschlägiger Erfolgsmeldungen der Fluss höchstens für Fähren und kleine Boote, aber nicht für Transportschiffe ausgebaggert worden sei, und vor allem ständig neu verhindert werden müsse, dass er nicht wieder versandet. Dafür bedürfe es eines ständigen Schiffsverkehrs, der nicht stattfindet. Das Projekt erfordert nicht nur das Ausbaggern des Flusses, sondern auch die einschlägige Infrastruktur in Gestalt von Häfen und Zubringerstraßen und hat bisher schon Hunderte von Millionen Dollar gekostet, die der zuständige Investor eingesackt hat, ohne das Versprochene zu liefern.
[17] Zur Befriedung der Ansprüche der Unterabteilungen der Nation gehört nicht zuletzt die Methode, neue Bundesstaaten und damit neue Verteilungsadressen zu schaffen. Aus ursprünglich drei Regionen sind mittlerweile 36 Bundesstaaten und 774 lokale Verwaltungsbezirke geworden; aktuell erwägt Präsident Jonathan, über 700 dieser „local governments“ abzuschaffen, dafür aber 18 neue Bundesstaaten aus dem Boden zu stampfen.
[18] Dieser Streit um die Verfügung über den Ölreichtum hat nicht nur eine zentrale Rolle im Biafrakrieg (1967-70) gespielt, als sich die ölreiche südöstliche Region von Nigeria lossagte, sondern bestimmt nach wie vor das politische Leben des Landes, zu dem deswegen die laufende Drohung der Gehorsamsverweigerung gegenüber der Zentrale gehört.
[19] Über die einschlägigen Machenschaften weiß die New York Times zu berichten: Gegen Ende 2008 befanden sich ungefähr 30 Mrd. Dollar im Excess Crude Account des nigerianischen Staates, ein Fonds der Regierung, in welchen die Öleinnahmen fließen, wenn der Ölpreis die vorher veranschlagte Höhe übersteigt. Wenn der Ölpreis hoch ist, fließt Geld in den Fonds und er wird zu einem unwiderstehlichen, nirgends verbuchten Jackpot, vor allem für die weitgehend autonomen Gouverneure der 36 Bundesstaaten.
Knapp zwei Jahre später war der Fonds auf ungefähr 300 Mio. geschrumpft. Das meiste Geld wurde von den Gouverneuren abgezogen, ohne für ein bestimmtes Projekt ausgegeben zu werden. Nur auf der Grundlage: Es gibt Geld in dem Fonds, lasst es uns holen. Es ist wahrscheinlich, dass niemand ein klares Bild davon hat, was aus dieser großen Summe wurde, nachdem sie bei einer Versammlung der Gouverneure ausgeteilt wurde.
(N.Y.T., 21.2.11)
[20] Zur Bebilderung des system(at)ischen Charakters der Korruption dient die immer wieder erzählte Geschichte des Kampfs gegen die Fahrprüfer, die keine Fahrlizenz ohne Extravergütung herausrücken. Das Rezept, einen zweiten Fahrprüfer als Kontrolleur ins Auto zu setzten, führte zum erwartbaren Resultat, nämlich dazu, dass der Fahrschüler dann eben zwei petits taxes
zu entrichten hat.
[21] Laut einem unveröffentlichten Bericht der Armee bereicherte sich der ehemalige Sicherheitsberater des Präsidenten mit Waffenverkäufen an die Rebellen des Nigerdeltas. An diese wurde im Übrigen auch ein Gutteil der Waffen verscherbelt, mit denen die nigerianische Armee von der „Weltgemeinschaft“ für ihren Einsatz in Liberia ausgestattet worden war.
