Die BRD – immer noch eine Atommacht eigener Art

Deutschland will sich in Energiefragen keine Bedingungen von anderen Staaten setzen lassen. Es entwickelt deswegen die friedliche Nutzung der Atomenergie und sichert sich damit atomares know-how und Material für die militärische Nutzung. Wegen weltweiter Überkapazitäten an Energie und reichlichen Vorhandenseins von Plutonium streiten sich die Parteien auf Basis der gewonnenen Freiheit um die effektivste Nutzung der atomaren Option.

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Die BRD – immer noch eine Atommacht eigener Art

In Gorleben standen sie sich neulich wieder einmal gegenüber: Die Staatsgewalt, die mit großem Polizeiaufgebot ihren Willen bekundete, am atomaren „Entsorgungskonzept“ festzuhalten; und die Kernkraftgegner, die mit ihrem symbolischen Widerstand – „auch noch“ – diesen Teil des atomaren „Wahnsinns“ scheitern lassen wollen. Die Gegner der Atomkraft halten sich nämlich einiges zugute:

„So steht die Hanauer 1,2 Milliarden-Ruine in einer Reihe mit den am Widerstand gescheiterten Atomgiganten dieser Republik. In trautem Kreis vereint mit dem 7-Milliarden-Grab eines Schnellen Brüters in Uentrop und der als Torso geendeten Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Ein Kapitel bundesdeutscher Atomgeschichte wurde im Dezember 1995 in Hanau geschlossen.“

In Kreisen der SPD entdecken sie eine – wenn auch nur unter dem Druck kritischer Bürger – wachsende Einsicht in die Notwendigkeit des „Ausstiegs“ aus einem umwelt- und lebens-„gefährlichen energiepolitischen Irrweg“. Das Beharren der Bundesregierung auf Fortführung des AKW-Betriebs identifizieren sie als Bemühen einer Atommafia aus uneinsichtigen Politikern und profitsüchtigen Energiemanagern, doch noch zu retten, was im Grunde längst nicht mehr zu retten ist: das deutsche Atomprogramm.

Die Vertreter der Kernenergiewirtschaft geben ihnen auf ihre Weise öffentlich recht:

„In Deutschland haben Technikskepsis, Heile-Welt-Gesinnung und die undifferenzierte Verbreitung von Katastrophenszenarien ein öffentliches Klima geschaffen, in dem ein sachlicher Dialog über die zukünftige Nutzung der Kernenergie mit einer belastbaren Zukunftsoption kaum mehr möglich ist.“ (Hans Michaelis, Carsten Salander, Hrsg.: Handbuch Kernenergie. Kompendium der Energiewirtschaft und Energiepolitik. 4.Aufl. 1995, S.351)

Verbittert verweisen sie auf einen „ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug“ durch SPD- und grüne Umweltminister, gegen den die Regierung mit ihrer Bundeshoheit viel zu wenig vorgeht.

Es ist ja auch nicht zu übersehen, daß unter den politisch Verantwortlichen offensichtlich Streit über den aktuellen und künftigen energiepolitischen Weg herrscht. Seit drei Jahren bemühen sie sich um einen neuen „tragfähigen Energiekonsens“, der die Frage der Kernenergie „streitfrei“ stellen soll, und können sich nicht einigen. Um was da zwischen den politischen Parteien und mit den Energieunternehmen gestritten wird, ist allerdings eine andere Sache. Es zeugt ja nicht gerade von Bescheidenheit, wenn Energiemanager – mit dem drohenden Hinweis: sie könnten auch ganz auf Atomkraftwerke verzichten, hätten aktuell ohnehin keinen zusätzlichen Bedarf und würden künftig AKWs nur noch bei garantierter politischer Unterstütztung bauen – die Politik um einen die Parteien und Legislaturperioden übergreifenden Grundkonsens angehen, also ihr Atomstromgeschäft quasi in Verfassungsrang erhoben wissen wollen; wenn sie dabei gleich auch noch auf Abschaffung des „Genehmigungsdickichts“ zugunsten einer standortunabhängigen Generalgenehmigung für eine neue Generation von Kernreaktoren dringen und Betriebsgarantien bis zum „technisch“ bedingten Ende für die laufenden AKWs einfordern. Auch bei den für Energiepolitik Zuständigen kann von Absage an die Atomkraft keine Rede sein. Bei der Regierung sowieso nicht. Aber auch die SPD in Gestalt ihres niedersächsischen Ministerpräsidenten will nicht „aussteigen“, sondern ihr vor 10 Jahren einmal verkündetes Votum für „Ausstieg aus der Atomenergie“ richtigstellen, um aus der „energiepolitischen Lähmung“ herauszukommen. So nämlich betrachtet die Partei ihre damals programmatisch geäußerten Bedenken und will „politische Handlungsfähigkeit“ zurückgewinnen. Viel mehr als der atomare Betrieb selber erscheint ihr untragbar, daß dieser Betrieb immerzu unter ihrem politischen Vorbehalten steht. Damit aus den SPD-Einwänden keine dauerhafte Behinderung deutscher Energiepolitik und deutschen Energiegesschäfts wird, hat Schröder mit Vertretern der Energiewirtschaft eigene Vorschläge für eine Regelung der Endlagerung ausgearbeitet und verspricht, bei ihrer Annahme den laufenden AKW-Betrieb abzusegnen. Die Genehmigung künftiger Atomkraftwerke will er überhaupt nicht ausschließen, die Entscheidung darüber bloß auf später vertagen und – darin einig mit seiner Partei – von der Beurteilung der neuen, verbesserten Reaktorkonzepte und von der energiepolitischen Situation zum Zeitpunkt abhängig machen, an dem Ersatz ansteht. Damit ist er nicht so weit entfernt von der Bundesministerin, die auf einer anderen Rangfolge besteht und ein klares Votum für die Kernkraftnutzung hier und heute fordert, damit die Kraftwerksbauer ihren neuen hochsicheren Reaktor auf alle Fälle fertigentwickeln und Deutschland nicht die führende Rolle bei dieser zukunftsträchtigen High Tech verliert.

Das alles zeugt erst einmal davon, daß und wie weit Deutschland eingestiegen ist und wie sehr sich seine Energiepolitiker darum bemühen, aus Bedenken keine Einwände und aus Einwänden keine Hindernisse werden zu lassen. Daß Deutschlands Politiker anfangen, aus der „Atomenergie auszusteigen“, das kann nur der entdecken, der 40 Jahre bisheriger Atompolitik für das verblendete Machwerk einer unverantwortlichen „Atommafia“ gehalten hat und deshalb bei jeder Änderung im nationalen Energie- und Atomprogramm zuversichtlich auf einen allmählichen Sieg der politischen Verantwortung und volkswirtschaftlichen Vernunft setzt – Energiesteuer und höhere Strompreise eingeschlossen. Geflissentlich übersieht er die nationale Verantwortung und kapitalistische Vernunft, die beim Atomprogramm am Werk ist – die zwingenden Gründe, die den „Einstieg“ geboten haben; aber auch die Natur des Streits, der um die Fortführung dieses Programms stattfindet.

I. Warum und wie Deutschland sich zur Atommacht entwickelt hat

Wenn Atomwaffen die Kriegführung revolutionieren, weil ihre Wucht die Feuerkraft aller anderen Streitkräfte – die deswegen „konventionell“ heißen – blamiert, dann braucht ein Staat wie die BRD auch welche. Wenn die zivile Nutzung der atomaren Kettenreaktion in AKWs zum schlagkräftigen Konkurrenzmittel kapitalistischer Nationen bei der Energieerzeugung wird, dann braucht ein Staat wie die BRD einen solchen Industriezweig schon gleich. Wenn mit der Produktion von Atomwaffen und Atomstrom ein Markt für einschlägige Techniken und Fabriken, für Spaltstoffe und ihre Verarbeitung, für Transportleistungen und Abfallverwertung entsteht, dann braucht ein Staat wie die BRD eine bestimmende Position auf diesem Stück Weltmarkt.

Das alles versteht sich in der modernen Staatenwelt von selbst. Keine Entdeckung auf diesem Sektor hat Entlarvungscharakter. Vor wem sollte sich ein Staat wie die BRD mit seinen entsprechenden Aktivitäten auch bloßstellen? Das nationale Interesse gebietet allemal das Ringen um die Spitze des Fortschritts von Gewalt und Geschäft. Und wenn Bürger sich über die Ergebnisse wundern, dann blamieren sie sich, nicht ihre Staatsmacht.

Die Sache mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie

Die Bundesrepublik ist ohne Atomwaffenproduktion in die nationale Nutzung der Kernkraft als industrielle Energiequelle eingestiegen – genau umgekehrt wie die Atomwaffenmächte, die den Übergang vom Atombombenbau zur Stromerzeugung gemacht haben, um die Unkosten ihrer nuklearen Bewaffnung zu ökonomisieren. Die politischen Regisseure dieses besonderen bundesdeutschen Fortschritts haben dabei natürlich auch an „die Bombe“ gedacht und ihr Interesse an diesem Ding nie aus den Augen verloren. Aber bloß, um an den Rohstoff für Atomwaffen heranzukommen, haben sie nicht für den Ausbau einer nationalen Kernkraftwerkskette auf ein Drittel der bundesdeutschen Stromerzeugung gesorgt. Dafür gibt es einen völlig hinreichenden imperialistischen Grund der zivilen Art: Die „friedliche Nutzung der Kernenergie“ gehört zu den Waffen der Konkurrenz.

Geschmiedet wird dieses Werkzeug unter Anleitung und Aufsicht des Staates, der sich für die nationale Energieversorgung zuständig weiß. Von deren Gelingen hängt die einheimische Produktion von Reichtum ab, ebenso dessen Zirkulation und zu guter Letzt das „Leben“ all derer, die sich im Dienste geschäftlicher wie staatlicher Bilanzen nützlich machen dürfen. Durch die kontinuierliche Versorgung mit Strom und Brennstoffen sichert der Staat den Betrieb von Stahlwerken, den Verkehr und die zivilisatorische Errungenschaft, daß so ziemlich alle gewaschen und gebügelt nach einem warmen Essen dorthin gelangen, wo sie gebraucht werden.

