Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Botschafterkrise in Weißrussland
Diplomatische Ordnungsrufe gegen das abweichende Verhalten eines fest eingeplanten Pufferstaates
Lukaschenko wieder „durchgedreht“? Wie an der Person des weißrussischen Präsidenten dingfest gemacht wird, dass er seine Macht „missbraucht“: Der Westen will die Zerlegung der Ex-Sowjetmacht irreversibel machen – und da kommt eine Ex-Sowjetrepublik in ihrer frisch erworbenen Unabhängigkeit ausgerechnet auf die Idee, Anschluss an Russland zu suchen und glatt eine Alternative zum Antrag auf Nato-Anschluss und EU-Mitgliedschaft in Erwägung zu ziehen. Bis Belarus auf das passt, was man hier von ihm will, hält der Westen einige gezielt eskalierte diplomatische Attacken für notwendig.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Botschafterkrise in
Weißrußland
Diplomatische Ordnungsrufe gegen das
abweichende Verhalten eines fest eingeplanten
Pufferstaates
Ende Juni findet der diplomatische Streit in Belarus um
die Botschafter- und Residenzensiedlung in Minsk seinen
Höhe- und Endpunkt: Die westlichen Botschafter verlassen
aufgrund einer Rückrufaktion der EU, Amerikas, Japans und
Polens nach einer Woche zügiger Eskalation eines, wie es
anfänglich schien, diplomatischen Sturms im
Wasserglas
(NZZ 11.6.98) die weißrussische Hauptstadt
Minsk.
Was war passiert? Lukaschenko hatte einen Antrag auf
Renovierung der Botschafterresidenzen gestellt, verbunden
mit dem Antrag auf Auszug der Botschafter aus der
Residenzensiedlung. Die westlichen Botschafter lehnen den
Auszug ab, Lukaschenko stellt daraufhin ein Ultimatum,
erklärt die Grundstücke der Botschaften zu hoheitlichem
Territorium, droht den Botschaftern mit Räumung und
sperrt einigen Residenzen Zugang, Strom und Wasser.
Innerhalb von zwei Wochen gedeiht die Botschafterkrise zu
einem Bruch des Völkerrechts und einer Verletzung der
Wiener Konvention
(so der US-Botschafter und die EU)
– zu einem Fall gar, der in der Geschichte der
Diplomatie beispiellos
(so
Kinkel, SZ 22. Juni 1998) sei.
Die Fronten sind klar und ergeben folgendes Bild: Dort
der Diktator
mit seinen bizarren
Umzugsforderungen
und Schikanen
, hier die
Allianz der von Baggern und Spaten
, aber auch von
Ultimaten
maltraitierten Botschafter, die ihre
Residenzen nur noch zu Fuß erreichen konnten
.
Der weißrussische Präsident Lukaschenko müsse
‚durchgedreht sein‘, hieß es am Sonntag in der
Bundesregierung
(SZ 22.
Juni).
So soll man sich das also vorstellen: Ein schlagartig durchgedrehter, böswilliger und tendenziell verrückter Diktator mißhandelt das unschuldige diplomatische Corps des Westens.
*
Die Feindseligkeit
der weißrussischen Diplomatie,
welche die Bundesregierung im Gestus völligen
Unverständnisses als Durchdrehen
beurteilt, hat
einen ausgesprochen unpsychologischen Gehalt, dafür aber
eine sehr politische Vorgeschichte. Die westlichen
Diplomatie ist nämlich seit geraumer Zeit mit der
diplomatischen Abstrafung Weißrußlands befaßt:
„Gegenüber den westlichen Staaten empfindet er (Lukaschenko) Feindseligkeit, weil sie seinen autokratischen Regierungsstil nicht hinnehmen, vielmehr Weißrußland den Beobachter-Status im Europarat entzogen und seine politischen Beziehungen zur EU eingeschränkt haben“ (SZ 22.6.).
