„Anti-“ gegen „Rassisten“
Der unrassistische Klassenstaat und seine verfeindeten Moralisten
Rassismus im Sinne einer Rechtslage, mit der die Staatsgewalt die Diskriminierung von Teilen der Bevölkerung bis hin zu ihrer Eliminierung verordnet oder erlaubt, gibt es im modernen bürgerlichen Gemeinwesen nicht mehr. Weder im Sinn eines kolonialen Vorrechts, das die Herrschaft über unmündige Völker legitimiert, noch im Sinn der Nürnberger Gesetze, die von der Zugehörigkeit zu einer arischen Herrenrasse, die ein Recht auf Weltherrschaft hat, die Staatsbürgerschaft abhängig machen, noch im Sinn eines Rechts auf Eigentum an Menschen, das Sklaverei als Bestandteil der politischen Ökonomie festschreibt. – Was gibt es dann?
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„Anti-“ gegen „Rassisten“
Der unrassistische Klassenstaat und seine verfeindeten Moralisten
I. Kein Rassismus von Staats wegen – was stattdessen?
1.
Rassismus im Sinne einer Rechtslage, mit der die Staatsgewalt die Diskriminierung von Teilen der Bevölkerung bis hin zu ihrer Eliminierung verordnet oder erlaubt, gibt es im modernen bürgerlichen Gemeinwesen nicht mehr. Weder im Sinn eines kolonialen Vorrechts, das die Herrschaft über unmündige Völker legitimiert, noch im Sinn der Nürnberger Gesetze, die von der Zugehörigkeit zu einer arischen Herrenrasse, die ein Recht auf Weltherrschaft hat, die Staatsbürgerschaft abhängig machen, noch im Sinn eines Rechts auf Eigentum an Menschen, das Sklaverei als Bestandteil der politischen Ökonomie festschreibt. Im Gegenteil: Der heutige Rechtsstaat verbietet sich und überhaupt rassistische Diskriminierung, weil sie zu seiner Räson nicht passt.
- Seine politische Ökonomie, die aus fremder Arbeit immer mehr Reichtum in Form produktiv angewandten Privateigentums herausholt, organisiert er mit seinem bürgerlichen Gesetzbuch unter der Prämisse der rechtlichen Gleichheit seiner Bürger als sozialfriedliches Tauschverhältnis zwischen Arbeitgebern und für ihre Dienste bezahlter Belegschaft.
- Seinen Zugriff resp. den seiner Konzerne auf die Ressourcen der Außenwelt, die Ausnutzung fremder Länder mit ihrem lebenden und toten Inventar, regelt er als Handelsverkehr im Rahmen einer multilateralen, quasi suprastaatlichen Geschäftsordnung, die Gleichberechtigung und Fairness verspricht; als Welthandel, der wie von selbst den „Exportweltmeister“ BRD und andere kapitalistische Großmächte bereichert.
- Sein Volk definiert dieser Staat als seinen exklusiven Besitzstand durch die Lizenz – die praktisch niemand ablehnen kann –, sich frei als Aktivist der Konkurrenz um Geld und Lebenschancen nützlich zu machen – im Fall der BRD: nützlich für den Reichtum und die darauf gegründete Macht des Staates, als Führungsnation der EU den „Rivalen“ USA, VR China und Russland mindestens „auf Augenhöhe“ zu begegnen, gleichrangig im Kampf um Vorrang voreinander und um Bevormundung der restlichen Staatenwelt. Sein Staats-Volk sind die Bürger in erster Linie in ihrer Funktion als – aktuelle, werdende oder gewesene – Akteure in den Konjunkturen des nationalen Kapitalstandorts, zu der nur Eingeborene von Haus aus – brauchbare Migranten und Ausländer unter restriktiven rechtlichen Sonderbedingungen – zugelassen sind: ein echtes Privileg, das die Seinen vor allen Fremden auszeichnet. Der Kampf gegen unerwünschten Zuzug aus den Elends- und Kriegsregionen der Welt erfüllt objektiv den Tatbestand massenhafter Tötung durch Unterlassung bzw. durch ein aktives Grenzregime; auch der kommt aber ganz ohne rassistische Rechtfertigungen aus.
2.
Alles, was der bürgerliche Rechtsstaat einrichtet und unternimmt, stellt er – in stolzer Abgrenzung gegen andere, eben auch gegen rassistisch gerechtfertigte Herrschaftsformen – unter das Vorzeichen, dass er als souveräne Macht in seinem exklusiv eigenen Zuständigkeitsbereich für seine Bürger ein gutes, gedeihliches Zusammenleben organisiert; und zwar nach allgemeingültigen Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und der Menschenwürde. Zu diesen Prinzipien gehört das demokratische freier Selbstbestimmung der wahlberechtigten eigenen Bürger, deren wohlverstandenes Eigeninteresse er verwirklicht und in deren Auftrag er überhaupt tut, was er tut. In diesen Grundsätzen steckt eine gewisse Doppeldeutigkeit: Als nationale Höchste Gewalt hütet er das Recht und die Wohlfahrt der Einwohner seines Standorts, dieses besonderen „Menschenschlags“, ist er speziell und exklusiv dessen gedachtem Auftrag verpflichtet; dabei handelt er aber, in seiner Eigenschaft als dem Menschenrecht verpflichteter Verfassungsstaat, nach Maximen von allgemeinster Gültigkeit und mit einer Reichweite, die nichts und niemanden ausschließt. Diese doppelte Bedeutung setzt sich darin fort, dass der Staat gerade als vom eigenen Volk für dessen Belange in Anspruch genommene Gewalt ein allgemeingültiges Musterbild politischer Herrschaft darstellt: In der ersten Eigenschaft hat er die heilige Pflicht, den Eigennutz der Nation erfolgreich durchzusetzen und in diesem Sinn zwischen seiner Bürgerschaft und dem großen Rest nicht bloß eine Trennlinie zu ziehen, sondern die entsprechenden Prioritäten zu setzen und durchzusetzen. Zugleich erwächst ihm aus seiner menschenrechtlichen Güte, auf die seine Verfassung und als deren ideeller Urheber sein gutes Volk ihn festlegen, die andere Pflicht, für Gleichbehandlung aller Erdenbewohner einzutreten und die eigene herrschaftliche Zuständigkeit im Innern wie an seinen Grenzen und über diese hinaus in diesem Sinn zu praktizieren, auch andere Staatsgewalten, natürlich in deren richtigem Eigeninteresse, entsprechend zu beeinflussen und, je nachdem, zu bevormunden.