Der Standpunkt, daß die nationale Energieversorgung nicht nur zu machen, sondern dauernd zu sichern ist, hat einen einfachen Grund. Was das nationale Territorium an Energiequellen nicht hergibt, kommt auf dem Wege des internationalen Geschäfts ins Land. Der Staat, der sich als Garant des Wachstums bewähren will, das die unter seiner Kontrolle tätige „Wirtschaft“ hervorbringt, kommt sich auf dem Weltmarkt ziemlich abhängig vor. Seine Leistung in Sachen Energieversorgung wechselt mit den Geschäftsbedingungen, die er mit anderen Souveränen in bezug auf Energielieferungen zustandebringt.

Auf der einen Seite ist der Staat ein glühender Liebhaber des Weltmarkts. Der gestattet nämlich mit der Verwandlung sämtlicher Länder in Anlagesphären, mit der Internationalisierung des Geschäfts ein Wachstum, das die Beschränkung überwindet, die mit den natürlichen und volksmäßigen Ressourcen auf seinem Hoheitsgebiet gegeben sind. Einmal hergestellt, offenbaren ihm jedoch die internationalen Wirtschaftsbeziehungen keineswegs das harmonische und nutzbringende Miteinander, sondern eben immerzu seine – ärgerliche – Abhängigkeit: vom Willen anderer Souveräne, „sich zu öffnen“, von den Preisen, die bezahlt werden müssen oder nicht bezahlt werden können, von Kapitalverkehrskontrollen und Steuerlasten etc. Deswegen ist der Alltag der friedlichen Konkurrenz dauernd von internationalem Streit erfüllt. Das Gelingen des Geschäfts überall ist das Anliegen solcher Nationen allemal, und die Nationalität der Anleger, Händler und Arbeitskräfte ziemlich gleichgültig – wo die Erträge schließlich landen, wo der produzierte und verkaufte Reichtum sich in nationaler Größe niederschlägt, macht für die Regierungen aber viel aus.

In diesem Hin und Her wechselseitigen Feilschens und Erpressens, Kooperierens und Konkurrierens nimmt die Sache mit der Energie eine Sonderstellung ein. Die „Leistungsfähigkeit“ der heimischen Wirtschaft, die allemal der Hebel für internationale Geschäftserfolge bleibt, ist für Nationen des Typs BRD einfach nicht zu garantieren ohne einvernehmliche Regelungen mit Staaten, die Energierohstoffe anbieten und dies zu „erträglichen“ Konditionen. Die Interessen solcher Kohle, Öl und Gas exportierenden Länder stehen dem Erfolg „unserer“ „Industrienation“ deswegen viel prinzipieller im Wege als im Falle des Umgangs mit anderen Handelsartikeln vom Auto bis zur Aktie. Hier hat der Souverän, der sich als die Geschäftsbedingung für alles andere bewähren will, an den Berechnungen fremder Souveräne eine Schranke. Seine wichtigste materielle Leistung für seine Wirtschaft vollzieht der Staat gerade nicht in jener Unabhängigkeit, durch die er wirklich Sicherheit in der Energieversorgung herstellen kann.

Deshalb geraten alle Stellungnahmen und Aktionen von bundesdeutschen Politikern so imperialistisch. Wenn arabische Ölexporteure den Preis steigern, ruft man in Bonn eine „Ölkrise“ aus und rechnet das baldige Versiegen des Stoffes aus; sinkt der Ölpreis wieder, bleibt die Erkenntnis der gefährlichen Abhängigkeit von einer politisch instabilen Region gleichwohl hoch im Kurs. Wenn mit der Sowjetunion ein Erdgas-Röhren-Geschäft unterzeichnet wird, so warnt man sogleich davor, sich nicht zu sehr in die Hände des Feindes zu geben. Eröffnen sich bei den kapitalbedürftigen Nachfolger der Sowjetunion ganz neue Aussichten für die Erschließung von deren Öl-, Erdgas- und anderen Rohstoffvorkommen, vermißt man prompt ausreichende politische Stabilität und Investitionssicherheit, taxiert die ausnutzbare Notlage der neuen östlichen Marktwirtschaftsanhänger und dringt auf vertragliche Regelungen, die den prospektiven Zugriff garantieren. Die positive Folgerung, an die sich die lieben Bürger längst gewöhnt haben, lautet eben: Uns steht es zu, politischen Einfluß auf die Politik und das Geschäftsgebaren derer auszuüben, von denen „wir“ abhängen; und wenn „wir“ anderswo Energiequellen erschließen, dann hat der auswärtige Souverän uns auch Verfügungsrechte zu gewähren. Das Recht auf Einmischung ist die Konsequenz, die Regierende allemal aus der von ihnen selbst inszenierten Abhängigkeit ziehen. Mindestens für „Stabilität“ im Nahen Osten wollen sie sorgen, weil dort „unser Öl“ herkommt. An dieser lebenswichtigen Region hat die Weltmacht USA deswegen ihren Anspruch auf Führung und Weltaufsicht gegen unliebsame Regionalmachtbestrebungen vorexerziert; deswegen wollen die Europäer dort die Stiftung einer „Friedensordnung“ keinesfalls den USA überlassen. Wo andererseits Lieferländer – wie USA, Kanada, Australien beim Uran – Mitaufsicht über den brisanten Stoff beim Empfänger verlangen, da gilt es sich mit vereinten – europäischen – Kräften dagegen zu verwahren.

Zur Energiepolitik, die von einem einzigen nationalen Krisendenken beflügelt wird, gehört das Ideal der Autarkie: Auf niemanden angewiesen sein möchte der Staat an diesem heiklen Punkt seiner Souveränität. Die ganze Energieversorgung unter eigener Regie abwickeln, ohne daß einem von anderen Nationen Daten gesetzt werden können, ohne daß ein auswärtiger Macht- und Kurswechsel dazwischenkommt – so lautet der imperialistische Leitfaden gestandener Energieversorger. Woran zu sehen ist, wieviel Gewalt hinter der menschenfreundlichen Bestückung der Nation mit Tankstellen und Steckdosen lauert. Das friedliche Gegenstück dazu – alle Energierohstoffe auf eigenem Boden – scheitert im übrigen ebenfalls nicht an den Schranken der Natur, sondern denen der nationalen Hoheit. Dem Ideal einer gesicherten Verfügung über das elementare Lebensmittel jeglicher Industrie und allen staatlichen Lebens ist es also geschuldet, wenn Staaten sich um die Knappheit der Ressourcen sorgen und die Frage nach den sicheren bzw. vermuteten Reserven aufwerfen oder sich um erneuerbare Quellen kümmern. Es ist die Sorge vor einem staatlichen Notstand, der die Energiepolitiker zu „alternativen“ Energien greifen läßt – nicht solchen, die „schonender“ sind, sondern die mehr nationale Verfügungsfreiheit garantieren. Um sich in keine „einseitige Abhängigkeit“ zu begeben, streben Staaten danach, möglichst viele und verschiedene heimische und auswärtige Quellen zu erschließen. Gegenstand nationaler Sorge und Beschlußfassung sind deshalb gegenwärtig ergriffene und für alle Fälle vorhandene Energie-„Optionen“, die dauerhafte Sicherheit versprechen.

Der atomindustrielle Komplex – Biblis, Hanau und so weiter

Die Kernspaltung ist so eine Option, mit dem unschlagbaren Vorzug, daß sie ein Land von den Zufälligkeiten der Naturbedingungen in seinem Herrschaftsbereich und den Unwägbarkeiten weltpolitischer Lagen weitgehend unabhängig macht. So stand der „friedliche“ Ausweg aus „unserer“ fatalen Abhängigkeit in Energiefragen an: die Nutzung der Kernkraft. Und zwar lange bevor „Ölkrise“ und „Umweltprobleme“ die offiziell gültigen Gerüchte wurden. Die Entscheidung für Atomkraftwerke verdankt sich dem Kalkül einer Nation, die, auf dem Sprung zur wirtschaftlichen Weltmacht und zum militärisch potenten Frontstaat, in Sachen Energie auf Autonomie bestand. Die Argumente für den Einstieg in die Atomkraft lassen daran keinen Zweifel. Die politischen Klagen über die Unzuverlässigkeit „unserer“ Lieferanten, die ökonomische Zielsetzung „Verringerung unserer Importabhängigkeit“, die Klage, „wir“ wären so „rohstoffarm“, waren nie mißzuverstehen. Freilich wurde der einmal feststehende Beschluß nach guter demokratischer Sitte dem Volk nach dessen demokratischem Geschmack verdolmetscht. Ein paar gute Gründe, die einen Nutzen des gemeinen Mannes vorstellig machten, ließen sich leicht finden. Die Atomkraftwerke waren plötzlich unerläßlich für die Nachttischlampe und das Bad, viel umweltfreundlicher, ungemein gesünder als Kohledreckschleudern, billiger sowieso. Leider hat sich der Streit um die Berechtigung der Dinger nur am Glaubwürdigkeitsgehalt dieser Ideologien entzündet – und bis auf den heutigen Tag rechnen AKW-Gegner ihren Feinden vor, sie hätten sich verrechnet.

Von Verrechnen kann allerdings keine Rede sein. Erstens, wie gesagt, weil es den Politikern um die Sicherheit der nationalen Energieversorgung zu tun war. Zweitens hat die BRD sowieso nie bloß ein wenig Energiegewinnung aus Kernkraft angestrebt. Ihr Einstieg war von der festen Absicht bestimmt, diese Sorte industrieller Energieproduktion zu beherrschen. Die Republik wollte eine Industrie national auf den Weg bringen, die nicht nur AKWs betreibt, sondern auch AKWs baut und neue Reaktortypen entwickelt; eine Industrie, die sie mit Brennelementen versorgt, also nach Belieben radioaktives Material be- und verarbeitet; eine Industrie, die mit den lästigen wie mit den interessanten Abfallprodukten nuklearer Energieerzeugung fertig wird, also z.B. auch Plutonium gewinnt und aufbereitet, z.B. für den Einsatz in modifizierten Reaktoren, die die Brennstoffausbeute potenzieren. So hat die Nation nach und nach alles entwickelt, was Atomwaffenmächte sowieso brauchen; alles vom Standpunkt der industriellen Kernenergiegewinnung aus und gemäß der Logik des Beschlusses, auch ohne Waffenproduktion – der ein alliierter Vorbehalt im Wege stand – in der Konkurrenz mit den Atomwaffenmächten um die fortschrittlichsten industriellen Geschäftsmittel und um strategische Fähigkeiten und Produktionskapazitäten nicht zurückzubleiben, sondern Maßstäbe zu setzen.