„Im vergangenen Jahr hatte der EU-Rat die dringende Empfehlung an die Mitgliedsstaaten beschlossen, daß hochrangige Politiker Kontakte mit Lukaschenko vermeiden sollten.“ (HB 24.4.98)
Lukaschenko wird die protokollarische Anerkennung eines Staatsmanns verweigert, so etwas wie einer weißrussischen Souveränität zollt die EU höchst bedingt Anerkennung. Zwei Monate vor der Botschafterkrise schüttelt der niedersächsische Ministerpräsident Lukaschenko, der auf Einladung der kapitalistischen Großunternehmen Mannesmann, Siemens und Continental die Messe in Hannover besucht, die Hand und ißt mit ihm zu Mittag – und ein Skandal ist perfekt. Man holt just jenen Staatsmann, dem vom offiziellen Bonn jede protokollarische Betreuung verweigert wird, für ein paar Minuten aus der Ächtung und Quarantäne heraus, die ihm gemäß der außenpolitischen Doktrin des Westens und nach speziellem Geheiß des EU-Rats gebühren – und das ist schlicht unerhört.
Mit dieser diplomatischen Abstrafung exekutiert die
westliche Diplomatie ein negatives Urteil, das der
Politik gilt, die Lukaschenko in seinem Land treibt, und
die grundsätzliche Mißbilligung darüber
ausdrückt, wie er von seiner Macht Gebrauch macht. Dafür
hat man griffige Titel: „Reformfeindlichkeit“
wirft man Lukaschenko vor, der klinkenputzend bei
westdeutschen kapitalistischen Firmen unterwegs ist, die
ihn als Manager des geordneten Übergangs
schätzen
(HB 24.4.); und „Autokratie“
– demselben Staatsmann, der seine Politik mit Referenden
und Wahlen untermauert, die er auch noch gewinnt. In
beiden Vorwürfen kommt das westliche Verdikt gegen die
Staatsraison zum Ausdruck, die Lukaschenko
vertritt; gemeint mit ihnen ist der dem Westen nicht
genehme Gebrauch der Souveränität, die er innehat:
Weißrußland sucht Anschluß an Rußland, und eben dies paßt
hierzulande nicht. Wie übrigens am Tag der Abreise der
Botschafter ausdrücklich noch einmal bekannt gemacht
wird:
„Der Westen habe ein Interesse daran, daß Weißrußland ein souveräner Staat bleibe und sich nicht zu stark an Rußland binde“ (SZ 22.6.)
Eine klare Auskunft, warum und wozu der Westen die
Souveränität der ehemaligen sowjetischen Republiken haben
will: Nicht, damit sie diese gemäß ihrem
Interesse gebrauchen, sondern damit Rußland aus seinem
ehemaligen Machtbereich ausgeschlossen ist und bleibt.
Der Westen will die Zerlegung der Ex-Sowjetmacht
irreversibel machen – und da kommt eine Ex-Sowjetrepublik
in ihrer frisch erworbenen Unabhängigkeit ausgerechnet
auf die Idee, Anschluß an Rußland zu suchen und glatt
eine Alternative zum Antrag auf NATO-Anschluß und
EU-Mitgliedschaft in Erwägung zu ziehen. Das ist nicht im
westlichen Interesse
, also auf keinen Fall
hinnehmbar; und da Lukaschenko diesen unpassenden
politischen Willen seines Landes personifiziert, gehört
er nach allen Regeln der diplomatischen Kunst
verfemt und geächtet.