Einen Widerspruch kann der moderne Rechtsstaat da freilich nicht im Entferntesten entdecken. Für ihn gehen der Dienst am allgemeinen Menschenrecht und an der speziellen Wohlfahrt seines Volkes – des einzigen, über das er von Haus aus verfügt und das darin seine exklusive Einzigartigkeit besitzt – nicht immer praktisch, aber im Prinzip bruchlos zusammen. So jedenfalls will er gewürdigt werden: Alles, was er mit der Allgewalt seines Rechts an ökonomisch brauchbarer Lohnabhängigkeit wie an dysfunktionaler Armut und an sonstigen Drangsalen der alltäglichen Konkurrenz herstellt und betreut, was er mit der Macht seines Geldes, seiner Waffen und seiner guten Beziehungen in der Welt anrichtet, wie er an seinen Grenzen und im Innern mit Leuten verfährt, die nicht viel anderes als den erbärmlichen Status des bloßen „Mensch“-Seins zu bieten haben, schlichtweg alle seine Werke gelten als – womöglich noch nicht perfekte – Umsetzung seiner hohen Verfassungsgrundsätze. An nichts anderem sollen sie gemessen, nach keinem anderen Kriterium beurteilt werden als den Idealen, in deren Namen er sich zur schönen Heimat eines guten Volkes erklärt.
3.
Und ziemlich so, wie sie gemeint ist, kommt diese Lebenslüge im allgemeinen staatsbürgerlichen Bewusstsein demokratisch gereifter Völker wie dem der BRD auch an. Natürlich kennt der Mensch die Anforderungen der kapitalistischen Konkurrenz; er kommt ihnen ja nach. Natürlich weiß er, dass der Rechtsstaat mit seinen Gesetzen die Bedingungen dafür setzt und mit flächendeckender Polizeigewalt durchsetzt; der gehorcht er ja, mehr oder weniger, und hat als Konkurrenzsubjekt auf alle Fälle im Blick, ob die anderen sich daran halten und verdienen, was ihnen erlaubt ist. Er weiß auch – wenn er es gerade mal zur Kenntnis nehmen will – von der Brutalität, mit der seine Regierung an den Grenzen zu seiner Heimat und in der Außenwelt herumfuhrwerkt, Menschen eher sterben als hereinlässt, in kriegerischen Konflikten auch das Leben eigener Leute aufs Spiel setzt, nämlich davon abhängig macht, dass sie effektiver sind beim Töten. Der Realismus der Anpassung, des Mitmachens, des ordentlichen Hinnehmens, der ganz alltäglichen Unmündigkeit, mit dem das alles akzeptiert wird, ist aber zugleich die feste Grundlage für einen unverwüstlichen Idealismus: für die staatsbürgerliche Gewohnheit, alles, was von Staats wegen mit Menschen angestellt wird und was die als Staatsbürger selbst anstellen, von dem übergeordneten Standpunkt eines aufs allgemeine Wohlergehen verpflichteten und verpflichtenden Gemeinwesens aus zu beurteilen, so wie der Staat es vorgibt. Die Elementarform dieses Idealismus ist das „Wir“, als dessen Repräsentant das unverwechselbare Individuum sich zu Wort meldet, wann und wo immer es etwas im weitesten Sinn Politisches zu vermelden hat: ein nationaler Kollektivismus, der dem staatsbürgerlichen Urteilsvermögen vorausgesetzt ist. Der Bürger, der über seine Lebensumstände und über die Zwecke, denen er tatsächlich folgt, verdammt wenig zu sagen hat, der nichts davon wirklich in der Hand hat, stellt sich zugleich auf den Standpunkt der Verantwortlichkeit für das große Ganze, in das er eingemeindet, unter dessen Räson er perfekt subsumiert ist; so perfekt, dass er, um zu funktionieren, von den wirklichen Bestimmungsgründen seiner sozialen Existenz nichts weiter zu wissen braucht als auf der einen Seite die praktischen Notwendigkeiten, denen er genügen muss, und auf der anderen Seite, dass das alles in seinem Namen geschieht und seine Ordnung hat. Als denkendes und kritisch urteilendes Subjekt hat er seine Identität in diesem staatsbürgerlichen „Wir“. Dessen Reichweite ist objektiv durch den Pass bestimmt; subjektiv gibt es einige Freiheitsgrade in der moralischen Geschmacksfrage, wem das Privileg, in die erste Person des nationalen Plurals eingeschlossen zu sein, also die Identität, als deren verantwortliches Subjekt das bürgerliche Individuum sich imaginiert, endgültig nicht mehr zugestanden werden kann und in welchen Grenzen und unter welchen Bedingungen den Angehörigen gewisser Communities oder Parallelgesellschaften im eigenen Land.
So weit, so schlecht: Die Lebenslüge des modernen Klassenstaats, die freundliche Heimat seiner menschlichen Manövriermasse zu sein, wird von seinen Insassen geglaubt. Doch damit nicht genug. Das demokratische Gemeinwesen beherbergt politisch aufgeregte Minderheiten, die dafür streiten, dass diese Lebenslüge noch viel ernster genommen und in die Tat umgesetzt werden muss; durch die öffentliche Gewalt, vor allem aber auch durch das liebe Volk.
II. Anti- und Rassisten: Gläubige Anhänger der Lebenslügen des demokratischen Rechtsstaats
1.
Die einen, die Antirassisten, die von ihren Gegnern als militante „Antifa“ verteufelt und von manchen als seriös anerkannten Kritikern in dummer Ironie mit dem Schimpfwort „Gutmenschen“ belegt werden, treten immer dann öffentlich in Erscheinung, wenn wieder einmal rassistische Übergriffe bis hin zu Tötungen durch die Polizei oder durch rechtsradikale „Intensivtäter“ publik – oder auch überhaupt nicht besonders publik – werden. Die Empörung treibt dann viele auf die Straße, die Hetzjagden auf Ausländer oder „ausländisch“ aussehende Inländer abscheulich finden; was unter halbwegs anständigen Menschen leicht zu haben ist. Sollte man meinen; aber so einfach ist es nicht mit dem menschlichen Anstand. Die fallbezogene Aufwallung von Abscheu ist regelmäßig schnell vorbei. Den Protagonisten der Empörung langt sie jedenfalls nicht. Die erkennen in den Missetaten, die sie anprangern, eine generelle Linie der Ausländerfeindschaft und in der Flüchtigkeit oder dem Ausbleiben von Protesten ein generelles Problem.