Für dieses nationale Programm haben drittens alle Bundesregierungen die Prinzipien der „Marktwirtschaft“ zur Anwendung gebracht – wie auch sonst im nationalen Wirtschaftsleben, hier aber mit besonderer staatlicher Berechnung. Daß das nationale Interesse an der Atomkraft vom Ausgangspunkt her auf deren zivile Verwendung beschränkt war, wurde gleich so zum Besten gewendet, daß die Atomindustrie in allen ihren Abteilungen zum Gegenstand geschäftlicher Interessen werden sollte. Der Auftrag, mit Kernenergie und allem, was zu ihrer Herstellung dazugehört, Geld zu verdienen wie mit sonstiger Technik made in Germany, wurde erteilt und befolgt; denn er erging in Form von Geldspenden. Von Anfang an stand nämlich fest, daß der Umgang mit der Atomkraft in die Hände von geschäftstüchtigen Konzernen gehört. Damit an deren Kosten-Ertragsrechnung das unabdingbare Staatsprojekt nicht scheiterte oder sich ungebührlich verzögerte, sprang der Staat erst einmal mächtig ein und tut es nach wie vor. Staatliche Milliarden flossen und fließen in den Ausbau und Fortschritt des atomindustriellen Komplexes der Republik, erst nach Hanau, Wackersdorf, Kalkar usw. und jetzt nach Gorleben und anderswohin. Ohne solchen Einsatz des Staates für Entwicklung, Bau und Betrieb von „Forschungsanlagen“, „Prototypen“ und „Pilotprojekten“ kommt eine nationale Atomindustrie mit ihren technologischen Herausforderungen und der Notwendigkeit großer Kapitalvorschüsse mit langer Umschlagszeit eben gar nicht zustande – ganz zu schweigen davon, daß Folgekosten, Risikohaftung usw. staatlicherseits so geregelt werden müssen, daß ein „wirtschaftlicher“ Betrieb kalkulierbar ist. Durch den materiell untermauerten staatlichen Willen aber wird jedes Problem, von der Sicherheit der Anlagen über die Brennstoffbeschaffung bis zur Abfallbeseitigung, zur Geschäftschance gemacht.

Dafür brauchten die Freunde der Atomkraft nicht einmal neue Instrumentarien zu erfinden. All die politischen Mittel und Wege, eine nationale „Kernkraftwirtschaft“ aufzubauen, gab es nämlich schon. Es sind genau die politischen Instrumente, die die alternativen Energieplaner, die über den „hochsubventionierten Atomfilz“ lamentieren, liebend gerne dafür benutzen würden, um ihre Rechnungsweisen qua Staat lohnend zu machen: die staatliche Forschungs- und Entwicklungsförderung, die erwünschtes „Know-how“ selber stiftet bzw. sein Zustandekommen finanziert; manch andere Subventionskanäle des Staates; vor allem aber ein politisch organisierter, der Konkurrenz entzogener Strommarkt.[1] Die dem Atomprogramm geschuldeten Kostenbestandteile des Strompreises aufzulisten und sie samt den staatlichen Zuwendungen dem Kalkül der Kraftwerksbetreiber ideell als Minus zuzurechnen und so ihre Rechnungen zu bezweifeln, geht also voll an der Sache vorbei. Die Bilanz eines Unternehmens – erst recht, wenn es mit Atommeilern Strom produziert – ist keine Frage des in Heller und Pfennig zu ermittelnden Allgemeinwohls, das sich in Stückkosten pro kWh mißt. Die staatliche Rechnung nimmt sich da etwas anders aus. Da wird die Kontinuität der Versorgung mit Brennstoff gewürdigt, die niedrigen Transport- und Lagerkosten erfahren einen Vergleich mit denen des Öls, so daß die laufenden Betriebskosten schließlich geringer ausfallen als die herkömmlicher Kraftwerke. Ob diese Rechnungen im einzelnen stimmen, ist belanglos. Sie verraten nur das Programm, diesen Industriezweig rentabel zu machen.

Ganz nebenbei fällt bei dieser Weise, sich als Nation mit atomarem „Know-how“ zu bestücken, die ideologische Gratisgabe ab, daß das Geschäftsinteresse als Garant der zivilen Natur der Atomindustrie erscheint; sogar die staatlich gewünschte Geheimhaltung fällt zum großen Teil unter die Rubrik „Betriebsgeheimnis“. Die Staatsgewalt, politischer Auftraggeber und Regisseur des ganzen Treibens, definiert sich als Aufpasser, erläßt ein Atomgesetz mit eigenen Genehmigungsvorschriften für den Betrieb von Nuklearanlagen, damit nicht naturwüchsig privates Plutonium entsteht, unterstellt sich und ihr Werk den Euratom-Behörden usw. – und will damit gleichzeitig keinen Fortschritt be- oder verhindert haben.[2] Alles soll unter Staatsaufsicht, also in rechtlich geregelten Bahnen ablaufen – es soll aber vor allem laufen; auch Dinge, die noch gar nicht fertig entwickelt, also auch noch nicht genehmigt sind und durch die Genehmigungsprozeduren nicht gefördert, sondern nur verzögert werden können; auch Dinge, die – wie Kritiker ein ums andere Mal aufdecken – bei strikter Einhaltung aller Sicherheitsvorschriften überhaupt nicht ins Laufen kämen. Dieser kleine Widerspruch hat Arbeitsplätze für Juristen geschaffen, die das Recht dem jeweils aktuellen Produktionsinteresse entsprechend ausgelegt haben.[3] Dieselbe Diskrepanz zwischen staatlich sanktioniertem Geschäftsinteresse und einer Rechtslage, die dauernd stört, hat die Zirkulation von Bestechungsgeldern in Schwung gebracht. Gegen das bundesdeutsche Nationalinteresse an einem internationalen Spitzenplatz im atomindustriellen Geschäft ist dadurch nie verstoßen worden. Deshalb wurde ja auch mit schöner Regelmäßigkeit nach den gekünstelten Skandalen – die Rechtslage angepaßt.

Auf der anderen Seite haben sich an diese rechtsförmliche Staatsaufsicht die Beschwerden von Kernkraftgegner geknüpft und haben durch sie sogar eine ziemlich ausgiebige Berücksichtigung erfahren.[4] Die Sicherheitsfragen, die Einrichtung und Betrieb dieser Sorte Energiegewinnung mit sich bringen, – oder richtiger: daß sie ein einziges Sicherheitsproblem hinsichtlich des staatlichen Inventars sind – berücksichtigt die oberste Aufsichtsinstanz nämlich durchaus, weil ihr die Benutzbarkeit von Land und Leuten und ein geordnetes staatliches Leben nicht gleichgültig sind. Daß die Atomenergie ihrer Natur nach da einiges durcheinanderbringen kann und ihr Betrieb ohne eine gebührende Rücksichtslosigkeit nicht zu haben war, das war den politischen Machern dieses Programms vertraut und wurde berücksichtigt; auf die besondere Produktivkraft in Sachen Strahlung und Zerstörung hatten sie es bei dem Einstieg in die Atomindustrie ja ganz nebenbei auch noch abgesehen. Bedenkenlos in Sachen Kernkraftwerkssicherheit und Volksgesundheit haben die nationalen Planer also nicht gehandelt. Bloß stand für sie fest, daß der Vorrang des politischen Bedürfnisses, das die zügige Verwirklichung des Atomprogramms gebot, bei allen Anforderungen und Vorschriften in Sachen Betriebssicherheit – bei der Festlegung von unschädlichen Strahlengrenzwerten, von tolerierbaren Risiken und Praktiken des Normalbetriebs ebenso wie bei der Verpflichtung auf unverzichtbare Reaktorsicherheitssysteme und GAU-Vorsorgen – gewahrt bleiben mußte. Trennung stand an, zwischen dem Atombetrieb und seinen unvermeidlichen Wirkungen bzw. absehbaren Gefahren für Umwelt und Gesundheit ebenso wie zwischen den „Stufen“ des Atomprogramms vom Kernreaktor bis zum Vergraben der strahlenden Überreste. Was machbar schien, sollte auch gleich gemacht werden, was nicht oder noch nicht, durfte kein Hindernis sein. Auf diese Weise ist der Aufbau zügig vorangekommen: als laufendes Experiment und ziemlich genau so, wie man es den Russen angesichts von Tschernobyl nachgesagt hat. Erst einmal wurden die AKWs hingestellt, dann ließ man sich durch den Betrieb über die näheren Sicherheitsprobleme und Folgenotwendigkeiten belehren. So kamen dann kleinere und größere Störfälle, unerklärte Leukämiefälle und manches andere mehr zustande; auf der anderen Seite aber auch laufende Verbesserungen bei Laufzeit, Wirkungsgrad und Haltbarkeit der Meiler und mancher technische Fortschritt im Umgang mit den Sicherheitsfragen gemäß dem Ideal, die unvermeidlichen Emissionen und Materialzerstörungen im Griff zu halten und den Fall des Falles nach Möglichkeit aus- bzw. das dann unkontrollierbare Zeug möglichst verläßlich abzuschließen; bei der kommenden Kraftwerksgeneration kann man – so hört man – sogar das Risiko der Evakuierung großer Bevölkerungsteile im Falle eines GAU verbindlich ausschließen.

Dabei hat die nationale Atomaufsicht die in Gang gebrachten Geschäftsinteressen nicht aus den Augen verloren; an denen hatte sie in jeder Hinsicht ihre festen Anhaltspunkte. Denn gerade weil die Zuschüsse für Reaktorsicherheitstechnik, Schnelle-Brüter-Technologie, Wiederaufarbeitungsverfahren, Endlagerung usw. vom engeren fiskalischen Standpunkt aus bloße Unkosten sind, die nicht wie in anderen Staaten durch militärische Erfordernisse sowieso gerechtfertigt sind, sollen sie sich um so mehr volkswirtschaftlich auszahlen – also lohnende Geschäfte in Gang setzen, die die Bilanzen der Nation weiter verbessern. So war die Einrichtung eines nationalen atomindustriellen Komplexes gleichbedeutend mit dem Aufbau eines Ex- und Importgeschäfts der großzügigsten Sorte. Da zahlte es sich aus, daß Angebot und Nachfrage von deutschem Boden aus keiner speziellen militärischen Zweckbestimmung mit ihren Einseitigkeiten und Restriktionen unterliegen. Im Zeichen des Zivilen wurden deutsche Reaktoren einschließlich Brennstäben und sonstigem Gerät zum Exportartikel. Unter demselben Vorzeichen schaltete die BRD sich in den internationalen Spaltstoffhandel ein: als militärisch unverdächtiger, also politisch unverfänglicher Käufer von Uran ebenso wie als dessen Weiterverkäufer sowie als Verarbeiter und Anbieter von – noch zu gewinnendem oder schon aufbereitetem – Plutonium, das im bundesdeutschen Kernkraftwerksbetrieb dauernd anfällt und nicht für eine eigene nationale Atomwaffenproduktion gebraucht wird, zum „Endlagern“ aber eventuell zu schade ist.