*
Diplomatische Isolierung
Weißrußlands ist
allerdings nicht damit gleichbedeutend, das Land in Ruhe
zu lassen: Ein Tolerieren der Staatsraison, die er
mißbilligt, kommt für den Westen nicht in Frage. Dabei
stößt er jedoch auf den ärgerlichen Umstand, daß ein
weißrussischer Nationalismus im Land selbst nur als
spärliche Minderheitenmeinung vertreten ist. Das wird
dann Lukaschenko als Unterdrückung des wahren
Volkscharakters zur Last gelegt, dessen schwach
ausgebildetem Nationalismus man dann selbst auf die
Sprünge hilft: Weißrussische Anschlußgegner wie die
weißrussische Volksfront werden aufgepäppelt, jede Menge
Anti-Anschluß-Pamphlete mit westlichen Geldern im
Baltikum gedruckt, und natürlich gilt es, unbeschadet des
Umstands, daß er vor Ort so selten vertreten ist, die
Rechte dieses oppositionellen Nationalismus einzufordern.
Dazu taugen als Berufungsinstanz dann auch katholische
Idioten gut, die es einfach nicht aushalten können, den
Gottesdienst auf russisch statt auf weißrussisch oder
lateinisch zu feiern.
Diese Anstrengungen zur Aufweichung der weißrussischen
Staatsraison laufen inoffiziell wie offiziell, und
selbstverständlich strapazieren sie die „Beziehungen“
erheblich zwischen den westlichen Staaten und ihrem
Vorposten Polen auf der einen und Weißrußland auf der
anderen Seite. In der ostpolnischen Stadt Bialystok wird
im März 1998 ein Zentrum für die polnisch-
weißrussische Bürgerbildung
gegründet, um die
demokratischen Kräfte in Weißrußland
zu
unterstützen – auf dem dann freilich keine
politologischen Traktate, sondern Strategien zum Sturz
von Präsident Lukaschenko erörtert
werden. Angesichts
der darauf folgenden diplomatischen Verstimmung
–
Weißrußland ruft den Botschafter aus Warschau zurück –
erklärt die polnische Regierung, dergleichen
Diskussionen
gehörten zum Wesen der
Demokratie
und seien wegen des Gebots der
Meinungsfreiheit
von ihr zu tolerieren und zu
schützen.
In Minsk richtet sich – gleichfalls im März 1998 – die
OSZE ein – und stellt sofort klar, daß dies nicht mit
einer Statusverbesserung Weißrußlands zu
verwechseln ist: Der polnische Außenminister Geremek
verkündet im Namen der OSZE daß es in Weißrußland
keine politischen Prozesse, politische Gefangene und
Verfolgung von Regimekritikern geben dürfe
. Das gegen
Lukaschenko in Anschlag gebrachte menschenfreundliche
Prinzip, von der Verfolgung politisch Andersdenkender
Abstand nehmen zu sollen, hat im Falle Weißrußlands einen
eindeutigen Inhalt, und nur der ist mit ihm
gemeint: Da wird nicht Sitte und Anstand im politischen
Innenleben angemahnt, sondern die offizielle Zulassung
aller Bestrebungen zur Zersetzung der weißrussischen
Staatsraison von innen gefordert. Dagegen wehrt
Lukaschenko sich dann auf seine Weise: Die Mission
wolle er nur tolerieren, wenn sie ihre Aktivitäten
reduziere und sich auf gelegentlichen Beistand zur
Verbesserung der Gesetzgebung beschränke
(NZZ
17.3.98) Gesetzgeberische Ratschläge wäre er durchaus
bereit zu akzeptieren, nur eben ein Votum für unpassenden
Nationalismus will er bei sich nicht dulden. Darüber
verewigt er sich dann als Menschenfeind.
*
Knapp zwei Monate nach diesem normalen diplomatischen
Umgang mit Weißrußland dann also der Eklat. Der
Bundesregierung zufolge breche (Lukaschenko) mit
seinen Schikanen gegen vornehmlich westliche Botschaften
das Völkerrecht auf eine Weise, daß man nach dem Zustand
seines Verstandes fragen müsse
. Diplomaten, die in
jüngster Zeit mit Lukaschenko zu tun hatten, halten die
Frage für berechtigt, ‚ob dieser Mann noch ganz bei Trost
sei‘.
