Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
„Boss-Napping“ in Frankreich:
Entlassene Arbeiter werden militant

Von jenseits des Rheins wird Ungewöhnliches gemeldet, was diesseits im entsprechenden Milieu Bewunderung und den Wunsch zur Nachahmung hervorruft: Die Franzosen, heißt es da, wehren sich wenigstens und lassen sich nicht alles gefallen wie die Deutschen. Die Offiziellen hierzulande verurteilen selbstverständlich sofort die Verrohung der Sitten: Solche Übergriffe darf es hier niemals geben! Und die Medien erörtern die interessante Frage, ob die Wut der proletarischen Krisenopfer unser Nachbarland wieder einmal in eine vorrevolutionäre Situation treibt.

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Länder & Abkommen

„Boss-Napping“ in Frankreich:
Entlassene Arbeiter werden militant

Von jenseits des Rheins wird Ungewöhnliches gemeldet, was diesseits im entsprechenden Milieu Bewunderung und den Wunsch zur Nachahmung hervorruft: Die Franzosen, heißt es da, wehren sich wenigstens und lassen sich nicht alles gefallen wie die Deutschen. Die Offiziellen hierzulande verurteilen selbstverständlich sofort die Verrohung der Sitten: Solche Übergriffe darf es hier niemals geben! Und die Medien erörtern die interessante Frage, ob die Wut der proletarischen Krisenopfer unser Nachbarland wieder einmal in eine vorrevolutionäre Situation treibt. Tatsächlich beantworten Belegschaften in zahlreichen französischen Firmen – genannt werden Continental, Faurecia, Sony, Molex, Caterpillar, Benetton – die Mitteilung der Geschäftsleitung, dass ihre Dienste nicht mehr gebraucht und die Beschäftigungsverhältnisse beendet würden, auf eine unerhörte Art. Während deutsche Arbeitnehmer in solchen Lagen Särge herumtragen, in denen sie die Arbeitsplätze oder ihr Vertrauen in die Arbeitgeber oder deren Anstand beerdigen, nehmen französische Kollegen ihre Bosse in eine Geiselhaft, die sie nötigen soll, es sich noch einmal anders zu überlegen und ihre unsoziale Entscheidung zurückzunehmen.

Die Gesinnung, aus der heraus sich die gekündigten Arbeiter zu ihrer militanten Aktion berechtigt sehen, erläutert eine Sprecherin von „Lutte ouvrière“ in der ARTE-Diskussion zum Thema (daraus auch die anderen Zitate):

„Die Menschen wollen ihren Arbeitsplatz verteidigen. Sie, die Unternehmer, können das nicht verstehen. Die Leute haben 30 Jahre dem Unternehmen alles geopfert, ihre Familie, ihre Gesundheit, und jetzt kommt die Entlassung. Bei Molex haben die Arbeiter im letzten Jahr einen Preis bekommen, wegen hervorragender Rentabilität, und jetzt das. Sie verteidigen sich mit den Mitteln, die sie haben, und wir sind solidarisch.“

Die Frau vom „Arbeiterkampf“ wird schon auch wissen, wie die Firma mit Arbeitskräften als Betriebsmitteln rechnet und dass sie diese wegen derselben Profitrechnung auf die Straße setzt, wegen der sie sie vorher eingestellt hatte. Die kämpferischen Geiselnehmer aber, für die sie um Verständnis wirbt, kümmern sich überhaupt nicht um den ökonomischen Zweck eines kapitalistischen Betriebs, dem ihr Erwerb nun zum Opfer fällt; sie opponieren auf einer ganz anderen, nicht ökonomischen, vielmehr höchst moralischen Ebene: Ausgerechnet daraus, dass sie über die Jahre selbstlos immer die Opfer gebracht haben, die für Rendite und Erfolg der Firma erforderlich waren; daraus, dass sie immer nur die braven Dienstleute waren, mit denen der Chef alles machen konnte, und sie sich und ihr Familienleben darüber haben kaputt machen lassen – ausgerechnet daraus soll ihnen das Recht erwachsen, nun einmal auf sich und auf ihrer Weiterbeschäftigung zu bestehen. Die rabiaten Geiselnehmer tun so, als hätten sie mit der Dummheit, sich ein Leben lang ausbeuten zu lassen, eine soziale Pflicht erfüllt, wahre Treue gegen ihren Dienstherren bewiesen – und finden es nun sehr schofel, dass der eine ähnliche Treue ihnen gegenüber vermissen lässt. Sie nehmen die Ideologie vom „Arbeitgeber“ bitter ernst und klagen den Chef an, seine Berufspflicht, Arbeit zu geben, zu verletzen.

