Weltweite Empörung über Folter in amerikanischen Militärgefängnissen
Die Moral im Krieg und ihr Einsatz als Waffe der Kritik

Die weltweite Empörung über Folter in amerikanischen Militärgefängnissen: Das Kunststück, ein vernünftiges Töten und Verletzen zu billigen und es von einer überflüssigen und daher unerträglichen Barbarei zu scheiden, bringt das menschliche Gefühl nur unter Anleitung zustande. Das ur-menschliche Gefühl folgt hierin nichts anderem als einer staatlichen Rechtssetzung.

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Weltweite Empörung über Folter in amerikanischen Militärgefängnissen
Die Moral im Krieg und ihr Einsatz als Waffe der Kritik

Wenn der deutsche Außenminister den Verlust der moralischen Führerschaft der USA beklagt und deren schleunigste Wiederherstellung fordert, wenn italienische Oppositionspolitiker angesichts der bekannt gewordenen Misshandlungen einen Rückzug ihrer Truppen aus dem Irak fordern und polnische Regierungsstellen dasselbe erwägen, wenn Bushs Konkurrent ums Präsidentenamt die Ehre der Truppe durch verkehrte Führer beschädigt sieht, dann ist nicht zu übersehen, dass da mit einem moralischen Skandal Politik gemacht wird. Weltweit kochen interessierte Parteien ihr Süppchen auf der Sache – und der Aufmerksamkeit, die dem Entdecken und Durchschauen der Heucheleien der verschiedenen Seiten gilt, entgeht nur allzu leicht, was die Sache selber ist, die da funktionalisiert wird. Dass nämlich haargenau beim Foltern von Kriegsgefangenen die Unmenschlichkeit anfängt, davon geht die geradezu automatisch abrufbare Empörung über den Skandal ganz selbstverständlich aus.

Wenn sich die Medien auf die anklagende „Macht der Bilder“ verlassen, die einen nackten Mann am Hundehalsband oder einen verkabelten Kapuzenmann wie gekreuzigt auf einer Kiste stehend zeigen, oder sich von Entsetzen und Abscheu überwältigt geben, dann appellieren sie – berechnend – an ein unmittelbares menschliches Gefühl, das keinerlei Begründung nötig hat. Die bekannt gewordenen Fakten sind das ganze Argument; und zwar deshalb, weil sie von vornherein nur unter dem Gesichtspunkt des Verstoßes gegen anerkannte Maßstäbe zur Kenntnis genommen werden. Dass es sich dabei um Regeln und Normen des Krieges handelt – um die Unterscheidung des nötigen und anerkannten Niedermetzelns feindlicher Soldaten von einem nicht mehr anerkennungswürdigen Exzess –, ficht die feinfühligen Humanisten vor und hinter den Bildschirmen nicht an. Das Kunststück, ein vernünftiges Töten und Verletzen zu billigen und es von einer überflüssigen und daher unerträglichen Barbarei zu scheiden, bringt das menschliche Gefühl freilich nur unter Anleitung zustande. Das ur-menschliche Gefühl folgt hierin nichts anderem als einer staatlichen Rechtssetzung – in diesem Fall einer zwischenstaatlichen. Regierungen verschiedenster, schließlich aller Nationen, die sich den Krieg nicht nehmen lassen, haben für die Phase der nackten Gewalt zwischen ihren ehrenwerten Gemeinwesen quasi rechtliche Regeln nützlich gefunden, die ein erlaubtes Verhalten im Kriege von einem unrechtmäßigen unterscheiden. Die Schranken und Verbote des Kriegsrechts, das – man weiß nicht genau, ob wegen einer Verwechslung der Urheberschaft oder wegen der Wertschätzung seiner Nutznießer – zum Völkerrecht zählt, folgen jedenfalls nicht dem moralischen Gefühl, sondern politischer Berechnung. Die aus solcher Berechnung hervorgehende Selbstbindung geloben die souveränen Kriegsherren bei ihrem Schlachten zu beherzigen.