Was das Letztere betrifft, so sind die Aktivisten sich – im bundesdeutschen Fall – mit ihrem Bundespräsidenten einig, auch wenn sie den eventuell für einen Heuchler halten: Es genügt nicht, kein Rassist zu sein. Wir müssen Antirassisten sein! Antirassismus muss gelernt, geübt und vor allem gelebt werden.
– Damit spricht Steinmeier (z.B. am 16.6.20) ihnen auf jeden Fall aus dem Herzen. Im so wenig nachhaltigen antirassistischen Bekenntnis der deutschen Volksgenossen – denn auf die bezieht sich nicht nur der Bundespräsident mit seinem wir
– erkennen die Empörten einen groben Mangel an richtiger, menschen- und speziell ausländerfreundlicher Gesinnung, an standfester Verteidigung der Grundwerte, auf die das deutsche Volk sich doch mit seiner antifaschistischen Demokratie festgelegt hat. Komplementär dazu ordnen sie die militante Ausländerfeindschaft, wo sie sich demonstrativ blicken lässt oder zur Tat schreitet, politisch ein: Da rühren sich „Nazis“, die „raus“ müssen. Dabei meint „Nazis“ nicht wirklich einen politischen Inhalt, den die Rechten vertreten und deren Gegner ermittelt haben, schon gleich nicht das Programm des „Dritten Reiches“, die Welt durch und für die auserlesene Rasse arischer Staatenbildner zu erobern und dafür das „Weltjudentum“ zu eliminieren. Die Bezeichnung steht als polemisches Kürzel für eine zutiefst verwerfliche Absage an das, wofür Deutschlands Antirassisten und ihre Gesinnungsgenossen anderswo eintreten. Denn die sind nicht das ablehnende Echo auf rechtsradikale Gemeinheiten und rassistisch motivierte Verbrechen und wollen das auch nicht sein; dass allenfalls eine solche Reaktion vom allenfalls punktuell empörten Volk zu haben ist, macht sie ja gerade so unzufrieden. Was nach ihrer Auffassung gelernt, geübt, gelebt
werden muss, ist nicht ein bisschen „Anti“, sondern das positive Bekenntnis zu einem nationalen „Wir“, das der Parole folgt: Wir sind bunt, nicht braun – und auch nicht mehr nur weiß!
Es geht ihnen um das Staatsvolk als eine große Gemeinschaft, die niemanden ausgrenzt, schon gar nicht unter dem Gesichtspunkt, dass Leute nach Ausland aussehen oder nach eigenen Sitten leben, und das niemanden bevorzugt, schon gar nicht deswegen, weil er einem Bild vom einheimischen Menschenschlag entspricht. Denn in der Volksgemeinschaft, die sie sich wünschen, existieren eigentlich überhaupt nur verschiedenartige Minderheiten, was auch die sich merken sollen, die sich für eine „weiße“ Mehrheit halten; denn nur im Bewusstsein der Vielfalt gleichberechtigter Untergruppen können die so gedeihlich ko-existieren, wie es sich für eine freundliche Zivilgesellschaft gehört.
Dieser politische Standpunkt bedeutet in verschiedenen Nationen Unterschiedliches, hat auch jeweils eigene Konsequenzen. Die Betonung, dass „weiß“ letztlich nur eine Farbe unter vielen ist und jede andere Hautfarbe genau so zum gleichberechtigten Gesellschaftsmitglied qualifiziert, zielt in den USA auf eine Diskriminierung, deren antirassistische Gegner kein Problem damit haben, von Hautfarbe und „race“ als gegebenen Tatsachen auszugehen. Die dadurch gekennzeichneten besonderen „Communities“ im Ganzen des Staatsvolks wollen sie auch gar nicht abschaffen. Was aus der Welt geschafft werden soll, ist jede womöglich noch fortbestehende rechtliche Ungleichbehandlung, die sich daran festmacht, und vor allem jeder Unterschied in den individuellen Lebenschancen, welchen auch immer, der wirklich oder womöglich damit verbunden ist. In anderen Ländern geht es hauptsächlich darum, dass Gruppen von Zuwanderern einerseits unterschiedslos im Gesamtvolk aufgehen sollen, das sich seinerseits nicht mehr monolithisch durch einen einzigen verbindlichen Sittenkodex definiert, was angesichts dessen, was moderne Menschen gerne als Vielfalt von Lebensstilen wahrnehmen, sowieso längst obsolet ist. Im Sinne eines solchen schönen Pluralismus sollen auch die noch ausgegrenzten, womöglich reaktiv sich selbst absondernden Parallelgesellschaften sich mit allen anderen, auch den Eingeborenen, im Unendlichen der integrativen Gesamtnation treffen.
Das alles ist ohne Zweifel gut gemeint. Und zugleich ein Offenbarungseid über die Quelle dieser Gesinnung. Denn es ist nicht nur so, dass die Vorkämpfer einer diskriminierungsfreien Volksgemeinschaft, die von „uns“ „gelebt werden“ muss, die politische und politökonomische Realität ausblenden, in der die erwünschte „bunte“ Einheit in der Vielfalt sich abspielt; dass sie die Härten und Gemeinheiten der permanenten Konkurrenz um Geld und Karriere, von denen sie so gut wie alle Betroffenen wissen, gerade mal nicht so wichtig finden wie das falsche Bewusstsein von dem Privileg, ein weißer Eingeborener zu sein. Sie nehmen Partei für den Schein, den derselbe Staat, der seinen Bürgern ihre Indienstnahme für die Nation als Privileg der autochthonen Bevölkerung verkauft, zugleich für sich in Anspruch nimmt und als letztlich entscheidende Messlatte für seine Güte und Großzügigkeit gelten lässt: die Ideale der Gleichheit und der Versöhnung aller gesellschaftlichen Gegensätze unter seinem Regime. Sie übernehmen das verlogene Selbstbild der bürgerlichen Herrschaft, dem zufolge alles, was sie im Innern des Landes, an dessen Grenzen und weltweit anrichtet, ihr allenfalls und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt zum Vorwurf gemacht werden kann, dass Vollkommenheit bei der Verwirklichung des Wahren, Guten und Schönen, für das sie unbedingt zuständig ist, auf dieser Erde schwer zu haben ist, die Realität, für die sie sich die Verantwortung nicht nehmen lässt, bisweilen also hässlich aussieht. Die kritischen Ermahnungen, die die Antirassisten wortgleich mit ihrem Staatsoberhaupt der Politik und dem großen „Wir“ zuteilwerden lassen, sind Beschwörungen der Lebenslüge des bürgerlichen Rechtsstaats, den sie „bunter“ machen möchten – und sind darin grundverkehrt.