Dass sich die Patrons aus dieser ihrer Verantwortung für die Arbeitsplätze stehlen, lassen die merkwürdigen Kämpfer ihnen nicht durchgehen: Sie verstehen die gegen ihre Lebensnotwendigkeiten rücksichtslose Entscheidung zur Werksschließung als einen Akt asozialer Gewalt und beantworten ihn mit ihrer für nur allzu legitim befundenen Gegengewalt. Sie besetzen das Büro des Chefs und lassen ihn nicht heimgehen. Er soll sich vom drohenden Arbeiterwillen bedrängt fühlen, Demütigung und Abhängigkeit erfahren, wie sie für die Mitglieder der Elite unbekannt sind. Mit ihrer Erpressung nehmen die Aktivisten die Person, die die Entlassungsentscheidung gegen sie durchsetzt, persönlich in Haftung: Das Treueverhältnis, das sie sich dem Chef gegenüber zugute halten, versuchen sie in umgekehrter Richtung zu erzwingen, wenn der Chef das menschlich Selbstverständliche schon nicht von sich aus tut.

Damit geraten sie aber an den Falschen. Der Manager, dessen die Arbeiter habhaft werden können, hat in der Regel nichts zu sagen, ist bloß Repräsentant einer Aktiengesellschaft, deren Firmensitz weit weg, oft im Ausland liegt:

„Das Problem ist, dass die Aktionen fast alle in ausländischen Unternehmen gelaufen sind. Wo ist der Ansprechpartner fragen sich die Leute. Ich habe nichts gegen Ausländer, aber wer sind die Ansprechpartner, wenn es um Entlassungen geht? Die sitzen in Indien, oder wie bei Molex, wo sich heraus stellte, dass der festgesetzte Manager die Entscheidungen gar nicht trifft. Die werden anderswo getroffen, 10 000 Kilometer entfernt, von Leuten, die man nicht kennt, von denen man nicht weiß, warum sie so entscheiden, in welchem Namen und mit welcher Legitimität! Da versetzen sie sich mal in die Arbeiter, die schreien in den Wald und bekommen keine Antwort, das beunruhigt mich.“

An die eigentlich Verantwortlichen, beklagt sich der Gewerkschafter von CFDT, kommt man nicht heran – so als ob es an der räumlichen Entfernung und der fehlenden Bekanntschaft mit den obersten Bossen läge, dass es Arbeitern nicht gelingt, den kapitalistischen Profitwillen eines Konzerns zu verhaften. Fast klingt aus solchen Kritiken eine gewisse Sehnsucht nach dem Patron vergangener Jahrhunderte, der am Ort wohnt, die Leute, die er ausbeutet, mit Namen kennt und ihnen in die Augen sehen muss, wenn er sie ins Elend stürzt.

Oder der seiner Freiheit beraubte Chef hat etwas zu sagen, hält sich aber an den Rat des Präsidenten der Republik und verspricht seinen Bedrängern alles, was sie verlangen, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Unter Nötigung gegebene Zusicherungen haben selbstverständlich keinerlei Gültigkeit, so Sarkozy: Der Staat schützt die Freiheit beider Vertragsparteien, Arbeitsverträge zu schließen und aufzulösen. Dass Arbeiter auf die Gelegenheit zu arbeiten existenziell angewiesen sind, berechtigt sie nicht zur Nötigung, wenn das Kapital sie nicht mehr braucht.

Auf die eine wie die andere Weise werden die Geiselnehmer darüber belehrt, dass sie nicht unter – verantwortungslosen, nur an ihrem Profit interessierten – Individuen leiden, die man Mores lehren könnte, sondern unter einem kompletten, staatlich geschützten Wirtschaftssystem. Das lässt sich leider nicht verhaften, und auch nicht moralisch anmachen. Sich gegen dessen Funktionäre moralisch ins Recht und sie im Büro fest zu setzen: Nur das kommt heraus, wenn Leute meinen, der Kampf gegen das System erübrige sich darüber, dass sie ihre Ausbeuter entschlossen als Arbeitgeber in die Pflicht nehmen.

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Wie zum Hohn bekommen die militanten Arbeitsplatzverteidiger auch noch von den Vertretern genau dieses Systems mitgeteilt, dass sie einer ökonomischen Sachgesetzlichkeit gegenüberstehen, deren Prinzip und Funktionsweise sich nicht durch Appelle oder individuelle Verhaltensänderung korrigieren lässt. Olaf Henkel, ein früherer BDI-Präsident, redet wie mit Kindern, wenn er auseinandersetzt, dass ein Kapitalist, der in der Konkurrenz steht, Zwängen ausgesetzt ist, denen er entsprechen muss. Seine Entscheidungen können und dürfen nicht an den Interessen der davon Betroffenen gemessen werden.