(SZ 22.6.)
Nicht bei Trost
ist also Lukaschenko, wenn er
gegen die praktizierte Unversöhnlichkeit der westlichen
Politik seinerseits ein Zeichen der Feindseligkeit setzt;
wenn er den Botschaftern jener politischen
Respektlosigkeiten nicht seinerseits respektvoll zu
begegnen denkt, sie deswegen der Form nach wie
Untermieter behandelt, die sich dem Hausrecht des
Hausherrn zu fügen haben, und mit Berufung auf die Wiener
Konvention der Auffassung ist, daß die Diplomaten die
Regeln und Traditionen ihres Gastlandes zu respektieren
hätten.
(HB 23.6.)
Vollkommen bei Trost sind die feinen Gäste aus
dem Westen, die das Definitionsrecht über das Völkerrecht
sowieso gepachtet haben und nur bekannt geben, was sie
sich auf keinen Fall zumuten lassen wollen: Ihre
diplomatischen Grobheiten dürfen von diesem inferioren
Land keinesfalls in gleicher Münze zurückgezahlt werden.
Bei Trost sind die westlichen Diplomaten in ihrem
demonstrativen Erstaunen, daß Lukaschenko gegenüber den
westlichen Ultimaten
und Androhungen einer
weiteren Isolierung
nicht klein beigibt und sich
nicht selbst als Störfall aus dem Verkehr zieht. Und die
mit geheucheltem Unverständnis – wer nicht klein beigibt,
zeigt, daß er wohl nicht zu vernünftigen Berechnungen
imstande ist, also verrückt
sein muß – ein selbst
betriebenes diplomatisches Zerwürfnis in genau diese
Verunglimpfungen münden lassen. Das sind dann wohl die so
beispielhaften Verkehrsformen, die Herr Kinkel beim
Studium der Wiener Diplomatenkonvention gelernt hat.
*
Auch nach dem Eklat
wird die weitere Ächtung und
Zersetzung der weißrussischen Staatsraison betrieben:
Abzug der Botschafter auf unbestimmte Zeit
und die
Ausweisung der Botschafter Weißrußlands aus den Staaten
der EU und den USA; aus Protest gegen das autoritäre
Regime
ruft der IWF, der schon seit 1995 an
Weißrußland – wohl aus Gründen der Unterstützung – keine
Kredite mehr gibt, seinen Vertreter zurück, weil
Weißrußland nicht unterstützt werden dürfe
(NZZ 8.7.); im Juli wird die
weißrussische Delegation von der parlamentarischen
Versammlung der OSZE von ihren Beratungen ausgeschlossen,
anstelle der offiziellen weißrussischen Delegation wird
eine Gruppe weißrussischer Oppositioneller zugelassen;
usw. Wie immer ist diese westliche Weltordnungs- und
Weltaufsichtsdiplomatie ausgeprochen wohlwollend,
vorausschauend, strategisch umsichtig und stabilisierend
unterwegs:
„Bonn will aber nicht deshalb mit Weißrußland brechen, weil es gegenwärtig von einem unberechenbaren Diktator regiert und isoliert wird. Das Land mit seiner ungesicherten Identität sei zu wichtig, um links liegen gelassen zu werden, heißt es in der Regierung. Es handle sich um einen potentiellen Krisenherd, der Mittelosteuropa destabilisieren könne.“ (SZ 22.6.)
Dieses Land hat vom Westen seine wahre politische
„Identität“ fertig vordefiniert bekommen, und es wird
solange isoliert
und destablisiert
, bis es
auf das paßt, was man politisch von ihm will. Und solange
die Weißrussen nicht wissen, wo sie eigentlich
hingehören, muß man ihnen noch manche Lektionen in Sachen
demokratischer Berechenbarkeit beibringen – deswegen
dürfen wir mit diesem Land keinesfalls brechen
.