2.
Die anderen, die Fans einer Heimat, die Fremde und Fremdes ausgrenzt, haben in den Nationen, die auch für nützliche Ausländer Verwendung haben und sogar mit Migration politisch etwas anzufangen wissen, keinen guten Ruf. Ihre Gegner werfen ihnen Rassismus vor; das taugt als Schimpfwort, weil der zuständige Staat rassistische Diskriminierung unter Berufung auf höchste Werte verbietet und ächtet. Offen rassistische Fanclubs tun einiges dafür, dass die Beschimpfung keine Falschen trifft und im kritischen und selbstkritischen Vergleich der Volkscharaktere das Bild vom „hässlichen Deutschen / Amerikaner / Weißen ...“ nicht ausstirbt. Was darüber in der öffentlichen Meinung leicht in den Hintergrund verschwindet, ist die feste staatsbürgerliche Gesinnung, die sich da betätigt und die sich nur manchmal explizit, öfters implizit und oft genug auch gar nicht rassistisch äußert.
Zuerst einmal und in der Hauptsache sind die Aktivisten der „rechten Szene“ Hardcore-Nationalisten. Ihre provozierende ‚Frage‘ Bist du Deutscher oder was!
, gestellt an Mitbürger, die es an ostentativem Ausländerhass fehlen lassen, zielt – ganz analog zu der Forderung ihrer Gegner, „Antirassismus“ zu „leben“ – nicht auf eine bloße Absage, ist kein negatives Echo auf die Anwesenheit von Ausländern im Land. Verlangt ist ein positives Bekenntnis, das ihrer Meinung nach viel zu kurz kommt, zum eigenen Volk und zu dessen in Sprache, Sitten, Geschichte, einer „Leitkultur“ und deren Denkmälern dokumentiertem herausragendem Charakter. Der ist für sie kein soziales Attribut in dem Sinn, dass praktische Notwendigkeiten und die darin wirksamen herrschenden Zwecke das Tun und Lassen der Leute bestimmen, ihnen dazu passende Überlegungen aufdrängen und per Gewohnheit zur ‚2. Natur‘ werden; mit politökonomischen Lebens- und Überlebensbedingungen, die der Klassenstaat gemäß seinem Konkurrenzerfolg in der Staatenwelt seinem Volk auferlegt, hat diese Vorstellung von Volksgenossen als Charaktermasken nichts zu tun. Sie denken sich die Bornierung auf den Status eines Produkts der Umstände, in die ein Mensch hineingeboren ist, der Lebensumstände im ganz umfassenden Sinn bis hin zu Landschaft und Verwandtschaft, als die geistige und seelische Identität, die das bürgerliche Subjekt determiniert; die gewohnheitsmäßige Anpassung an das, was nicht nur sie gerne „Wurzeln“ nennen, gilt ihnen als die bürgerliche Tugend schlechthin. Darin sind sie, beweisen und bewähren sie sich als radikale Anhänger des Scheins, auf dem der Klassenstaat besteht, wenn er seine menschliche Basis mit der Gewalt seines Rechts in die Schemata der kapitalistischen Konkurrenz um Geld und Karriere einpasst: Er wäre der Auftragnehmer eines ihm vorgegebenen waldursprünglichen Volkswillens und Hüter einer nationalen Leitkultur, die zum Wesen seines angestammten Volkes gehört. Im Sinne dieses Ideals pflegen die besonders konsequenten Patrioten eine Vorstellungswelt, die von der historischen Großartigkeit des Volkes handelt; mit sinnstiftenden Geschichten und zurechtgelogenen Bilderwelten vergewissern sie sich des Scheins von Heimat, mit dem die Staatsgewalt sich umgibt. An den glauben sie auch dann und gerade dann umso heftiger, wenn sie den gerade amtierenden Sachwaltern der Nation eine Verfehlung ihres eigentlichen Auftrags vorzuwerfen haben und dem lieben Volk mangelnden Heimatsinn.
Die Deutung der Befangenheit in heimatlichen Lebensumständen als wahre Identität des bürgerlichen Subjekts taugt für die rassistische Fortsetzung, wonach es sich bei dieser Identität nicht bloß um etwas wurzelhaft Naturwüchsiges handelt, sondern buchstäblich um ein Stück Natur; so als wäre die Rechtskategorie des eingeborenen Staatsbürgers nur die äußerliche Seite eines angeborenen, zoologisch objektiven Volkstums. Heimat, Volk und Sitte gelten als Naturbestimmungen, die dem Dasein seinen Sinn geben und seinen Wert begründen, die Nationalität als Eigenschaft, der man zwar mit bösem Willen eine Absage erteilen kann, womit man aber einen Verrat an der Volksgemeinschaft und an sich selbst als deren Produkt und Repräsentant begeht. Mit dieser Fiktion begründen konsequente Hardcore-Patrioten ihren rigiden Unvereinbarkeitsbeschluss gegen alles Fremde: Verschiedene nationale Kollektive können und sollen nebeneinander bestehen und dahinleben, nur vermischen dürfen sie sich nicht; Fremde im eigenen Land sind nicht nur Fremdkörper, ihre Anwesenheit ist per se ein Angriff auf die eigene Identität; Toleranz in dieser Frage ist Selbstaufgabe. Komplementär zum rassistischen Ausländerhass verdient die Familie höchste Wertschätzung: als Keimzelle des großartigen Menschenschlags, der sich, korrekte Partnerwahl vorausgesetzt, auf die Art vermehrt. Und so weiter.