Nun haben amerikanische Soldaten und, soviel Emanzipation muss sein, Soldatinnen dagegen verstoßen. Weil sie als Vertreter von Stars and Stripes unterwegs sind, ist ihre große Nation auf der Anklagebank. Rechtlich gesehen ist das für den angeklagten Staat unerheblich: Kein Gericht und kein Fischer verhängt eine Geldbuße oder Haftstrafe für die „Verantwortlichen“. Aber breitgetreten wird die Sache schon, und Konsequenzen werden von der US-Regierung auch verlangt: Sie soll nach Verletzung besagter Normen zeigen, dass sie zu ihnen steht und ihre Einhaltung für eine Pflicht hält; sie soll sich von den Übeltätern distanzieren, indem sie diese bestraft. Und sie nimmt sich dieses Auftrags auch – leicht widerwillig – an. Diese Reaktion verrät immerhin einiges Interesse an der Reputation und der Verwendung des Kriegsrechts auch durch die, die es gerade gebrochen haben; sie enthält aber kaum eine Auskunft darüber, worin eigentlich die Verfehlung der militärischen Dienstleister bestanden hat. Was ist den Urhebern dieses Regelwerks eigentlich eingefallen, als sie sich darauf verständigt haben, dass es auch im Krieg Sachen gibt, die sich nicht gehören?

Moral und Berechnung I: Der Umgang mit entwaffneten Feinden

In Konventionen und „Landkriegsordnungen“ ist niedergelegt, dass all den Leuten, die im Krieg absehbar zum Opfer der wohlkalkulierten Gewaltorgien werden, ein grundsätzlicher Rest an Respekt zusteht. Wenn große Schlachten und rundum gelungene Bombenteppiche ihre Wirkung getan haben, erklären Staaten ihren wehrlos gemachten, überlebenden Opfern, dass das Vernichtungswerk eigentlich gar nicht ihnen, in ihrer Eigenschaft als Menschen, gegolten hat. Krieg geführt wird nur gegen die feindliche Nation; und deren lebendes Inventar wird „nur“ deshalb in Mit-Leidenschaft gezogen, weil es, nolens oder volens, das Werkzeug der feindlichen Staatsgewalt ist. Die Zerstörung der Lebensmittel, Gesundheit und vieler Leben ist zwar unvermeidlich, hat sich aber auf das Notwendige – was eine Kriegspartei für ihren Sieg eben so braucht – zu beschränken. Allen Ernstes verstehen sich Staatenlenker, die sich besten Gewissens der barbarischen „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ befleißigen, auf eine quasi rechtliche Definition der Grenzen der Schädigung, die sie auswärtigen Untertanen zufügen, sobald sie das Wirken einer anderen Staatsgewalt für unvereinbar mit ihren eigenen Interessen halten.

Diese Beschränkung, die sich Kriegsherren bei und nach ihren Verwüstungen auferlegen, hat gute Gründe – was sie „in der Realität“ leistet, wissen drangsalierte Gefangene und kollateralgeschädige Pechvögel ganz gut. Sie ist ein berechnender Rückruf, eine bedingte Absage an die moralische Aufrüstung, welche Kriegsherren zunächst einmal ihren bewaffneten Dienern gewähren, wenn sie die mit dem Auftrag zu rücksichtsloser Vernichtung auf den Weg schicken. Kein Feindbild – ob diktatorisch oder demokratisch gestrickt – erschöpft sich in übler Nachrede über die feindliche Herrschaft; deren bedienstete Manövriermasse kommt allemal ins Visier, denn sie gestattet schließlich der unerträglichen politischen Führung ihre Umtriebe, befähigt sie zu ihrem feindlichen Benehmen, ist also zu vernichten. Die Berechnung, die großspurig als Achtung vor dem Menschen daherkommt, gilt dem Willen der unterworfenen Bevölkerung samt der gefangenen Soldaten, der einer neuen Verwendung in dem Frieden zugeführt werden soll, von dem die Sieger so ihre Vorstellungen haben. Das unter ihre Macht geratene fremde Volk soll lernen, dass Gehorsam auch der neuen Macht gegenüber geht und nunmehr der Weg ist, durchs Leben zu kommen. Die bedingte Trennung zwischen der feindlichen Staatsmacht und den von ihr „missbrauchten“ Menschen zielt ferner – nicht zu vergessen – auf die Re-Zivilisierung der eigenen Mannschaften, die für den Zweck des Krieges zu Taten ermächtigt und beflügelt werden, die im Friedensdienst der äußeren und inneren Mission nichts verloren haben. Auch sie müssen lernen, dass die Lizenz zum Töten und anderen Schweinereien nur bedingt und befristet ausgestellt wird und nur im Namen der nationalen Sache und zu deren Nutzen in Kraft tritt. Das gibt bekanntlich der Moral, wie ihrem Sitz, der Seele, vieler Soldaten höherer und niederer Ränge manche harte Nuss zu knacken.