Partner für dieses hochpolitische Geschäft ließen sich finden; zuallererst in Europa, im Rahmen des Euratom-Vertrages. Aber auch weiter entfernt gab es Kundschaft: Staaten, die eine Atomindustrie haben wollten, ohne sie aus eigenen Kräften aufbauen zu können. Schon damit ist übrigens gesagt, daß diese Staaten – Israel, der Iran des Schah, Pakistan, Südafrika, Brasilien, Argentinien gehörten bekanntermaßen dazu – auch ein andersgeartetes nationales Interesse an diesem Industriezweig haben als die BRD mit ihrem prinzipiellen und entsprechend anspruchsvollen Konkurrenzstandpunkt. Die Kalkulation dieser Kunden fängt nicht mit dem Willen zu einem Spitzenplatz unter den Atommächten, sondern mit dem Willen zur Bombe an und rechnet sich von da her rentable Kernkraftwerke aus oder auch nicht. Gerade deswegen gefielen ihnen die bundesdeutschen Angebote so gut, weil die nämlich mit der Lüge Ernst machen, es gäbe eine rein zivile Atomindustrie ohne Übergänge in die militärische Nutzung. Im Zeichen des Zivilen war eben aus deutschen Landen so gut wie alles zu beziehen, was für Atombomben nötig ist.

Freilich wurde und wird auch von der bundesdeutschen Geschäftswelt nicht unbesehen jede Nachfrage bedient. Als Teilhaber am westlich-demokratischen Weltordnungsgeschäft teilt der bundesdeutsche Staat das imperialistische Interesse, daß nicht jeder beliebige Souverän sich nach eigenem Ermessen und seiner Finanzkraft in den Besitz von Atombomben und der Fähigkeit zu ihrer Produktion setzen kann. Die Bedienung der entsprechenden Nachfrage wird daher unter Staatsaufsicht so gestaltet, daß sie die Teilhabe an und die Kontrolle über die entsprechenden Vorhaben auswärtiger Machthaber einschließt. Man kann ganz ohne kriminalistische Recherchen davon ausgehen, daß die Bundesregierung in die Atomindustrien aller Länder, die ihr Zeug in Deutschland gekauft haben, politisch eingeschaltet ist. Das ist sie allerdings nicht bloß ihrer imperialistischen Aufsichtspflicht schuldig, deren Maßstäbe nicht zuletzt an den regelmäßigen Plutonium-„Skandalen“ zu Genüge klargestellt worden sind – einmal war es der Verdacht, es sei an Ghaddafi geliefert worden, ein anderes Mal waren gewisse Mengen angeblich wegen mangelnder Sorgfaltspflicht der Behörden in Hanau nicht mehr aufzufinden, das dritte Mal kam man unter Einschaltung des BND russischem Atomschmuggel in deutsche Lande auf die Spur, so daß Deutschland Kontrollansprüche anzumelden berechtigt war. Wenn eine Bundesregierung den Aufbau einer Nuklearindustrie mit ihrer immanenten Bombenperspektive in anderen Ländern zuläßt, dann will sie auch, daß diese Staaten durch sie und in Abhängigkeit von ihr zu Atommächten der kleineren Art werden. Kontrolle über die nuklearen Ambitionen anderer Staaten hat eben gar nichts mit deren Be- oder Verhinderung zu tun, im Gegenteil. Eine von Hanau aus mitkonstruierte südafrikanische Bombe kommt nicht zustande, ohne daß eine „Atomschwellenmacht“ RSA in strategische Kalkulationen aus Bonn hineinpaßt. Der internationale Brennstoffkreislauf ist immer ein gewichtiges Stück Weltpolitik – auch wenn es erst einmal bloß in der „zivilen“ Logik des Autarkiestrebens einer Nation ohne eigene ausreichende Uranvorkommen liegt, wenn die bundesdeutsche „Kooperation“ mit Südafrika, das den Rohstoff hat, aber dafür einiges braucht, um damit etwas anfangen zu können, vorbildlich vorangekommen ist.

Bei all seinen atomindustriellen Aufbauleistungen hat Deutschland eben auch an die technologischen und politischen Fähigkeiten gedacht, die den Status einer Atommacht ausmachen, auch wenn und gerade weil es auf das nationale Recht zum Besitz von Atomwaffen förmlich verzichtet hat.[5] Und wenn sich Deutschland im Verein mit seinen westlichen Partnern heutzutage in die Betreuung der „maroden“ östlichen Atomindustrie einschaltet und wenn zwischenzeitlich sogar die Vernichtung russischen Waffenplutoniums in deutschen Fabriken im Gespräch war, dann sind das Beweise, wie selbstverständlich sich Deutschland zur atomaren Aufsicht und zu den einschlägigen geschäftlichen und strategischen Ambitionen berechtigt und inzwischen befähigt sieht.

II. Wie Deutschland sich als zivile Atommacht einrichtet

Schenkt man den Gegnern Glauben, soll dieses Programm – genauer gesagt das, was sie sich darunter vorstellen – inzwischen also einigermaßen gelitten haben. Das Projekt einer Atommacht Deutschland auf dem Rückzug wegen Sicherheitsproblemen beim Reaktorbetrieb, wegen vermehrter Krebsfälle im Umkreis von Atommeilern, wegen des immer wieder aufflammenden symbolischen Widerstands von Bürgern und wegen wachsender Einsicht von Politikern, was sie ihrem Land und seinen Bürgern zumuten? Das kann nicht wahr sein und ist es auch nicht. Und so wollen es die Kritiker ja auch gar nicht verstanden wissen, weil sie sich das deutsche Atomprogramm sowieso ganz anders zurechtgelegt haben: als einen falschen, gefährlichen, unnötigen, kostspieligen – eben unverantwortlichen Weg, wie die zuständige Politik mit unser aller Problem einer Energieversorgung bei knappen Ressourcen fertig zu werden versucht. So gelangen sie zu der Auffassung, daß sich in Deutschland schon manches zum Besseren gewendet habe: Das WAA-Projekt in Wackersdorf ist gestrichen, Brüter und Hochtemperaturreaktor sind aufgegeben, Hanau geschlossen; Gerichte, grüne und SPD-Umweltminister machen sich des öfteren für strengere Genehmigungsverfahren, Sicherheitsüberprüfungen und Abschaltung stark…

Bloß sind dabei gewichtigere Gründe im Spiel als die Rücksicht auf Gesundheit und Meinung demokratischer Wähler mit ihrer Liebe zu einem strahlenfreien Deutschland. Keiner der Gesichtspunkte, die für Deutschlands Macher den Aufbau einer Atomindustrie unverzichtbar erscheinen ließen, hat sich nämlich erledigt; sie werden heute anders gewichtet. Das kommt daher, daß dieses Land jetzt ein für alle Mal über ein umfassendes atomares „Know-how“ und seine diversen Anwendungsfelder gebietet. Deutschland muß keine Atomindustrie mehr aufbauen, es hat dank seiner Aufbauanstrengungen eine und kann mit ihr als einem mehr oder weniger fertigen nationalen Besitzstand kalkulieren. Und allein schon deswegen relativiert sich die unbedingte Notwendigkeit und der eifersüchtige Drang, über alles, was die Konkurrenten sich erst einmal aus militärischen Gründen hingestellt haben, auch vollständig und um jeden Preis in eigener Regie zu verfügen. Deutschland ist bei der Produktion von Atomstrom dabei, mitführend in so ziemlich allen Bereichen der Atomtechnologie, und nicht wenig Kapital ist engagiert. Das beschert der Nation einige neue Freiheiten im Umgang mit der interessanten Materie, aber auch ein paar nicht zu übersehende neue Sachzwänge.

Die Freiheit an der Energiefront – einigermaßen grenzenlos

Die energiepolitische Rechnung mit den Vorzügen der Atomkraft ist aufgegangen. Stolz vermelden die Atompolitiker den Zuwachs an Unabhängigkeit, auf den sie so scharf sind. Wenn sie damit angeben, wieviel Prozent des nationalen Energiehaushalts inzwischen und – da sind sie sich sicher – auf absehbare Zeit auf das Konto der strahlenden Sicherheitswunder gehen, erinnern sie gern an die Leitlinie ihrer Politik. Jeder Ausfall ist harmlos, libysches und irakisches Öl ist genauso ersetzbar wie russisches Erdgas, wir sind von keiner Seite mehr erpreßbar, und die Streuung dieses Risikos hat das Ihre zu den bescheidenen Ölpreisen beigetragen – nebenbei ein schöner Hinweis darauf, daß es um den einmal als strittig bezeichneten Bedarf gar nicht ging, sondern um seine Kosten. Die Ideologie von der Knappheit, die in der atomaren Durchsetzungsperiode gute Dienste getan hat, ist ziemlich außer Mode geraten; statt dessen stellen die Zuständigen heute mit Genugtuung fest, daß

„die Verfügbarkeit von Energie kein Engpaßfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands ist und nicht abzusehen ist, daß Deutschland den Zugriff auf das international ausreichende Energieangebot verliert.“

Es herrscht nach offizieller Auskunft sogar „Überversorgung“ – also genügend Sicherheit, für alle Fälle gerüstet zu sein.