Dass es im Alltag des nationalen Kapitalstandorts erst einmal auf ganz andere Dinge ankommt als auf die Pflege eigener und die Abwehr fremder Natur- und Kulturgüter, das ist natürlich auch den rechten Nationalisten klar. Dass sie selbst und ihre Volksgenossen in der Hauptsache nichts weiter als die unters Kapitalwachstum subsumierte, aufs Konkurrieren festgenagelte Manövriermasse der heimischen Staatsmacht sind, lassen sie aber, wie alle Patrioten jeglicher Couleur, nicht gelten. Als Moralisten des Gemeinwesens messen sie alles, was die Herrschaft für die Pflege ihrer Macht und ihres Reichtums von ihren Bürgern braucht und mit ihnen anstellt, an der Vorstellung eines hoheitlichen Versprechens, dem Volk seine Befangenheit in allen Lebensbedingungen, die als Heimat gelten, als exklusives Recht zu sichern. Das ist ihre Lesart der ideellen Bedeutung, die der Rechtsstaat dem Privileg der Eingeborenen beimisst, von Haus aus der Nation als Manövriermasse dienen zu dürfen.
Mit dem entsprechenden moralischen Rechtsanspruch in Sachen Ausländerfeindschaft kommen Rassisten im modernen Klassenstaat einerseits ganz gut auf ihre Kosten: Der hat zwar seine eigenen handfesten Gründe, das Elend auf der Welt von seinen Grenzen fernzuhalten, die einen Nationalisten nicht weiter interessieren müssen; aber dass ein erfolgreiches Grenzregime gegen unerwünschte Einwanderung auf Mauern nicht verzichten und auf tödliche „Einzelfälle“ keine Rücksicht nehmen kann und dass der liberale Rechtsstaat den trotzdem Durchgeschlüpften ihr Dasein zur Hölle machen muss, damit sich das weltweit herumspricht und den Migranten die Lust am Zuwandern vergeht, darin verstehen beide Seiten sich ganz gut. Andererseits trägt schon die Tatsache der Anwesenheit Nicht-Eingeborener im Land der Obrigkeit den Vorwurf der Pflichtvergessenheit gegenüber dem eigenen Volkskörper ein, darauf aufbauend den Verdacht, das Projekt der „Umvolkung“ zu betreiben. Das treibt manche Rechtsradikale zu den Taten, in denen sich Hegels Erkenntnis bewahrheitet, dass die Moral immerzu auf dem Sprung ist, ins Böse umzuschlagen
, und die den schlechten Ruf der Mannschaft immer wieder bekräftigen.
III. Freiheit fürs Volk oder Gleichheit für die Menschen: Überzeugungsarbeit für die richtige Gesinnung
Von Versuchen der Vertreter entgegengesetzter Lesarten des gewöhnlichen Staats- und Staatsbürger-Idealismus, die jeweils andere Seite zu überzeugen, ist nichts bekannt. Das halten beide Fraktionen von vornherein für aussichtslos; wohl zu Recht. Umso mehr kommt es ihnen darauf an, der Gegenseite das Wasser abzugraben, indem sie im Sinne ihrer patriotischen Moral aufs Volk einwirken; direkt agitatorisch und über die organisierte Öffentlichkeit.
1.
Rassisten appellieren ans Heimatgefühl der Bürger; auf denkbar schlichte Weise. Rhetorisch, graphisch, auch mit Musik werden gewohnte Lebensumstände in schöner Färbung nett bebildert; Fremdartiges wird, wo es passt, als brutale Störung hineingeschnitten. Damit kann man wahlberechtigte mündige Bürger tatsächlich beeinflussen. Man nutzt aus, dass die affirmative Stellung zur heimatlichen Klassengesellschaft, die der bürgerliche Staat seinem Volk als selbstverständliche Sicht auf seine Werke und das von ihm betreute gesellschaftliche Leben vorgibt, zum gewohnten, am Ende zum gewöhnlichen Standpunkt wird, der nicht aus Argumenten folgt, sondern vorgibt, was als Argument zählt. Als staatsbürgerliches „Wir“ prägt sich die Parteilichkeit für die – wie abstrakt und unsachlich auch immer bestimmte – „nationale Sache“ schon in die Wahrnehmung des Weltgeschehens ein und lädt sie mit moralischen Empfindungen auf. Auf Heimatgefühle dieser Machart baut die rechtsradikale Agitation auf, wenn sie das affirmative Bewusstsein mit aussagekräftigem Bildmaterial versorgt. Aber das langt natürlich nicht, um aus gewöhnlichen Parteigängern des Gemeinwesens aufgeregte Rechte zu machen, die ihre gesamte Erfahrungswelt unter den – vielfach enttäuschten – Glauben an eine naturwüchsige Volksgemeinschaft subsumieren. Den radikalen Aktivisten jedenfalls langt das nicht. Für ein herzhaftes Engagement der Adressaten brauchen sie schon noch einen überzeugenden Gesichtspunkt, der qualitativ über die Endlosschleife empörter Anklagen und schöner Beispiele gelebter Heimatliebe hinausgeht.
Das scheint schwierig: Argumente für eine Parteilichkeit, die von der Unmittelbarkeit eines praktischen Gefühls lebt, das sieht nach Widerspruch aus. Es geht aber ganz einfach: per Verschiebung der Sache auf eine höhere methodische Ebene; nämlich die des – angeblich oder wirklich, das spielt keine Rolle – bestrittenen Rechts, den eigenen Standpunkt einnehmen und kundtun zu dürfen. Rechtsradikale Agitatoren nutzen aus, dass im modernen Verfassungsstaat mit seiner „Zivilgesellschaft“ – und in der BRD mit ihrer Tradition des amtlichen Antifaschismus und eines populären Antikommunismus schon gleich – Radikalismus im Allgemeinen und Rassismus im Besonderen geächtet sind. Gegen die Abwehr ihrer Propaganda setzen sie die Forderung nach Freiheit, die nicht nur ihnen, sondern jedem aufrecht rechts gesinnten Volksgenossen von selbsternannten Aufsehern weggenommen würde; einen Anspruch auf Meinungsfreiheit, der in allen möglichen Fassungen daherkommt, vom Grundrecht, wie es in der Verfassung steht, bis zum gemurmelten ... wird man ja wohl noch sagen dürfen!
Man agitiert so für die rechte Sache, ohne für sie ein Argument bemühen zu müssen, aber auch ohne dass ein Missverständnis möglich wäre. Fürs richtige Verständnis reicht auf alle Fälle der Verweis auf eine „Political Correctness“, von der man nicht mehr sagen und wissen muss, als dass den Menschen damit was auch immer verboten wird; auf jeden Fall: zu sagen, was man denkt, „die Wahrheit“ nämlich, die den Autoritäten nicht in ihr volksfeindliches Geschäft passt, sonst müssten sie ja nicht ehrlichen Leuten den Mund verbieten. Mit solcher Ansprache an den Freiheitsdrang des Bürgers hat man gerade die Adressaten auf seiner Seite, die schon die Forderung nach Gründen für ihre Ansichten für eine Zumutung elitärer Besserwisser, jedes Argument für Bevormundung halten.