Das amerikanische Recht auf Krieg ist unvereinbar mit dem gültigen Kriegsrecht

In dem weltweiten Krieg, den Präsident Bush nach den Anschlägen des 11. September 2001 ausgerufen hat, ist der Verstoß gegen das Völkerrecht und besonders gegen die Konventionen, die den Umgang mit Kriegsgefangenen regeln, nicht der übliche, zur verlangten Gewalttätigkeit gehörige Exzess unterer Chargen, sondern Programm. Schon die hochmoralische Begründung dieses Akts der Selbstverteidigung gegen einen inoffiziellen Kriegsakt, der heimtückisch und – wie Bush es sieht – völlig unprovoziert friedliche amerikanische Zivilisten zu Tausenden ermordete, war eine Ansage: Ab sofort ist Amerika zu allem berechtigt und muss sich vor nichts mehr rechtfertigen. Seine Selbstverteidigung kennt keine territorialen und staatlichen Grenzen. Alle Länder können Schauplatz der Terroristenjagd werden; alle Hoheiten werden vor die Alternative gestellt, sich mit ihren Potenzen zum Diener des amerikanischen Sicherheitsbedürfnisses zu machen oder selbst zu den Terroristen gezählt zu werden. Und sie kennt auch keine moralischen Grenzen: Der Feind ist keine wenigstens im Prinzip legitime Gewalt, die „nur“ den Umkreis der ihr zugestandenen Rechte überschreitet; die Kämpfer sind keine Soldaten, sondern Verbrecher, nämlich als Privatpersonen Träger feindlicher Gewalt, Terroristen mithin. Staaten wie Afghanistan und der Irak, die im Rahmen des Feldzugs gegen den Terrorismus ins Visier der Amerikaner geraten, werden kurzerhand der übernationalen Verschwörung der islamistischen Geheimbündler zugeschlagen: Auch sie gelten nicht als im Prinzip legitime Gewalten, die nach dem Krieg zu neuen, vom Sieger diktierten Bedingungen wieder zum zwischenstaatlichen Verkehr zugelassen werden sollen, sondern als DAS BÖSE, das eigentlich nur ausgerottet werden kann. Die USA anerkennen diese Staaten nicht als Feinde, die ihren Widerstand gegen amerikanische Interessen aufgeben sollen, sondern praktizieren ihnen gegenüber eine totale Nicht-Anerkennung: Ihnen wird nicht einmal die Kapitulation erlaubt. Ihre Regime und mit ihnen die Sorte Nation und Nationalismus, für die sie stehen, werden vernichtet, ihre Organisationen, einschließlich der Staatsverwaltung und des Militärs, werden kriminalisiert und aufgelöst und durch ein US-Gezücht unter US-Besatzung ersetzt.