Nicht zuletzt ein Erfolg des besonderen deutschen Wegs. Deutschland hat ja der Atomkraft nur die Rolle einer Option im „Drittelmix“ aus Kohle, Öl und Erdgas sowie Kernkraft zugedacht, weil es zusätzlich auf die eigenen Energiereserven und ein rohstoffreiches, aber devisenarmes östliches Hinterland spekuliert hat. Dieses deutsche Autarkieprogramm ist noch viel gründlicher aufgegangen, als sich das die vorausschauenden Planer zu erhoffen gewagt haben. Der eigene Herrschaftsbereich hat sich um Ostdeutschland erweitert und sich dadurch auf Jahrzehnte hochgerechnete zusätzliche Bestände leicht und kostengünstig zu gewinnender Braunkohle in Ostdeutschland einverleibt, so daß die kostspieligere heimische Steinkohleförderung endgültig nur noch als strategische Reserve behandelt und politisch erhalten wird. Darüberhinaus hat sich Deutschland nach außen zusätzliche Versorgungssicherheit erobert. Deutsche Energie- und Bergwerksunternehmen sind an der Erschließung und Ausbeutung auswärtiger Vorkommen beteiligt, sie können auf europäisches Erdgas und Erdöl, kanadisches Uran und australische Kohle zurückgreifen. Der noch mit der Sowjetunion ausgehandelte Zugang zu deren Vorräten hat inzwischen ganz neue Perspektiven gewonnen: Das riesige Reservoir an fossilen Brennstoffvorräten Rußlands steht frei zur Prospektion und mit einer „Europäischen Energiecharta“ sind dafür die politischen Bedingungen geschaffen.[6] Und der Stromverbund arbeitet in Westeuropa bei allen nationalen Marktschranken längst länderübergreifend. Die Verfechter einer europäischen Erweiterung deutscher Wirtschaftsmacht haben sich also auch energiepolitisch Europa samt Hinterländern erschlossen.[7] Deswegen behandeln und verhandeln sie die atomare „Option“ auch nicht mehr vom Standpunkt der Not, der keine Alternativen läßt – ganz anders als zum Beispiel Japan, das sich mit seiner Insellage und Rohstoffarmut als ein einziges Notstandsgebiet im Hinblick auf eine gesicherte Energieversorgung versteht. Anders als Deutschland kann es nämlich weder in Energie- noch in Waffenfragen auf eine Erweiterung seiner Potenzen im Verein mit seinen Nachbarn rechnen. Wegen dieses untragbaren Mangels einer Weltwirtschaftsmacht hat es sich auf einen unbedingten Ausbau der Atomenergie samt Brütertechnologie und nationalem Brennstoffkreislauf verlegt und setzt sich über alle Bedenken wegen der Erdbebengefährdung und Enge des nationalen Raumes hinweg. Es sind solche weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Lagebeurteilungen und Ambitionen, nicht aber eine rücksichtslosere oder verantwortlichere Gemütsverfassung der jeweiligen nationalen Politiker, die darüber entscheiden, was eine Nation sich und ihrem Inventar an Kosten – Geld und Kredit und Gefahr für Land und Leute – zumutet.

Zweitens hat sich mit den Fortschritten des deutschen Atomprogramms auch die Sorge relativiert, die zur Begründung des „nationalen Brennstoffkreislaufs“ mit allem Drum und Dran immer wieder herbeizitiert wurde: die Befürchtung, daß der Nachschub an Uran knapp, damit teuer und zum Erpressungsmittel geraten könnte. Die Versorgung funktioniert – und zwar kostengünstig. Die mit dem atomaren Betrieb richtig in Gang gekommene Prospektion hat immer neue Vorkommen entdeckt und in den bundesdeutschen und den für sie zugänglichen europäischen Lagern ist genug an kurz- und langfristigen Reserven vorhanden.[8] An waffenfähigen Varianten des Brennstoffs und allen anderen Arten Plutonium besteht in Deutschland und anderswo schon seit längerem kein Mangel, sondern Überfluß, so daß die Sorge, auf diesem Feld eventuell irgendeine Befähigung zu verpassen, mehr und mehr der anderen gewichen ist, wie man das brisante Zeug, das tonnenweise anfällt, am sichersten los wird.

Von daher haben sich für die Planer und Macher der deutschen Atomindustrie die zwingenden Gründe für eine umfassende Plutoniumwirtschaft auf deutschem Boden entscheidend relativiert. Das nationale Bedürfnis, mit dem Brüter und Hochtemperaturreaktor den kostbaren Stoff zu gewinnen, bzw. brennstoffsparend zu verheizen – die gepriesene Doppelleistung der Brütertechnologie –, hat sich deshalb abgekühlt – allerdings erst dann, als beide technologischen Verfahren als fertige Anlagen, also im Prinzip made in Germany beherrschbar, existierten. Seitdem zählen technische Schwierigkeiten, Sicherheitsbedenken und mangelnde Exportchancen als Einwände, die solange nicht von der Hand zu weisen sind, bis sich die Lage ändert – der mit einem ganz eigenen Brennstoff ausgerüstete Hochtemperaturreaktor (HTR) bleibt jedenfalls weiter im förderungswürdigen Projektangebot.[9] Und nachdem feststand, daß Brüter und HTR absehbar nicht in die deutsche „Energielandschaft“ einbezogen werden sollten, haben die glühenden Propagandisten eines sich selbst ins Unendliche verlängernden Brennstoffzyklus auch vom Projekt einer Wiederaufbereitungsanlage, das sie jahrelang gegen alle Proteste durchgezogen haben, Abstand genommen.

Das Atomgeschäft und seine politischen Perspektiven: Europäisierung

Durchgesetzt hat sich das Urteil, daß einiges für eine nationale Atomindustrie verzichtbar ist, nicht zuletzt über das Argument: nicht profitabel genug. Nachdem das Geschäft mit den Energiegroßanlagen und allem, was dazugehört, erst einmal politisch tatkräftig in die Wege geleitet war, sollte nämlich der Geschäftssinn von Siemens, REW usw. auch für die atomaren Projekte bürgen und eine Ökonomisierung der staatlichen Kosten gewährleisten.[10] Den Profit deutscher Kraftwerksbauer und -betreiber wollte der Staat ja nicht immerzu bloß finanzieren, sondern seine atomaren Belange sollten umgekehrt durch deren geschäftlichen Erfolg dauerhaft getragen und erledigt werden. Daran haben deutsche Politiker Maß genommen und sich von ihren Unternehmern darüber belehren lassen, was die für lohnend erachtet haben. Das war längst nicht alles, was ursprünglich einmal im Angebot sein sollte. Daran zeigt sich, daß ohne unbedingten politischen Willen, sich mit allem auszustatten, die einschlägigen Gerätschaften eben nicht in die „Energieversorgungslandschaft“ geraten. Am Desinteresse der Unternehmen, Kosten und Betriebsrisiken zu den vom Staat gestellten Bedingungen und mit dem von ihm für nötig befundenen Auflagen zu tragen, bzw. verstärkt mitzutragen, sind die „Kommerzialisierung“ des Brüters und schließlich auch die deutsche Wiederaufbereitungsanlage und manches andere mehr gescheitert; die deutschen Betreiber haben sich auf kostengünstigere Wege und auswärtige Anlagen verlegt – und die deutschen Politiker haben ihnen recht gegeben.

Zumal vom geschäftlichen Standpunkt sowieso Veränderung anstand. Die Anstrengungen der paar dazu befähigten Nationen, die sich erst einmal überhaupt nicht von Marktbedürfnissen abhängig gemacht, sondern ihre Bedürfnisse zum Angebot ausgestaltet haben, haben nämlich dazu geführt, daß der „Kernenergiemarkt“ national und international insgesamt an „chronischen Überkapazitäten“ leidet – dies der kapitalistische Preis für die Konkurrenz der paar Machernationen um ihren atomaren Status und die Sicherheit ihrer Energieversorgung. Der Zukunftsmarkt, den die zuständigen Lobbyisten entlang den staatlichen Ambitionen hochgerechnet haben, hat diesem Maßstab nicht standgehalten. Der Bedarf bleibt dank rationellerem Energieverbrauch hinter den Erwartungen zurück und immer mehr Nationen kommen als Kunden politisch und finanziell sowieso nicht in Frage. Auch die partnerschaftliche „Hilfe“ für die „Modernisierung“ des Kernkraftparks im Osten, die die zu geringe Nachfrage nach unserem „Know-how“ im Westen kompensieren sollte – eine der Lehren aus Tschernobyl und dem Ende der Sowjetunion – ist wegen des östlichen Mangels an Wirtschaftswachstum und Kredit nicht zufriedenstellend in Gang gekommen. Also stand mit dem Ende der Aufbauphase einer Atomindustrie einerseits eine gewisse „Ernüchterung“ über die Geschäftsaussichten, andererseits eine um so entschiedenere Umorientierung an: nicht „Ausstieg“, sondern die Konzentration des Kapitals – und da es national schon konzentriert war, die Zusammenfassung im europäischen Maßstab.[11]

So haben sich die deutschen Politiker von der endgültigen Einrichtung einiger Abteilungen des „atomindustriellen Komplexes“, die sie mit Milliarden bis zur Anwendbarkeit vorangetrieben haben, verabschiedet und setzen statt dessen verstärkt auf europäische Kooperation. Die erreichte Teilhabe am atomaren Wissen und Können und die Fortschritte eines Europa, in dem Deutschland auf seine wirtschaftliche Führerschaft und die eingerichteten Abhängigkeiten setzt, haben bei ihnen die Furcht vor Versäumnissen und Ohnmacht auf diesem wichtigen Fortschrittsfeld gemildert. Zumal die Bundesrepublik auch in diesem Bereich ihr Interesse an Autarkie von Anfang an grenzüberschreitend angelegt und ihren „nationalen Kreislauf“ von Beginn an gezielt als internationale Zirkulation der heißen Ware unter Einbeziehung ausländischer Wiederaufbereitungsanlagen aufgezogen hat, schon deswegen, weil der deutsche Staat seinen Betreibern den Betrieb ihrer AKWs unbedingt vor der Fertigstellung einer nationalen Wiederaufbereitungsanlage ermöglichen wollte. Inzwischen halten sie eine stärkere gesamteuropäische Arbeitsteilung bei der Anwendung der Atomenergie insbesondere mit Frankreich für möglich und nützlich. Sorge vor einer neuen Abhängigkeit spielt offenbar bei diesem Partner keine entscheidende Rolle; Frankreich – und auch Großbritannien – haben sich stets als Helfer erwiesen, wenn es darum ging, die europäische Freiheit im Umgang mit dem potentiellen Waffenmaterial gegenüber Amerika zu behaupten. Die Entschlossenheit Frankreichs, bei der Stromerzeugung ganz auf die Atomenergie zu setzen, erspart daher manchen Aufwand, der in den Augen deutscher Politiker keinen lohnenden Zugewinn mehr darstellt oder zumindest nicht für unverzichtbar gehalten wird für die Ambitionen einer europäischen Führungsmacht ebenso wie für seine Geschäftswelt.