Die Stärke dieses Quidproquo, der Verschiebung des politischen Inhalts auf die Ebene des Dürfens, zeigt sich darin, dass es alle Gegner und noch die entgegenkommendsten Befürworter von Anstandsregeln in der politischen Diskussion in die Defensive bringt. Schließlich gehört die Erniedrigung jedes Arguments zu einer Sache, auf die man ein Recht hat, zu den Grundprinzipien des freiheitlich-demokratischen Gedankenaustauschs; die Erlaubnis, jeden Quatsch als private Meinung – und jede Erkenntnis nur als Privatmeinung – in Verkehr zu bringen, hängt im freiheitlichen Wertehimmel so hoch, dass Rechte und Liberale für den einen Satz Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden!
der Urheberin sogar ihren Kommunismus verzeihen, so gut gefällt er ihnen, fern von jedem Kontext, als Kalenderspruch. Und das gehört erst recht zu den Heiligtümern der Demokratie, dass die Wahlstimme des Volkes nicht auf Gründe befragt werden darf, was einem Freiheitsrecht auf politische Borniertheit gleichkommt; in diesem Sinn ist jedenfalls die Parole Wir sind das Volk!
zum agitatorischen Besitzstand der Rechten geworden.
Nicht nur die sind sich im Übrigen sicher, dass sie mit ihrer stellvertretend beleidigten Absage an die fortwährende Bevormundung der einfachen Leute, die nichts anderes tun, als ihre Heimat zu lieben, und mit der Beschwörung eines Rechts auf Säuberung dieser Heimat von allem und allen Fremden ihren Adressaten aus dem Herzen sprechen. Das attestieren ihnen auch alle Anwälte einer weltoffenen Zivilgesellschaft, die sich Sorgen machen um die womöglich nach rechts umkippende Stimmung im Volk, falls die Regierung – viele meinen: weiterhin – den Bürgern Migranten zumutet und auf Antirassismus als moralischer Norm und entsprechenden Sprachregelungen besteht.
2.
Die Anwälte einer integrativen, auch Migranten und Nicht-Bürgern gegenüber menschenfreundlichen Zivilgesellschaft haben es zum einen mit einem Staat zu tun, der in seiner Grenzpolitik buchstäblich über Leichen geht, in vielen Fällen auch im Innern das Leben und die Lebenschancen der Mitglieder verschiedener Bevölkerungsgruppen – unterschieden nach Herkunft, Hautfarbe, politökonomischem Status – recht unterschiedlich behandelt; Letzteres zwar nicht – mehr – per Gesetz, in der Praxis etlicher Staatsorgane aber durchaus erkennbar. Mit ihrer Kritik, ihrem Aufruf zur Empörung darüber tun die Aktivisten sich hier einerseits leicht. Was die innerstaatliche Diskriminierung betrifft, vor allem in ihren brutalen Erscheinungsformen, haben sie die Rechtslage auf ihrer Seite; beim Grenzregime zwar nicht, in Fragen seiner mörderischen Durchsetzung aber wenigstens manche Gerichte. Die rassistischen Praktiken verschwinden andererseits nicht. Und das offenbart einen gewissen Widerspruch in ihrem Kampf an dieser Front: Die Forderung nach Besserung richten sie an die politische Herrschaft, die teils faktisch und stillschweigend, teils explizit per Gesetz so verfährt, wie sie es nicht haben wollen. Dass das den meisten Aktivisten gar nicht widersprüchlich vorkommt, verrät den verkehrten Glauben an eine andere, viel bessere Mission der Staatsgewalt; ein Vertrauen, das sich mit einem großen eigentlich
über die brutale Realität hinwegsetzt und die Ermittlung der politischen Räson, über deren Konsequenzen man sich empört, durch den Vorwurf der Abweichung vom „eigentlich“ Versprochenen ersetzt. Die Vorstellung von einem Menschenrecht, dem die staatlichen Gewalten wirklich und pünktlich zu gehorchen hätten, spielt hier die große Rolle und lässt sich weder durch den Gebrauch erschüttern, den die Großmächte von diesem Höchstwert machen, wenn sie Gegner moralisch zum Abschuss herrichten, noch durch die Lockerheit, mit der sie entsprechend begründete Angriffe auf ihre Politik als belanglosen Moralismus zu den Akten legen.
Um die Staatsmacht in die richtige Richtung zu drängen, setzen demokratische Antirassisten auf die Öffentlichkeit – und sind damit bei ihrer Hauptaufgabe, Diskriminierung und Ausländerfeindschaft in der Gesellschaft überhaupt zu bekämpfen. Hier bekommen sie es mit der radikalen Minderheit derer zu tun, die dem Staat eine volksfeindliche Politik und dem Volk mangelnde Heimatliebe vorwerfen und schon mal selbst Gewalt anwenden, um die Nation völkisch zu säubern und den Bürgern den Weg zur rechten Gesinnung zu weisen. Die sind natürlich im Fall direkter Konfrontation der Gegner, insgesamt aber nicht das eigentliche Problem. Das ist die große Mehrheit der Gesellschaft, die öffentlich und auch privat verbotene Diskriminierung ablehnt und überhaupt den Grundsatz anerkennt, dass alle Menschen im Prinzip gleich behandelt gehören. So können die Antirassisten sich zwar sicher sein, dass sie für ihre Prinzipien keine großartige Begründung brauchen. Es hilft bloß nichts: So richtig mobilisieren, für wirksamen Einspruch gegen die politische und soziale Schlechtbehandlung von Ausländern und inländischen angeblichen Problemgruppen gewinnen lässt diese Mehrheit sich nicht.