Inzwischen stehen die USA im Irak in einem regelrechten Partisanenkrieg – und das in einer Phase, in der sie schon den Wiederaufbau und die Umerziehung der Iraker zu neuen Untertanen auf dem Plan hatten. Immer neue Anschläge, regionale Aufstände von alten Saddam-Nationalisten, von alternativen Nationalisten eines schiitischen Gottesstaates oder von internationalistischen Dschihad-Kämpfern bestätigen den Eroberern das Urteil, mit dem sie angetreten waren: alles Terroristen. Personen, die gegen ihre wohltätige Besatzung Widerstand leisten, verdienen die kriegsrechtliche Behandlung als bloße Instrumente einer feindlichen Staatsmacht, die niedergerungen werden soll, schon gleich nicht. Die nationale Sache, der sie ihrer Vorstellung nach dienen, existiert nicht mehr oder noch nicht; also repräsentieren sie mit ihrem widerständigen Willen eine unverbesserliche Feindschaft, die ausgerottet werden muss. Nur ein toter Partisan ist kein Sicherheitsrisiko mehr für die Besatzer. Seine Neutralisierung ist mit seiner Inhaftierung nicht vorbei – zumal sie das ja auch im „zivilisierten“ Krieg und bei normalen Kriegsgefangenen schon nicht ist: Gefangene Soldaten sind immer mögliche Informationsquellen über Standort, Stärke, Bewaffnung und Pläne des Feindes und bekommen das zu spüren. Gegenüber „Terroristen“ aber fehlt nicht nur die bremsende Berechnung auf eine Resozialisierung als Untertan der neuen Macht, ihre psychische und physische Vernichtung ist darüber hinaus auf die Abschreckung ihres sympathisierenden Umfelds berechnet. Die Besatzungsmacht schafft Sicherheit für sich, indem sie die schwierige Unterscheidung von Zivilisten und – unfairer Weise – nicht uniformierten Kämpfern diesen überlässt und etwa in einer einzigen Woche in Falludscha 600 Anwohner tötet, weil sie eines Kerns lokaler Widerstandskämpfer nicht Herr wird: Soll sich das zur Unterordnung bereite Volk doch selbst von den Aufständischen scheiden und diese der Besatzungsmacht zum Abschuss freigeben; andernfalls kann diese keine Rücksicht nehmen.

Nichts davon verschweigen die verantwortlichen US-Größen. Sie haben von Anfang an darauf bestanden, dass sich das amerikanische Selbstverteidigungsrecht nicht von völkerrechtlichen Abstimmungen in der UNO oder von hieb- und stichfesten Beweisen für die Verbrechen des Feindes abhängig machen kann, und dass der präventive Angriff auf mögliche Terroristen nicht warten darf, bis sie irgend etwas verbrochen haben. Der Präsident hat sich vom Kongress offiziell ermächtigen lassen, „unlawful combatants“ außerhalb sowohl des amerikanischen wie des internationalen Kriegsrechts zu traktieren: Feinden dieses Schlages gesteht er den Status des Kriegsgefangenen nach der Genfer Konvention nicht zu; sie werden als Informationsquelle für die Zerschlagung ihrer Organisationen und für den Kampf gegen ihre Sache genutzt – dafür zieht Amerika „die Samthandschuhe aus“. In diesem Sinn war das Gefängnispersonal nicht nur verhetzt und losgelassen, sondern beauftragt, den Gefangenen „das Leben zur Hölle zu machen“, um sie weich zu klopfen („to soften them up“). Guantanamo ist ein Foltercamp und die Welt sollte es wissen; für Militärgefängnisse in Afghanistan und Irak gilt dasselbe.

Die Schwierigkeit, eine grundverkehrte Nation zu befreien

Dass nun Bush, Rumsfeld und ihre Condoleezza die Befolgung ihres expliziten oder impliziten Auftrags als private Übergriffe Einzelner hinstellen, die gezeigte Grausamkeit als „unamerikanisch“ verurteilen und militärstrafrechtlich verfolgen lassen, dass sie, nachdem „die Bilder“ trotz massiver Intervention ihrerseits nicht mehr geheim zu halten waren, eifrig aufklären und zeigen, was die Demokratie von der Diktatur unterscheidet, dass sie sich, ein wenig verklausuliert vielleicht, bei den Opfern und ihren Völkern entschuldigen und Scham zu Protokoll geben – im wesentlichen darüber, dass die Ehre ihrer Truppe, des feinsten Menschentums, das die Welt kennt,[1] Schaden genommen hat –: das alles entspringt selbstverständlich keiner Rückmeldung des Gewissens. Es ist schon wieder ein Ergebnis politischer Berechnung – erst einmal Ergebnis einer misslungenen Berechnung der amerikanischen Irakpolitik.