Eine bleibende Last: Die Sache mit dem Risiko

All diese energiepolitischen Berechnungen und Entscheidungen sind unter dem Blickwinkel der besonderen Herausforderungen und Gefahren, die die strahlenden und störanfälligen Stromfabriken mit sich bringen, ausdiskutiert und abgewickelt worden. Denn mit der erfolgreichen Einrichtung ihrer atomaren „Option“ haben sich die risikofreudigen Politiker auch verstärkt dem Problem gewidmet, daß sie sich mit dem atomaren Potential zugleich ein staatlich nicht so leicht zu kalkulierendes Gefahrenpotential und damit einige auch für ihr hartgesottenes nationales Verantwortungsbewußtsein nicht ganz gewöhnliche Sachzwänge eingehandelt haben. Die fortschreitende Erfahrung bestätigt immer wieder, daß sich bei dieser Sorte Energiegewinnung die störenden Wirkungen und Gefahren einfach nicht als vernachlässigbare Nebenwirkungen und gewöhnliches Risiko eingrenzen lassen, sondern sich laufend zu elementaren hoheitlichen Kontroll- und Sicherheitsproblemen auswachsen. Für die verschiedenen Instanzen haben sich mit dem wachsenden atomaren Geschäft die schwer abzuschätzenden Gefahren, die eine ständige Aufsicht und einiges an sonst nicht gewohnten nationalen Anstrengungen nötig machen, als ein nicht zu verachtendes Ärgernis herausgestellt. Das hat den Auseinandersetzungen um die Vor- und Nachteile, Ausbau oder Begrenzung des atomaren Betriebs den Charakter einer Grundsatzfrage verliehen, die Politik und Öffentlichkeit bewegt und Bürger aufrührt. Allerdings sind auch die härtesten Risiken für ein möglichst reibungsloses Getriebe im Lande stets Gegenstand sorgfältigster Abwägung.

Es müssen sich erst die unschlagbar guten Aufbaugründe relativieren, es muß sich erst die Furcht verlieren, daß Deutschland ohne eine alles umfassende und exklusiv verfügbare nationale Atomindustrie keine angemessene Zukunft im Kreis der Mächte hat, die weltwirtschaftlich und weltpolitisch zählen, um Bedenken bezüglich Strahlenschäden, Störfallrisiken und unbeherrschbarer Katastrophenszenarien und Zweifeln am Stellenwert der schönen Option mehr Raum zu geben.[12] Insofern ist es – ausgerechnet – dem gelungenen Aufstieg Deutschlands, zu dem auch der nationale Besitzstand Atomindustrie zählt, und der damit errungenen Freiheit zu verdanken, daß inzwischen das „Sicherheitsbewußtsein“ geschärft ist und die Frage nach Notwendigkeit, Umfang und Stellenwert dieser „Option“ erlaubt. Die Antworten werden, wie es sich für eine funktionierende Demokratie gehört, nach Partei- und politischen Konkurrenzinteressen gewichtet.[13] Über der Auseinandersetzung zwischen SPD, Grünen und Bundesregierung sowie zwischen den politisch Zuständigen und den Betreibern kommt dann die praktische Sortierung voran, was als Geschäftssphäre eine Zukunft hat bzw. haben soll, was die Politik an Kernkraft auf jeden Fall für unverzichtbar ansieht, wieweit sie andererseits Sicherheitsbedürfnissen Raum zu geben gewillt ist, woran sich ihre Energiewirtschaft und ihre Kraftwerksbauer dementsprechend auszurichten haben.

Gorleben und kein Ende

Der Sachzwang, an dem gegenwärtig diese politische Kontroverse ausgetragen wird, ist die Lösung der „Endlagerfrage“ – einfach deshalb, weil dieses letzte Erfordernis des atomaren Kreislaufs wie eine getrennte, erst zu allerletzt zur Entscheidung anstehende Angelegenheit behandelt und über zwanzig Jahre als Provisorium geregelt worden ist und auf weiteres noch wird. Im Laufe der Zeit hat sich darüber ein unabweislicher Handlungsbedarf eingestellt, der in Form von Unmengen leicht- und schwerradioaktivem Zeugs mit Halbwertzeiten bis in die Jahrtausende vorliegt, was irgendwie und irgendwann „entsorgt“, d.h. ordentlich, unter Bundesaufsicht, im Rahmen des „integrierten Entsorgungskonzepts“ „zwischen-“ und „endgelagert“ sein will. Bei diesem Schlußstein der friedlichen Anwendung der Atomtechnologie kulminieren daher alle nationalen Sicherheits- und Kontrollfragen. Daß es sich bei der Entsorgung um eine leidige Notwendigkeit handelt, wird wenig beschönigt, weil die Zuständigen es ausnahmsweise einmal selber so sehen. Daß in Gorleben in Arbeitsplätze und Zukunft investiert wird, ist nicht so oft zu hören; gestritten wird über eine Last, die der Ministerpräsident Niedersachsens z.B. unbedingt von seinem Land abwälzen, zumindest auf mehrere Länderschultern verteilen will. Andererseits läßt sich mit dem angesammelten Gefahrenpotential von Regierungsseite zwingend ihr Interesse begründen, jetzt zügig und widerspruchslos das Projekt Gorleben zu Ende zu führen. Schließlich gibt es jetzt das gefährliche Zeug, und verantwortliche Politiker können es ja wohl schlecht bei den Betreibern herumliegen lassen – sagen die, die die Erlaubnis zur betrieblichen Zwischenlagerung gerade gehörig erweitert haben. Also ist erst einmal Entsorgungsbetrieb angesagt; die Eignung wird sich schon finden. Demonstrativ läßt die Ministerin vermehrt Castor-Transporte nach Gorleben und anderswohin transportieren und einlagern – vorbehaltlich der endgültigen Eignungsfeststellung, versteht sich –, um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Dieses letzte Problem der nationalen Atomoption soll jetzt einer Lösung zugeführt werden, damit dann alles seine Ordnung hat und endlich einen – öffentlich und politisch – störungsfreien Verlauf nehmen kann. Umgekehrt plädiert Schröder genauso zynisch dafür, den Sachzwang noch eine Weile ruhen zu lassen und das bewährte „Provisorium“ für weitere Jahre und im noch größeren Maßstab fortzuführen, bis sich „eine befriedigende Lösung“ finden wird – eventuell im Ausland oder in einem großen international verwalteten Endlager. Das strahlende Zeug wäre man dann los, freilich die Kontrolle auch. Im ökonomisch notleidenden deutschen Osten findet sich sogar wieder – parteiübergreifend – das regionale Interesse, das sich von einem Atomstandort Greifswald mit Zwischenlager wirtschaftliche Belebung erwartet und für die Zustimmung der Bevölkerung geradzustehen verspricht. Die abschließende und brisanteste Sicherheitsfrage wird also im bewährten Geist ausgestritten, allerdings ohne die Begeisterung der frühen Tage und im Bewußtsein, daß hier wirklich nationale Lasten zu regeln sind. Der Bund vertritt den Standpunkt der Notwendigkeit, das Land den der Betroffenheit.

Es ist langweilig, an den sich daran wieder einmal entzündenden Auseinandersetzungen über „Ausstieg“ oder „Fortführung“ der Kernenergie zu entdecken, daß es der SPD und ihrem niedersächsischen Wortführer nicht ernstlich um eine Ende des atomaren Getriebes im Land geht. Das sagen sie selber deutlich genug, wenn sie sich z.B. auf den Standpunkt stellen,

„Reaktorbauer und Energieversorger hätten die Bringschuld für den Nachweis des praktischen Ausschlusses von Unfällen außerhalb des Reaktors. Erst danach sei mit der SPD eine Einigung auf neue Sicherheitskriterien denkbar.“ (SPD-Energiekommission und Fraktion)

Worum sich die Kontrahenten streiten, ist die Frage, wie die Freiheit, die das Land mit der atomaren Option gewonnen hat, so genutzt werden kann, daß die Sachzwänge, die mit dem atomaren Betrieb einhergehen, nicht zur dauernden Behinderung werden. Die SPD vertritt dabei mehrheitlich den Zweifel, ob sich die politisch Verantwortlichen nicht ohne Not viel zu unbedingt auf die atomare Schiene festgelegt haben. Angesichts der zur Verfügung stehenden energiepolitischen Alternativen sieht sie keine zwingende Notwendigkeit mehr, den ganzen atomaren Komplex so, wie er unter ihrer Mitwirkung zustandegekommen ist, automatisch fortzuschreiben, und dringt auf Verschiebung einer Grundsatzentscheidung über ihren künftigen Stellenwert: Als „Option“ bleibt sie ja auf jeden Fall im Angebot – und im Betrieb. Statt dessen besteht sie auf laufender politischer Kontrolle und pocht darauf, daß die Betreiber dafür zu sorgen haben, daß der Nation die „Risiken“ möglichst weitgehend erspart bleiben, die man mit dem Betrieb installiert hat. Ein Widerspruch, aber eben einer, den Politiker sich leisten, denen ihre Handlungsfreiheit am Herzen liegt. Dagegen steht die Regierung auf dem Standpunkt, daß ohne eine entschiedene politische Förderung dieser „Option“ ihre Dienste nicht mehr gewährleistet sind. Sie besteht darauf, daß die politischen Kontrollbedürfnisse und Sicherheitsbedenken keinesfalls den vorgesehenen Betrieb behelligen dürfen, weil sonst die Freiheit der Politik verlorengeht, die ihr nur eine erfolgreiche Atomindustrie beschert. Deswegen verlangt sie ein ausdrückliches und umfassendes politisches Bekenntnis zur Notwendigkeit dieses Wegs, und zwar jetzt, und erinnert die SPD daran, daß energiepolitische Handlungsfreiheit an den Sachzwängen des politisch gestifteten Geschäfts ihre Grenzen hat. Auch ein Widerspruch, aber eben einer, den Politiker sich leisten, die keine Zweifel an den von ihnen herbeiregierten Notwendigkeiten aufkommen lassen wollen. Während die SPD auf europäische Arbeitsteilung verweist und sich durchaus noch mehr Verlagerung von problematischen Abteilungen nach anderswo vorstellen kann, weist die Gegenseite darauf hin, daß die Nation die Kontrolle behalten und Atomstandort bleiben muß, will sie im Geschäft bleiben. Man kann schließlich nicht verkaufen, was man selber nicht bei sich aufstellt.