Die Propaganda des Antirassismus trifft hier auf die moralische Ökonomie der Konkurrenzgesellschaft, in der Appelle ans Gewissen, das der Gesellschaft attestiert wird, durch Proteste aber erst wachgerufen werden soll, ihren festen Stellenwert haben. Sie sind und werden verbucht als Erinnerungen an den schönen Schein, den das Gemeinwesen fürs rechte Verständnis dessen, was es seinen Insassen zumutet und wozu es sie nötigt, geltend macht und den die Mitmacher auch gelten lassen, ohne darüber den Realismus des angepassten Mitmachens zu vergessen oder auch nur zu suspendieren. In diesem Sinne gilt: Diskriminieren gehört sich nicht, das ist klar. In der Konkurrenz um Geld und Karriere gehört es aber zum professionellen Handwerkszeug derer, die über Erfolg und Misserfolg anderer, Abhängiger, zu entscheiden haben, sowie überhaupt zu den Waffen in einem Lebenskampf, in dem Erfolge nur auf Kosten anderer zu haben sind. Dabei und durchaus auch dafür werden die Konkurrenzideale der Fairness und der Chancengleichheit in Anschlag gebracht; sowie – besonders wichtig, wo und weil es um Auf- und Abstieg in der Hierarchie der Einkommen und der Lasten im Berufsleben geht – die Idee der Leistungsgerechtigkeit, die eine Diskriminierung nach sachfremden Gesichtspunkten ausschließt; eigentlich jedenfalls, denn die raue Wirklichkeit funktioniert eben doch nicht so. Vor allem aber: Was heißt schon ‚sachfremd‘? Was bedeutet denn sachgemäß in der Leistungskonkurrenz, die die moderne kapitalistische Klassengesellschaft praktiziert? Anhänger der Idee einer irgendwie objektiven Zuordnung von erbrachter Leistung – offene Frage: welche und für wen? – und Entgelt – wofür wie viel? – müssen hier ganz tapfer sein und der hässlichen Realität ins Auge schauen: Sachgemäßes Kriterium für Erfolg und Misserfolg im bürgerlichen Lebenskampf ist nichts als das tatsächliche Ergebnis. Dass man das individuellen Tugenden zuschreibt, wie Tüchtigkeit oder – schon nahe an der Realität – Durchsetzungsfähigkeit, ist nichts als der rechtfertigende Pseudo-Rückschluss vom Resultat aufs Subjekt, das es dazu gebracht hat.
Doch was geht das empörte Antirassisten an? Die bestehen darauf, dass ‚äußere‘ Merkmale wie die Hautfarbe oder auch eher innerliche wie Religion oder gruppenspezifische Sitten in der freien Konkurrenz keine Rolle spielen dürfen. Und da lassen die Verhältnisse weltweit doch schwer zu wünschen übrig: So gut wie überall sind die Chancen – welche auch immer! – farbiger und sonstiger Minderheiten deutlich geringer als die ihrer weißen bzw. zum angestammten Staatsvolk zählenden Kollegen und Wettbewerber. So zeigt sich dem antirassistischen Blick die moderne Gesellschaft als eine Hierarchie der Positionen, des Einkommens, der Macht und der Konkurrenz um Auf- und Abstieg; und dass das gut wäre, wollen sie gar nicht behaupten, auch nicht unbedingt bestreiten, dass da irgendwie Kapitalismus am Werk ist. Sie nehmen sich nur die Freiheit, neben Hierarchie und Konkurrenz und die darin wirkende Räson der freien Marktwirtschaft den Skandal einer Diskriminierung zu stellen, die auf jeder der dort vorgegebenen ‚Ebenen‘ von Erfolg und Misserfolg die Gleichheit der Chancen zu Aufstieg, Reichtum und Macht verletzt. Ihre kritische Messlatte ist Gleichheit in der Ungleichheit; und zwar in der Ungleichheit, die aus der Herrschaft des Kapitals über Arbeit und Reichtum der Gesellschaft folgt, Abhängigkeiten und Macht begründet, Armut und den Zwang, sich für fremde Interessen nützlich zu machen, zum Inhalt hat. Dass auf jeder dieser durch ihre kapitalistische Funktion definierten ‚Ebenen‘ der gesellschaftlichen Hierarchie wiederum ein Kampf um Erfolg auf Kosten anderer tobt, wollen die Rassismuskritiker auch nicht loben; tadeln wollen sie, dass zu den Kriterien, nach denen die Zuständigen über den Lebenserfolg und Misserfolg der von ihnen Abhängigen entscheiden, und zu den Bewerbungs- und Wettbewerbsmitteln derer, über die entschieden wird, unter etlichen anderen auch Merkmale der Hautfarbe etc. gehören. Sie üben Kritik vom Standpunkt des Ideals einer Abstraktion, die die gesellschaftliche Elite beim Gebrauch ihrer Entscheidungsmacht und die Abhängigen in ihrer Konkurrenz um Erfolg durch Anpassung beherzigen müssten. [1] Für den Kosmos der höheren Werte, in dem das bürgerliche Gemeinwesen sich so gerne spiegelt, sind das auf jeden Fall brauchbare Ergänzungen: konstruktive Beiträge zum Reich des „Eigentlichen“, als dessen unvollkommene Verwirklichung dieses Wesen, durchaus auch kritisch, wahrgenommen werden will.
An diesem Versprechen zweifeln die einen, verzweifeln die anderen Aktivisten des antirassistischen Protests. Die einen sind enttäuscht, aber nicht entmutigt; sie versuchen es von Fall zu Fall, von einem Skandal zum nächsten immer wieder, die Gesellschaft zu verbessern, indem sie ihr ins Gewissen reden. Andere ziehen aus ihren wiederholten schlechten Erfahrungen mit der Kulturtechnik des Konkurrenzidealismus, die im bürgerlichen Gemeinwesen so flächendeckend zur Anwendung kommt, den Schluss, dass die Gesellschaft heillos in moralischer Inkonsequenz oder in ihrer Heuchelei befangen und bis auf Weiteres nicht zu retten ist, und erteilen ihr eine Absage. [2]) Maßgebliche Wortführer der Bewegung verarbeiten Enttäuschung und Verbitterung zu der gesellschaftskritischen Diagnose, dass der Rassismus offenbar viel tiefer sitzt und verankert ist als da, wo man ihn durch moralische Appelle noch erreichen kann. Wo, das ist den alltäglichen Erfahrungen der Mitglieder einschlägiger „Problemgruppen“ zu entnehmen: von Menschen, die immerzu als nicht dazugehörig behandelt werden, zumindest sich als Fremde behandelt fühlen, wo sie doch nichts als voll integrierte Staatsbürger sein und ohne Wenn und Aber als Teil der Volksgemeinschaft akzeptiert sein wollen. Deren Wahrnehmung von Ausgrenzung und Diskriminierung deckt auf, wo überall Rassismus lauert und worin er recht eigentlich besteht.