So haben sich die Eroberer den Besitz ihrer Beute nämlich nicht vorgestellt. Sie sahen sich als Befreier des irakischen Volkes von einem üblen Diktator. Ihr Interesse an einer zuverlässig pro-amerikanischen Bastion im Nahen Osten, die sie von einem gedemütigten und daher gefährlichen Nationalismus befreien und modernisieren wollen, ihr Interesse an einem gesicherten Zugriff auf die zweitgrößten Erdölvorräte der Erde und ihr daraus folgender Anspruch auf strategische Kontrolle: das alles sollte sich treffen mit einem Interesse der befreiten Iraker an Demokratie und Kapitalismus. Die sollten und sollen ja immer noch unter amerikanischer Anleitung willig einen Staat machen, der gar nicht anders kann und gar nichts anderes will, als US-Interessen zu dienen. Anders als Israel mit seinem asymmetrischen Kleinkrieg gegen die aufständischen Palästinenser wollen die USA die mit Saddams Erledigung freigesetzten konkurrierenden Herrschaftsansprüche im Irak nicht ausrotten, sondern ausnutzen und dort wie anderswo den Widerspruch ihrer globalen Herrschaft zum Erfolg bringen: Sie wollten und wollen einen Irak, der als eigene Herrschaft funktioniert, der von der Bevölkerung – unabhängig davon, dass es das einheitliche, einige Volk gar nicht gibt –, irgendwie gewollt und getragen, d.h. gehorsam ertragen wird und der zugleich so konstruiert, militärisch überwacht und bündnismäßig unter amerikanische Kontrolle gestellt ist, dass er garantiert keine störenden Nationalinteressen entwickelt. Stattdessen sind die Besatzer mit Aufständen konfrontiert, die jede Ordnung verhindern und ihnen nur zeigen, dass allzu viele Iraker die Freiheit nicht wollen, die Bush ihnen bringt, und dass sie selber nationale Ideen von einem lebenswerten Irak haben, die sich mit denen der USA in gar keiner Weise vertragen.

Praktisch stellen sich die Besatzer dem Partisanenkrieg, machen Stadtviertel dem Erdboden gleich, töten alles, was ihnen verdächtig vorkommt, und internieren massenhaft unzuverlässige Bevölkerung. Die bekommt in den Lagern des Militärs die bekannte Sonderbehandlung – und das ganze in sich verfeindete Volk lernt daraus, dass der Ami dem Araber und seinem Recht auf eine eigene Nation keine Chance lässt, dass er nur unterdrücken und irakisches Öl rauben will. Mit dieser Lektion, die der widerständigen Bevölkerung die Alternativlosigkeit ihrer Unterordnung unter das Besatzungsregime klar machen soll, machen sich die Amerikaner mithin immer größere Teile des Volkes zum Feind. Also widmen sich die „Befreier“ einerseits den Problemen einer Besatzungsmacht erst recht mit aller erforderlichen Brutalität. Eine gewisse rassistische Unterdrückung des für die Freiheit so untauglichen Menschenschlags muss sein, denn ein ergebnisloser Rückzug der US-Macht nach dem Motto: Nichts für ungut, wir hatten gedacht, es sei in eurem Sinn!, kommt auf keinen Fall in Frage. Zugleich bemüht man sich um Signale an das irakische Volk, damit es endlich versteht, dass die harte Behandlung nicht auf Dauer angelegt ist und nicht dem Iraker als Iraker gilt, sondern nur seiner Rolle als aufständischer Terrorist. Keine leichte Aufgabe für die irakischen Massen, aber auch nicht für die Agenten des amerikanischen Volkserziehungsprogramms. Die Bilder aus Abu Ghraib geben zu erkennen, wie komplett die Einschätzung der inhaftierten Aufständischen als Untermenschen bei den Befreiern schon gediehen ist. Wenn die Präsidentenmannschaft nun Ungeheuerlichkeiten einräumt, die sich Rumsfeld und seine Kommandeure nie hätten vorstellen können, dann um die rassistische, alle Moslems und Araber verletzende Menschenverachtung ein wenig zu bremsen und um auf einer Grenze zu bestehen zwischen den nötigen Werkzeugen der hochnotpeinlichen Befragung terrorismusverdächtiger Personen und unnötigen Gewaltexzessen – auch wenn gegen verstockte Überzeugungstäter Gewalt eigentlich gar nicht exzessiv sein kann. Das offensichtliche Vergnügen, das die verrohten Wachmannschaften sich aus den Quälereien machen, das ist nach der den 1800 Fotos und Videos nachgereichten amtlichen Lesart ein zweifelsfreier Verstoß gegen die Menschenwürde. Foltern, aber bitte nur auftragsgemäß, ohne privaten Sadismus und ohne alle Zeichen der Befriedigung auf Seiten der Peiniger – soviel Selbstdisziplin muss Amerika in die Menschlichkeit, d.h. in die inzwischen sehr vage Rechnung auf eine irgendwann kooperationsbereite irakische Bevölkerung schon investieren. Dass es sich angesichts der Anforderungen an wirkungsvolle Verhörmethoden bei der verlangten Grenze um eine sehr feinsinnige handelt, zeigen erste Korrekturen an der Liste der „Weichmacher“, die noch oder nicht mehr erlaubt ein sollen: „Nach Informationen der Nachrichtenagentur AP will der Oberkommandierende im Irak, General Ricardo Sanchez, Schlafentzug von mehr als 72 Stunden und den Zwang zu unbequemen Körperhaltungen für mehr als 45 Minuten nicht mehr gestatten.“ (Tagesschau.de, 15.5.04)[2]