Beiden Seiten geht es darum, dieser für eine Nation wie Deutschland so entscheidenden, aber eben auch nicht unproblematischen Potenz einen dauerhaften Stellenwert zu sichern. Daß sie sich nicht ganz einig sind welchen, ist das eine. Das andere ist, daß sie Gesichtspunkte gegeneinander halten, denen die andere Seite ihre Anerkennung nicht versagen kann. Genausowenig wie den Sozialdemokraten die Bilanzen der deutschen Atommultis und die nationale Verfügung über das einschlägige „Know-how“ gleichgültig sind, sind es den regierenden Christdemokraten die politischen Sicherheitsbedenken und die Vorzüge einer deutsch-französischen Atompartnerschaft. Das dritte aber ist die bei allen Beteiligten sich regende Sorge, ausgerechnet durch ihre Auseinandersetzung könnte genau die Freiheit Schaden nehmen, die sie beide meinen: die, die man in energiepolitischer, geschäftlicher – und eben auch in der darüber hinausreichenden strategischen – Hinsicht gewonnen hat. Deswegen lassen sich alle politisch Beteiligten von ihren engagierten Unternehmern daran erinnern, daß verläßliche Orientierung nottut:

„Die Politik muß vorgeben, welchen Energiemix sie haben will. Erst die zivilgesellschaftliche Zustimmung … schafft eine dauerhaft sichere Kalkulationsgrundlage für Investitionen in zweistelliger Milliardenhöhe.“ (Gieske, RWE-Vorstand)

Dem wollen sich die Vertreter des Volkswillens auch gar nicht entziehen. Deutschland als zivile Atommacht darf nicht wirklich zur parteilichen Angelegenheit werden. Es braucht, jenseits der einzelnen Streitpunkte, die national verbindlichen Linien, eben: den „Konsens“ der Macher – nicht nur für die Investitionen. Irgendwann, demnächst nämlich, steht endgültig Ersatz für die laufenden Werke an; deswegen soll und muß so bald wie möglich, so wollen es alle Beteiligten, die politische Auseinandersetzung um die Perspektiven der deutschen Energie- und Atompolitik beendet sein, damit die Sache nicht Schaden leidet.

Also kommt die Sache bei den Auseinandersetzungen um ihren künftigen Stellenwert auch nicht zu kurz. Nicht der AKW-Betrieb und nicht Deutschlands atomare Rechte. Beim Streit, den Bayern mit den USA – „gewissen amerikanischen Kreisen“, wie Stoiber sie nennt – um die Bestückung des künftigen Garchinger Forschungsreaktors mit waffenfähigem Uran führt, gelangt auch die andere, die so gerne verschwiegene Seite des deutschen Atomprogramms, wieder einmal an die Öffentlichkeit. Deutsche Politiker machen aus ihrem Interesse an Forschung und Entwicklung auf Weltniveau einen Präzendenzfall für die Konkurrenz auf einem ganz anderen Feld: Sie lassen sich durch die amerikanische Lesart von Atomwaffenkontrolle ihren Umgang mit potentiellem Waffenmaterial nicht vorschreiben. Die Freiheit dazu haben sie.

[1] Die einschlägigen Regelungen stammen nicht zufällig noch aus der Zeit, in der es auf Zusammenfassung und Sicherung der nationalen Kräfte ankam, aus den Tagen der nationalsozialistischen Kriegsvorbereitung: Um die Energiewirtschaft als wichtige Grundlage des wirtschaftlichen und sozialen Lebens im Zusammenwirken aller beteiligten Kräfte der Wirtschaft und öffentlichen Gebietskörperschaften einheitlich zu führen und im Interesse des Gemeinwohls die Energiearten wirtschaftlich einzusetzen, den notwendigen öffentlichen Einfluß in allen Angelegenheiten der Energieversorgung zu sichern, volkswirtschaftlich schädliche Auswirkungen des Wettbewerbs zu verhindern, einen zweckmäßigen Ausgleich durch Verbundwirtschaft zu fördern und durch all dies die Energieversorgung so sicher und billig wie möglich zu gestalten, hat die Reichsregierung das folgende Gesetz beschlossen… (Präambel zum EnWG, 13.12.1935) Seitdem gibt es im Energiesektor die eigentümliche Rechtsform privaten Kapitals, das unter staatliche Aufsicht gestellt ist; diese Aufsicht betrifft Bau und Schließung von Energieanlagen, allgemeine Anschluß- und Versorgungspflicht, Oberaufsicht über die Preisgestaltung. Acht nationale Energieunternehmen sind für Produktion, Transport und Verteilung des kostbaren Guts zuständig; sie sind als Gebietsmonopole organisiert, die den Markt durch strenge regionale Abgrenzung sowie mit ausschließenden Konzessionsverträgen für die Benutzung kommunaler Wege und mit Leitungsmonopolen unter sich aufteilen, wobei sie – im eigenen und staatlichen Interesse – als „Verbundwirtschaft“ untereinander Strommengen verkaufen und tauschen, um so das Angebot rationeller regeln zu können. Den Preis beeinflußt der Staat nicht nur mit seinen Auflagen; er genehmigt ihn, legt also selber fest, daß und wieweit seine Anliegen und Auflagen als Kosten berücksichtigt, also vom Kunden bezahlt werden müssen. Die Pflicht, jedermann ans Stromnetz anzuschließen, findet bei der Preisgestaltung ebenso Berücksichtigung wie regionale Unterschiede im Zugang zu Rohstoffen oder die Verpflichtung zur Verwendung heimischer Steinkohle – sowie selbstverständlich noch eine angemessene Verzinsung; und eingerechnet werden eben auch all die Großinvestitionen in die atomare Zukunft bis hin zu Rückstellungen für die künftige Endlagerung des atomaren Abfalls, die seit Jahren mit soundsoviel Pfennig pro kWh zu Buche schlagen. Durch hoheitlichen Beschluß sorgt der Staat also dafür, daß das gesamtnationale Kapitalinteresse an billiger Stromversorgung ebenso zum Zuge kommt wie das Profitinteresse der Stromproduzenten, die diese Standortbedingung liefern. Daß sich Dienstverpflichtung nationalen Kapitals und staatlicher Dienst am Profit bedingen, ist den demokratischen Energiepolitikern ebenso geläufig wie ihren faschistischen Vorläufern. Also haben sie mit ihrem „regulierten Markt“ für die erforderliche Konzentration von Kapital und Monopolprofite gesorgt. So kommt es, daß trotz langer Ausfallszeiten von AKWs und trotz atomarer „Investitionsruinen“, für die „Milliarden in den Sand gesetzt“ worden sein sollen, nie davon zu hören war, daß die Stromkonzerne bei ihrem Dienst am staatlichen Versorgungsinteresse je in ernsthafte unternehmerische Probleme geraten wären. Umgekehrt: Sie haben bereitwillig die erforderlichen großen und langfristigen Kapitalvorschüsse für den Einstieg in die „Zukunftsoption“ getätigt, für deren Verwertung der Staat garantiert hat.

[2] Es ist kein Geheimnis, daß die Unterstellung der gefährlichen Spaltstoffe unter eine europäische Aufsicht der Befreiung von amerikanischen Kontrollbedürfnissen dienen sollte. Die Euratom, in der man schließlich selber federführend mitentscheidet, hat gute Dienste für den national genehmen Umgang mit Uran und Plutonium geleistet und leistet sie noch. Durch sie hat Deutschland sich Möglichkeit und Recht auf eine Plutoniumwirtschaft gegen das ausdrückliche amerikanische Interesse an weltweiter direkter Endlagerung gesichert; durch sie hat es das amerikanische Bemühen um Mitentscheidung über das von Amerika gelieferte Uran durchkreuzt; mit Hilfe der Euratom ist ein freier Umgang mit dem interessanten Stoff durch den Tausch von Herkunftsausweisen gebilligt und gedeckt worden usw. usw. Nicht zuletzt bei der Beschaffung des waffenfähigen Brennstoffs für den geplanten Garchinger Forschungsreaktor gibt die europäische Atombehörde Deutschland gegen die USA Rückendeckung.

[3] Die Beispiele sind zahllos, von den „Vorab-Zustimmungen“ des Hessischen Wirtschaftsministeriums für immer neue Verfahren und Betriebsstellen der Firma Alkem, über das Atomkraftwerk Obrigheim, das seit 20 Jahren mit einer vorläufigen Betriebsgenehmigung läuft und läuft, bis zum jüngsten salomonischen Urteil im Fall des AKW Krümmel, das seit 91 ohne gesonderte Genehmigung neue, strahlendere Brennelemente einsetzen durfte, bis jetzt eine neuerliche Überprüfung angeordnet wurde – allen Leukämiefällen zum Trotz bei weiterlaufendem Betrieb, versteht sich.

[4] Der „breite Widerstand“ kürzt sich heute mehr denn je auf den nachdrücklich angemeldeten Antrag auf energiepolitische Normenkontrolle und Prüfung der Rechtmäßigkeit des atomaren Getriebes gemäß den vom Staat selber erlassenen gesetzlichen Richtlinien und Vorgaben zusammen. Erfolge und Mißerfolge des massenhaften Klagewesens beruhen darauf, daß sie den Agenten einer nationalen Atomwirtschaft, den Staat in Gestalt seiner Gerichte und politischen Verwalter, immer wieder auf die besonderen Probleme aufmerksam machen, die er mit diesem Wirtschaftszweig installiert hat, und auf etwas anderes sind die Beschwerdeführer mit ihrer moralischen Betroffenheit zumeist auch gar nicht aus.

[5] Daß und inwiefern dies keineswegs den Verzicht auf Teilhabe an Atomwaffen bedeutet und schon gar nicht auf die Rolle einer gleichgewichtig mitentscheidenden und -handelnden NATO-Macht, bzw. warum und wie Deutschland sich bisher in dem Widerspruch eingerichtet hat, daß seine Atomindustrie alles macht, was Atomwaffenstaaten können und tun, außer Bomben – dazu steht das Nötige in dem Artikel „Die Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags“ in GegenStandpunkt 3-95, S.3, darin S.19ff.