„Das Problem ist doch: Wenn der Automobilabsatz um 50 % sinkt, kaufen die Unternehmen auch keine Reifen mehr und dann können wir auch keine Reifen mehr herstellen. Wer will sie denn kaufen? Die Regierung kann sie nicht kaufen, wir können sie auch nicht alle auf den französischen Straßen anzünden. Es muss also reagiert werden, z.B. im Interesse des anderen Reifenwerks, das noch produziert, im Elsass.“

Der Reifenhersteller Continental baut in der Krise Überkapazitäten ab und schließt eines seiner französischen Werke, um Kosten zu senken und seine Rendite zu verteidigen. Das sagt der Propagandaprofi aus Deutschland so allerdings nicht. Das ist aber auch nicht nötig: Dass Arbeitsplätze rentabel sein müssen, um „sicher“ zu sein, ist in der Runde, in der er spricht, offenbar allen klar und wird noch nicht einmal von den Verteidigern der Geiselnehmer bestritten. Wenn aber schon der ganze Kapitalismus, sobald sein Funktionieren über die Konkurrenz zur Sprache kommt, als Sachzwang anerkannt wird, gegen den moralische Appelle nichts nützen, kann sich Henkel die nächste Frechheit erlauben und Entlassungen an einem Conti-Standort als Akt der Fürsorge nicht für die Dividende der Aktionäre, sondern für die Arbeitskräfte am anderen Standort ausgeben.

Wo Lohnarbeiter die Kapitalisten als Arbeitgeber in Anspruch zu nehmen versuchen, greift einer wie Henkel den Glauben an den sozialen Auftrag der Profitmacherei nur zu gerne auf, um darauf zu bestehen, dass dann die Unternehmertätigkeit auch in allen Konsequenzen als praktizierte Verantwortung und Fürsorge Anerkennung finden muss:

„Ich möchte einmal die Unternehmer verteidigen, das sind doch keine Sadisten, denen gefällt das auch nicht, Leute auf die Straße zu setzen. ... Es ist eine Beleidigung der Unternehmer und Politiker in Frankreich und Deutschland, wenn behauptet wird, dass die sich nicht um das Interesse ihrer Angestellten kümmerten. Das gehört doch zu ihrer allerersten Aufgabe! Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, ich kenne viele Unternehmer, aber keinen, der gern eine Fabrik schließt oder Leute entlässt. Ich kenne aber viele, die mit Spatenstichen neue Fabriken einweihen und gerne Leute einstellen.“

Das ist glaubwürdig: Natürlich bauen Unternehmer Arbeitplätze nicht gerne ab; sie stellen sie ja hin, um an ihnen zu verdienen. Und sie entlassen nur, wenn Arbeitskräfte sich nicht oder nicht mehr oder weniger als geplant rentieren. Weil sie nicht aus Jux und Tollerei, sondern aus geschäftlichen Erwägungen entlassen, verdient ihr Handeln, als Einsatz für die Interessen der Angestellten gewürdigt zu werden.

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Egal, ob die Geiselnehmer einem wie Olaf Henkel die frechen Sprüche abnehmen: Auf ihre Weise anerkennen auch sie selbst, dass sie es mit einem Wirtschaftssystem zu tun haben und nicht nur mit verantwortungslosen Individuen im Chefsessel. Dadurch nämlich, dass sie diese Individuen nach einer Nacht oder früher wieder in die Freiheit entlassen, in der die Freigelassenen dann ihrerseits ihre Geiselnehmer in die Arbeitslosigkeit entlassen. Damit ist die Sache erledigt. Die Kämpfer, die ihren Lebensunterhalt verlieren und nicht wissen, wie sie einen neuen finden sollen, haben es „probiert“; sie haben mit der Regelverletzung auf ihre außerordentliche Betroffenheit aufmerksam gemacht, haben es sich herausgenommen auszurasten. Die Freiheitsberaubung war ein Hilferuf an die Nation – und wird in Frankreich auch so verstanden: Angeblich findet eine satte Mehrheit der Bürger die Reaktion verständlich. Der Unterschied der französischen Militanz zu den Särgen, die man in Deutschland in vergleichbaren Situationen zu sehen bekommt, ist nicht eben groß. Andere Länder, andere Sitten, gleiche Fehler.