Moral und Berechnung II: Große Politik mit dem Entsetzen über Folterungen

1. Die USA praktizieren ein neues Kriegsrecht und finden damit einigen Anklang

Mit dem Eingeständnis, das Notwendige übertrieben, richtiger: Übertreibungen durch mangelnde Aufsicht geduldet zu haben, treten die Außenpolitiker der USA an der Rest der Welt heran. Dadurch, dass sie sich für den Exzess entschuldigen und Aufklärung wie Bestrafung der Unkorrektheiten ankündigen, fordern sie die Anerkennung dessen, was sie notwendig nennen, vom Rest der Staatenwelt. So sieht der Respekt vor dem Völkerrecht aus, den sie angebracht finden. Die USA denken ja gar nicht daran, sich außerhalb des internationalen Rechts zu stellen oder sich die Rechtlichkeit ihrer außenpolitischen Handlungen absprechen zu lassen. Die Supermacht bekennt sich zur Notwendigkeit des Kriegsrechts, um ihren Partnern und Konkurrenten dessen Fortschreibung und Anpassung an ihre imperialistischen Bedürfnisse und das an erreichte Kräfteverhältnis abzufordern. Dabei besteht sie darauf, von denen als berufener Hüter und Vollstrecker des Völkerrechts respektiert zu werden.[3]

Für sich genommen sind die Auftritte, die amerikanische Führer in dieser Sache hinlegen, groteske Unverschämtheiten: Sie räumen großmütig nicht mehr abzustreitende amerikanische Folterungen – „in Saddams eigenen Folterkellern“ – ein und bestehen im selben Atemzug auf dem himmelweiten Unterschied zu den Un-Taten, die der notorische Gewalttäter aus Bagdad alle persönlich zu verantworten hat: „Wir Demokraten bringen Fehlverhalten ans Licht, das System funktioniert!“, „Saddam, unser Kriegsgefangener, wird besser behandelt, als er je seine Gefangenen behandelt hat“. Präsident Bush kontert Enthüllungen über amerikanische Scheußlichkeiten mit Abscheu über die Revanche-Enthauptung des Amerikaners Nick Berg. Kaum ist er seinen Vergleich – „Die anderen haben auch Dreck am Stecken!“ – losgeworden, verbittet er sich jeden Vergleich und lässt die erklärte Vergeltung keinesfalls als einen Akt der Rache gelten: Der Mord zeige einen unvergleichlichen Grad an Bestialität, wie er nur islamistischen Unmenschen eigne. Mitten im Folterskandal prangert er mal wieder Verletzungen der Pressefreiheit und der Strafprozessordnung auf Kuba an. Politisch gesehen machen die Sottisen aber Sinn: So pocht ein Präsident der Supermacht darauf, dass Verfehlungen auf seiner Seite Ausrutscher sind, die das System aufdeckt und ausmerzt – anderswo sind sie System. Für die USA beansprucht er um so mehr die Rolle des wahren und berechtigten Aufpassers auf das völker- und menschenrechtliche Betragen anderer Hoheiten, als sein Land, wie man sieht, ja so wunderbar selbstkritisch auf sich selbst aufpassen kann. Damit stößt der Herr im Weißen Haus keineswegs auf höhnisches Gelächter oder empörte Ablehnung – und das nicht etwa, weil seine Auftritte moralisch so überzeugend ausgefallen wären, sondern weil die angesprochenen und herausgeforderten kleinen und großen Mitglieder der Staatenfamilie das Kaliber der Macht in Rechnung stellen, die ihnen mit ihrer Angeberei über ihre Selbstreinigungskräfte das Recht auf Kritik aus der Hand schlägt.