[6] Der noch im Auflösungsprozeß der Sowjetunion in die Wege geleitete Vertrag schreibt weitgehenden Investitionsschutz, das Recht „für Schlüsselpositionen eigenes Personal einsetzten“ zu dürfen, „Transitgarantien der leitungsgebundenen Energieträger“ durch Drittländer usw. fest: Westeuropa ist in hohem Maße von Energieimporten aus Drittländern abhängig. Demgegenüber liegen in Osteuropa – insbesondere in der Sowjetunion – große Energiepotentiale, deren Nutzung derzeit unbefriedigend ist. Es fehlt an Technik und es fehlt an geeignetem Know-how… Diese Überlegungen waren der Ausgangspunkt für eine europäische Energiecharta… Will die SU ihren Weg in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft erfolgreich fortsetzen, so ist sie auch auf dem Energiesektor auf westliche Hilfe angewiesen. Damit bieten sich umfassende Ost-West-Kooperationen, die westliches Know-how und Kapital und sowjetische Energieressourcen einander zugänglich machen. (Ein Siemens-Manager 1992) Die Gunst der weltpolitischen Lageveränderung hat Europa und seiner Mittelmacht also eine einmalige Gelegenheit verschafft; die wurde im Verein mit westlichen Partnern entschlossen wahrgenommen.

[7] Wieweit die Rechnung mit Europa als einem Standort auch auf dem national heiklen Feld der Energiepolitik gediehen ist, zeigt die jüngste „Liberalisierung des Strommarkts“, mit der die national organisierten Märkte ein gutes Stück weit geöffnet und europäisch erweitert werden sollen. Die Großabnehmer, also die großen Kapitale sollen sich ihr Angebot über die regionalen und nationalen Grenzen hinaus freier wählen können. Dafür werden die politischen Monopolregelungen teilweise aufgebrochen; die europäischen Stromgiganten sollen jetzt mit ihren Angeboten im Prinzip gesamteuropäisch konkurrieren, deswegen – im Prinzip jedenfalls – gegen Bezahlung frei durch fremde Netze durchleiten dürfen. Die Regelungen, die da unter dem Gesichtspunkt kostengünstiger Stromversorgung als „Liberalisierung“ – jetzt plötzlich – „kostentreibender, verkrusteter Monopolstrukturen“ angepriesen werden, sind nicht mehr vorrangig vom energiepolitischen Sicherheits- also Krisendenken bestimmt, sondern zielen auf eine kostengünstigere Bereitstellung eines gesamteuropäisch und national ausreichend zur Verfügung stehenden Angebots. Wenn sie die Energiesicherung wie eine gemeinsame, rein geschäftlich zu regelnde Angelegenheit behandeln, unterstellen sie zweitens ein unter Imperialisten gar nicht selbstverständliches Vertrauen in die Verläßlichkeit der anderen Nationen und des gemeinsamen europäischen Zusammenhangs. Und sie zeugen ferner vom Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der nationalen Geschäftswelt, die das unverzichtbare Angebot bereitstellen soll. Dafür sorgen sie allerdings auch weiterhin politisch vor. Die „marktwirtschaftlichen Fortschritte“ tilgen nämlich keineswegs den Sonderstatus der Energiemärkte. Daß Energieversorgung eine elementare Staatsangelegenheit ist, macht sich darin geltend, daß die Staaten sich hoheitliche Vorbehalte und Grenzen der Konkurrenz ausbedungen haben. Die weiterhin nationale Regelung von Versorgungspflichten, Durchleitungsrechten und Ähnlichem sowie die politische Gestaltung des Strompreises fungieren unter den neuen Bedingungen als Instrumente, mit denen die beteiligten Staaten sich selber unmittelbar für den richtigen Gang des Geschäfts stark machen können, dem sie ihre Energiesicherung überantwortet haben. Die Partnerstaaten betrachten sie als zu öffnende Märkte, die heimische Energienachfrage als im Zweifelsfall zu schützenden und für die eigenen Kapitalisten zu reservierenden Geschäftsbereich. Wer erobert sich welchen Zugang, ist bei dieser politisch eröffneten, aber reglementierten Konkurrenz also die heiße Frage. Ganz nebenbei trennt sich bei dieser Neuorganisation einer „wirtschaftlichen Energieversorgung“, die zur „Attraktivität des Investitionsstandortes“ zählt, die Spreu viel gründlicher vom Weizen als bisher. Kapitalisten können um billige Stromangebote konkurrieren; der Normalverbraucher bleibt am Netz der heimischen Unternehmen, die sich die weiterbestehende Versorgungspflicht mit ihren besonderen Belastungen gesondert bezahlen lassen.

[8] Inzwischen hat der Zerfall der Sowjetunion dazu geführt, daß der einschlägige Markt, bei dem die deutschen und anderen europäischen Nachfrager längst auch auf der Anbieterseite mittätig sind, mit ungeahnten Mengen an Natur- und ursprünglich für militärische Zwecke angereichertem Uran versorgt wird, so daß Einfuhrbeschränkungen fällig waren.

[9] Am französischen Vorbild des „Superphénix“, der nach laufenden Betriebsschwierigkeiten inzwischen zum „Forschungsreaktor“ für die „Transmutation hochstrahlender Aktinide“ in weniger gefährliche radioaktive Elemente, sprich: für die Entschärfung des Endlagerproblems, umgewandelt wurde, ließ man sich jetzt einleuchten, daß die Beherrschung eines natriumgekühlten Brutreaktors ihre eigenen Tücken hat, zumal wenn man an ihre dauerhafte Verwendung zur Energiegewinnung im Großmaßstab denkt. So entdeckt man also die unlösbaren Probleme der Technologie, sobald man sie nicht mehr unbedingt „beherrschbar“ machen will.

[10] Einen Staatsreaktor will schließlich niemand, meinte schon der erste deutsche Umweltminister und kündigte angesichts des erreichten Standes deutscher Nuklearindustrie unter dem Motto Energiepolitik muß marktwirtschaftlich orientiert sein an: Angesichts des bei der friedlichen Kernenergienutzung erreichten hohen wissenschaftlichen und technischen Standes ist die Förderung überflüssig geworden… Für den Fall ungeplanter vorzeitiger Stillegung von Reaktoren muß der Betreiber künftig sicherstellen, daß die erforderlichen Mittel in voller Höhe verfügbar sind… Erhöhung der Deckungsvorsorge für Schadensfälle… (Entwurf zur Reform des Atomgesetzes 1992) Allerdings war damit nicht Beendigung, sondern Reduzierung und Änderung der Förderung angekündigt. Gegenwärtig gehen unter anderem jährlich immer noch 1 Milliarde in die „Sicherheitsforschung“.

[11] Siemens und Framatom haben sich auf „strategische Zusammenarbeit“ verlegt; sie projektieren z.B. gemeinsam einen neuen Druckwasserreaktor für künftigen Europa- und Weltbedarf, eben jenen auch von den Atompolitikern schon vorab vielgepriesenen neuen Meilenstein der Atomtechnologie, der das Bedürfnis nach handlicheren und zugleich ausbaufähigen Anlagen befriedigen, eine intensivere und zugleich leichter zu steuernde Ausnutzung der Kernspaltung ermöglichen und auch noch alle nur denkbaren staatlichen Sicherheitsauflagen bedienen soll. Die Antwort (auf die veränderten Marktgegebenheiten) kann nur in einer kooperativen Zusammenarbeit oder in Fusionen zwischen europäischen Herstellern bestehen, mit dem Ziel, in Europa lebensfähige und solide Strukturen zu erhalten oder zu schaffen, die im hart umkämpften Weltmarkt mit Japanern oder Amerikanern konkurrieren können. (Der Vorstand von KWU)

[12] Die Atomkraftgegner anerkennen diese Logik, wenn sie ihrerseits alternative Güterabwägungen anstellen und den Beweis führen wollen, daß die knappe Energieversorgung anders genauso gut oder besser zu gewährleisten wäre, also auch kein atomares Risiko rechtfertige. Es ist kein Zufall, daß in all den Ländern, wo die Macher auf Atomenergie als entscheidende nationale Option für die Beseitigung der „Energieknappheit“ setzen, die strahlenden Fabriken auch bei der Bevölkerung die größte „Akzeptanz“ genießen und „Umweltparteien“ nicht zur mitbestimmenden Kraft aufsteigen. Mündige Bürger lassen sich nämlich von ihren Politikern die nationalen Notwendigkeiten verdolmetschen und orientieren ihr Meinen und Kritisieren an ihnen. Sie möchten es aber gerne umgekehrt sehen – genau wie die Gegner der Kernenergie hierzulande, die gerne der Einbildung anhängen, die ablehnende Einstellung wachsender Teile der Bevölkerung würde die Politiker zu größerer Rücksicht gegenüber den Bürgern und zu stärkeren Vorbehalten gegenüber der Atomkraft bewegen.

[13] Darüber hat sich sogar eine neue politische Kraft im Land profiliert: Die Grünen haben – gut demokratisch im Namen der Betroffenen – den Gesichtspunkt der Gefährdung des nationalen Innenlebens bei der staatlichen Güterabwägung ganz in den Vordergrund gestellt und sich deswegen für den Verzicht auf die Atomtechnologie ausgesprochen – nicht ohne kundig auf ihre Überflüssigkeit für die Energieversorgung hinzuweisen. Mit dieser kritischen Stellung zur nationalen Grundentscheidung für Atomkraft sind sie nicht als national völlig unverträglich abgetan, sondern koalitionsfähig geworden und haben da, wo sie mitregieren durften, im Verein mit SPD-Ministern schärfere Kontrolle des atomaren Betriebs etabliert, um auf diese Weise ihren politischen Vorbehalt gegen den eingeschlagenen energiepolitischen Weg durchzusetzen. Mit dem von ihnen initiierten „ausstiegsorientierten Vollzug“ haben sie sich die bestehende Freiheit beim Stromangebot zunutze gemacht und den gar nicht schwierigen Beweis erbracht, daß eine strikte Auslegung und Anwendung der staatlichen Sicherheitsbestimmungen – „im Rahmen der Gesetze“ und ohne Rücksicht auf den atomaren Betrieb – diesen enorm behindert, ohne daß gleich die Lichter ausgehen. Freilich, verhindert haben ihn die Grünen nicht; sie tragen jetzt die Verantwortung für Deutschlands Energiepolitik mit – samt Atombetrieb.