[22] Angeblich findet über ein Viertel der weltweit offiziell registrierten Entführungen in Nigeria statt: „Es ist eine neue Art und Weise, in Lagos Geld zu verdienen“, wird ein Experte zitiert. Die Entführer fordern anfänglich hohe Summen, die sie sich dann teilweise abhandeln lassen, getreu dem nigerianischen Grundsatz: „Everything is negotiable.“ Der derzeitige Preis für die Freilassung liegt zwischen 12- und 30 000 Dollar. Die Betroffenen werden meist nach drei bis vier Tagen freigelassen. (Angaben nach The Economist, 14.9.13)
[23] So wird aus dem „middle belt“ berichtet: „Nach dem Ende der Militärdiktatur nutzten die Einheimischen … die Demokratie, um ihre traditionellen Privilegien zurückzuerobern. Ein führender Clan der Berom, des in Jos (Großstadt in der Mitte des Landes) führenden Stammes, besetzte alle lokalpolitisch wichtigen Positionen. Der Gouverneur gehört dazu. (…) Der Clan kann somit alle politischen Ernennungen auf den Ebenen des Gliedstaats und der Lokalverwaltung unter sich ausmachen, dazu Vorschläge für die Posten auf der nationalen Ebene, die dem Teilstaat Plateau zustehen. Das Gleiche gilt für Bauverträge, Lizenzen oder die Ausstellung von Urkunden. All dies geschieht in einem Gebiet, in dem seit der Schließung der Bleiminen vor mehreren Jahrzehnten alle formellen Anstellungen vom Staat ausgehen und in dem der Wettbewerb um Land und Geld immer schärfer wird.“ (NZZ, Mitte April 2011)
[24] Mit einem einigermaßen zynischen Blick auf die Stabilität stiftende Leistung, für den amerikanische Diplomaten offenbar ein gewisses Talent haben, verdient sich das politische System Nigerias folgendes Lob: Das allgegenwärtige Patronatssystem und die Korruption, die durch das Ölgeld genährt werden, sind die wesentliche Ursache für Nigerias politische und wirtschaftliche Krankheit (sclerosis). Und doch, obwohl sie dysfunktional sind, halten sie die politischen Eliten Nigerias und als Konsequenz auch den Staat zusammen. Der normale Nigerianer mag dafür einen hohen Preis bezahlen, aber der Bürgerkrieg hat sich nicht wiederholt.
(John Campbell, ehemaliger US-Botschafter in Nigeria, Dancing on the Brink, S. 34) Genauso sehen das auch politische Wissenschaftler: Öl und Gas sind die Stahlklammern, die die auseinander laufenden Interessen des Landes zusammenhalten.
(H. Bergstresser, Macht und Ohnmacht am Golf von Guinea, FfM 2010, S. 23) Ein amerikanischer Think-Tank liefert das passende Bild für diesen funktionalistischen Standpunkt: Die nigerianischen Führer sind in einer schlechten Ehe eingesperrt, die keiner mag, aber auch keiner zu verlassen wagt.
(„Tapping Sub-Sahara Africa’s Future“, Konferenzbericht des National Intelligence Council, März 2005)
[25] Ein Production-sharing contract(PSC) (bzw. Agreement) beinhaltet, dass die NNPC eine auswärtige Ölgesellschaft mit den grundlegenden Investitionen für die Erforschung, Entwicklung und Produktion eines Ölfeldes beauftragt. Wenn eine wirtschaftlich lohnende Menge an Öl gefunden wird, zahlt der Vertragspartner Royalties und Steuern, hat aber das Recht zu einem bestimmten Zeitpunkt, seine Kosten rückerstattet zu bekommen, und sich ab da die Produktion mit der Regierung zu einem festgelegten Anteil zu teilen, wobei die genaue Festlegung unterschiedlich ausfallen kann.
(S.A.Khan: Nigeria. The political economy of oil, Oxford, 1994, 67f)
[26] Ihnen enthält die PIB immer noch zu viele Zugeständnisse an das „System Nigeria“, weil sie die Entscheidung über z.B. den Grad der Privatisierung dem Ölministerium, in letzter Instanz also dem Präsidenten vorbehält, anstatt das Ölgeschäft konsequent markt-, also privatwirtschaftlich zu organisieren, frei von politischer Einflussnahme und frei für den Zugriff der auswärtigen kapitalistischen Multis.
[27] Aktuell empört sich die Öffentlichkeit wieder einmal über den Skandal, die NNPC habe 20 Milliarden Dollar, was 2/3 des Staatshaushaltes entspricht, verschwinden lassen. Deshalb hält sich in großen Teilen der politischen Klasse, die vom bisherigen Status der NNPC profitierten, die Begeisterung über die geplante Pflicht zur Transparenz im Ölsektor auch in engen Grenzen.
[28] Die Zeit wird kommen, wenn es kein Öl mehr gibt. Was wird dann aus den Leuten im Nigerdelta werden? ... Aber nicht nur davor haben wir Angst. Wenn es soweit ist, werden alle über uns lachen, sich von uns verabschieden und uns sagen, dass es kein Nigeria mehr gibt, und sie werden nach Hause gehen und sich an ihren eigenen Ressourcen erfreuen.
(Attah craves north-south consensus on resource control, The Nigerian Guardian, 2.5.14)
[29] Die Petroleum Products‘ Pricing Regulatory Agency sagt, sie zahle täglich für den Import von 59 Mio. Liter Benzin. Es werden aber nur 34 bis 35 Mio. Liter verbraucht. Und der Zoll weiß nichts über die Importe.
(tribune.com, 22.1.12)