In der Sache kommt das Drängen der USA auf Fortschreibung des Völkerrechts, damit es wieder zu ihrem imperialistischen Bedarf passt, durchaus voran: Seitdem sie ihren Weltkrieg gegen Terror und Schurkenstaaten führen, betrachten auch die friedliebenden europäischen Partner manches, was ihnen früher als Völkerrechtsbruch des arroganten Amerika galt, als eine gute Sache, wenn sie es zum Bestand auch ihrer Rechte zählen können: Die Bewaffnung souveräner Staaten halten sie nicht mehr für eine innere Angelegenheit; wuchtige Arsenale in den falschen Händen sind auch ihnen inzwischen einen Präventivkrieg wert. Und was die Notwendigkeit der Folter gegenüber irregulären Kämpfern betrifft, steht die Supermacht keineswegs so allein, wie die allgemeine Aufregung es gegenwärtig erscheinen lässt: In Deutschland hat sich nicht nur der Bundeswehr-Professor Wolffsohn mit einem freimütigen Bekenntnis hervorgewagt, auch Innenminister Schily findet nichts dabei, denen, die ihrer Bereitschaft zum Märtyrertod ankündigen, mit der gezielten Tötung zu drohen. Das Feuilleton der FAZ (10.5.) vermisst eine unaufgeregte Debatte über Nutzen und Nachteil der Folter im Kampf gegen neuartige Herausforderungen und findet die Deutschen besonders gut qualifiziert, diese Debatte zu führen: Sie steckten gegenwärtig (noch) nicht mitten drin im Foltern, im Entscheidungsdruck und der Emotionalität, die damit einhergehe, seien also zur Sachlichkeit befähigt. Mit dieser Sorte Sachlichkeit kommt nicht nur in Deutschland der Fortschritt vom völkerrechtlichen Verbot der Folter zur Debatte über ihr rechtes Maß voran. Ihre Zweckmäßigkeit ist dabei ebenso anerkannt wie darauf bestanden wird, dass Willkür selbstverständlich ausgeschlossen werden muss.

2. Moral und Erfolg andersherum: Washingtoner Warnungen vor einem „neuen Vietnam“

Mit dem höflichen Eingeständnis der Verletzung überkommener kriegsrechtlicher Konventionen und der entschiedenen Forderung, die Welt solle eine neue Differenzierung im Kriegsgefangenen-Begriff akzeptieren, ist der Folter-Skandal in der amerikanischen Hauptstadt noch keineswegs bewältigt; der Skandal des Skandals fängt damit erst richtig an. Und das nicht eigentlich, weil die Scheußlichkeiten in den Militärgefängnissen erst jetzt bekannt würden, sondern weil sie inzwischen für mehr stehen als bloß für eine Missachtung des Kriegsrechts. Tatsächlich legen Amnesty, das Rote Kreuz und nicht zuletzt der arabische Sender Al Jazeera seit fast einem Jahr entsprechende Dokumente vor, ohne bis kürzlich auf amerikanisches Medieninteresse zu stoßen. Das ändert sich, seitdem die politische Nation die massenhaften Misshandlungen als Indiz dafür zu deuten beginnt, dass Bushs Eroberungs- und Befriedungskalkül nicht aufgeht. Die „schlimmen Bilder“ zeigen – ganz abgesehen von der juristischen Würdigung – dass sich die glorreiche US-Army nicht glatt, sauber und glanzvoll durchsetzt, sondern sich immer mehr in einen schmutzigen Kleinkrieg verstrickt. Sie machen deutlich, dass die Besatzungstruppen das Volk dort nicht im Griff haben, und lassen eine mangelnde Souveränität der Sieger erkennen. Der gilt die konstruktive Sorge der Kritiker – und den Folterungen nur, soweit sie als Zeichen für diesen Mangel genommen werden. Bushs Kritiker bekennen sich ungeniert zu dieser Gleichung von Erfolg und Moral im Krieg: Tatsächlich hat die bis heute einzigartige atomare Massenvernichtung in Hiroshima und Nagasaki dem unumschränkten Sieger des Zweiten Weltkriegs moralisch nichts anhaben können – weder, was seinen Ruf in der Welt als eine vorbildlich freiheitliche und menschenwürdige Nation, noch was im engeren Sinn die „Moral der Truppe“ betraf, den Glauben an den sittlichen Wert ihres mörderischen Auftrags. Das vietnamesische Massaker von My Lai dagegen hat der Moral in beiden Bedeutungen erheblichen Schaden zugefügt. Als Amerika 1945 mit überlegener Gewalttätigkeit die Welt neu ordnete, stiftete der erzwungene Frieden den moralischen Wert alles dessen, was auf dem Weg dahin verbrochen wurde. Wenn dem Quälen und Umbringen einer feindlichen Bevölkerung aber der Ruch der Sinnlosigkeit, nämlich Vergeblichkeit anhaftet, dann erst wird es so richtig moralisch unvertretbar. Was mit der moralischen Aufregung über schmutzige Praktiken gegenüber gefangenen Irakern anhebt, sind in Wahrheit Zweifel daran, ob der Präsident überhaupt noch einen realistischen Weg zum Erfolg oder wenigstens eine ehrenvolle ‚Exit‘-Strategie auf Lager hat – und ob der Glaube der kämpfenden Truppe an den Wert ihrer Mission und damit ihre Kampfkraft so lange aufrecht erhalten werden können.