Und das ist ja nicht zu bestreiten: „People of Color“, Migranten, auch solche der x-ten Generation, und Mitglieder anderer ‚Parallelgesellschaften‘ sind ziemlich stereotyp mit Vorbehalten konfrontiert, die ihnen als solchen in der Welt der allgegenwärtigen, politökonomisch begründeten, entsprechend wuchtigen Diskriminierungen durch die kapitalistische Konkurrenz das Leben extra schwer machen. Der Sachverhalt, mit dem sie da ihre speziell schlechten Erfahrungen machen, ist der herrschende staatsbürgerliche Patriotismus in seiner Elementarform: das nationale „Wir“, in dem ein ausgrenzendes Rechtsbewusstsein des eingeborenen Bürgers allemal seinen Platz hat; verfestigt zu einer gefühlsmäßig wertenden Anschauung der Welt. Eine andere Sache ist der Gesichtspunkt, unter dem selbst erlebte oder im Umfeld wahrgenommene Diskriminierungen Betroffenheit auslösen und kritisiert werden. Hier kommen regelmäßig die hohen Werte des bürgerlichen Staates und der freien Konkurrenz praktisch zum Zug: Verletzt ist das Ideal der Gleichbehandlung, mit dem der bürgerliche Staat seine Gesellschaft beglückt, wenn er ihre Benutzung durch „die Wirtschaft“ organisiert. Verstoßen wird gegen die Idee der Leistungsgerechtigkeit, mit der das System der Konkurrenz sich das beste Zeugnis ausstellt. Und gar nicht eingelöst wird das Versprechen des nationalen Staates, bei ihm könnte jeder Einwohner rein als Mensch voll und ganz zu Hause sein. Wenn jemand durch die Missachtung dieser Werte persönlich beleidigt ist, dann ist sein Rechtsbewusstsein in gleicher Weise zum Standpunkt des praktischen Interesses an der Welt und ihrer Wahrnehmung und Beurteilung geworden wie beim Mehrheitspatrioten der bornierte Idealismus der exklusiven Heimat. Und er selbst ist in seiner Betroffenheit der leibhaftige Beleg dafür, dass hier „struktureller“ Rassismus vorliegt.
Es liegt in der Natur dieser Diagnose, dass von diesem Rassismus so viel aufgedeckt wird, wie die Sensibilität der tatsächlich oder stellvertretend Betroffenen hergibt. Entsprechend viel gibt es für gewissenhafte Antirassisten zu tun. Beliebter Kampfplatz ist das weite Feld der Namen und Zeichen, der Traditionen und Denkmäler, die den dummen Stolz der Nation auf Figuren und Taten aus der kolonialistischen, offen rassistischen Vorgeschichte heutiger Staatswesen repräsentieren und deswegen von beleidigten Patrioten des Man wird doch noch sagen dürfen...
in Ehren gehalten, gegebenenfalls mit Gewalt gegen symbolkräftig gemeinte Umsturzversuche verteidigt werden. Einmal in Gang gebracht, kennt das moralisch wertvolle Bedürfnis, Rassismus jenseits von Urteilen und erkennbaren Absichten dingfest zu machen und aus der Welt zu schaffen, kein Halten mehr. In manchen, vor allem akademischen Kreisen hat es mittlerweile zu einem regelrechten Wettbewerb der Empfindlichkeiten geführt. Den könnte man getrost den Konditoren, den Ornithologen und der Duden-Redaktion überlassen, wenn die inkriminierten Fundstücke nicht mit so fundamentaler Bedeutung aufgeladen würden, als wäre der kritische Geist da tatsächlich dem Elend des Nationalismus auf der Spur.
Wo ist man da gelandet? Auf jeden Fall bei einem Freispruch für den zeitgenössischen Klassenstaat, der erklärten Rassismus weder braucht noch gebrauchen kann, um Menschen in brauchbarer Weise zu diskriminieren und, wo es nottut, im übertragenen Sinn und buchstäblich über Leichen zu gehen.
[1] Die Theorie des „White Privilege“ – zur Illustration ein Zitat aus Reni Eddo-Lodge: Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe rede, 2019: Wie soll ich White Privilege definieren? Es ist so schwierig, eine Leerstelle zu beschreiben, etwas, das abwesend ist. Und White Privilege ist die Abwesenheit der negativen Folgen von Rassismus. Die Abwesenheit struktureller Diskriminierung, die Abwesenheit des ‚aufgrund meiner Hautfarbe ist es weniger wahrscheinlich, dass ich erfolgreich sein werde‘. Es ist die Abwesenheit schräger Blicke, ... die Abwesenheit lebenslanger subtiler Marginalisierung und Abstempelung zum Anderen – der Ausschluss vom Narrativ, ein Mensch zu sein. Die Beschreibung und Definition dieser Abwesenheit bedeutet, das Weißsein nicht länger ins Zentrum zu stellen und Weiße daran zu erinnern, dass ihre Erfahrung nicht die Norm für den Rest von uns ist.
(S. 97) – lebt von diesem Ideal der Gleichheit in der Verschiedenheit der Rangstufen, die die Hierarchie der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft ausmachen. Manche Antirassisten vertreten dieses Ideal so konsequent, dass sie die pauschale Abstraktion von rassischen Unterschieden – das Konzept der „Farbenblindheit“ – ablehnen und für jede irgendwie mit Macht ausgestattete Funktion in der Klassengesellschaft, am Ende für jedes Metier – auch das der Übersetzung von Lyrik macht da keine Ausnahme – Maßnahmen verlangen, die wirklich oder ideell erlittene Privilegierungen und Benachteiligungen ausgleichen, womöglich noch bestehende oder drohende überwinden sollen und folglich explizit an die jeweilige gruppenspezifische Besonderheit anknüpfen. Natürlich verwahren sich die Wortführer dieses dialektischen Gleichheitsidealismus gegen den plumpen Vorwurf des umgedrehten Rassismus: Sie bestehen ja bloß auf der für alle „Rassen“ gleichermaßen geltend zu machenden vollständigen Subsumtion der Individuen unter ihre besondere, besonders eingefärbte Community.
[2] Schwer zu sagen, ob die Protestparole Black lives matter!
in den USA mehr für die erste oder die zweite Variante steht.