3. Lektionen über Moral und Erfolg aus Europa

Die lieben Verbündeten vom alten Kontinent bohren, so gut es geht, in den Selbstzweifeln der Supermacht herum, natürlich auf eine diplomatische, also ebenso moralische wie verlogene Weise. Der deutsche Außenminister, von dem man seit dem Kosovokrieg ja weiß, dass er kein Blut sehen kann, besucht den Kollegen Powell, erzählt ihm, dass „die Reaktion bei uns Schock und tiefes Entsetzen“ sei, und „duldet dabei nicht einmal in seinen Augenwinkeln einen Anflug von Schadenfreude“. Die FAZ, die dies berichtet (13.5.), geht davon aus, dass aller Grund zur Freude besteht, Schock und Entsetzen also nicht allzu tief sitzen dürften. Tatsächlich wittert Fischer in der von Powell und anderen eingestandenen Verletzung des Kriegsrechts eine Schwäche der USA und damit eine Chance für deutsche Fortschritte. Die Supermacht gibt zu, sich an Maßstäben vergangen zu haben, denen sie vor der Welt Respekt schuldet. Sie, die beansprucht hatte, das Völkerrecht ganz alleine festzulegen, auszulegen und global zu vollstrecken, die dafür keine Partner brauchen wollte und meinte, deren Einsprüche ignorieren zu können, sie hat sich eine moralische Blöße gegeben: Jetzt hat sie sich zu rechtfertigen – und zwar vor uns! Jetzt sind wir die Hüter des Völkerrechts und sagen ihr, natürlich – wir verkneifen uns schon wieder etwas – ohne oberlehrerhaft zu werden (Schily, FAZ, 11.5.), was das Völkerrecht nun fordert: rückhaltlose Aufklärung der Verantwortlichkeiten und Bestrafung der Schuldigen. Die Vereinigten Staaten müssen alles tun, um nach diesen Vorfällen ihre moralische Führungsrolle in der Welt wiederherzustellen. (FAZ, 13.5.) Josef Fischer persönlich spricht den Amis fürs erste das Recht auf moralische Führung der Welt ab – damit sie seine Hilfe bei der Wiederbeschaffung des edlen Guts zu würdigen wissen: Sie sollen es sich wieder erwerben – bei ihm und seinesgleichen! Und zwar durch überzeugende Beweise ihrer Unterordnung unters Völkerrecht. Auf moralische Führung, d.h. auf freie Gefolgschaft der Staatenwelt dürfen die USA nur hoffen, wenn sie nicht führen, sondern sich als Gleiche unter Gleichen international vereinbarten Normen verpflichten.

Seine Forderung bringt Fischer den amerikanischen Freunden nahe, indem er ein Bekenntnis seiner Parteilichkeit für die Nation ablegt, die mit Folterpraktiken von sich reden macht. Er sorgt sich um ihre moralische Führungsrolle und stellt damit klar, wie zurückgenommen die Kritik ist, die er dem großen Partner nicht ersparen will. Ihm liegt es fern, von der Folter auf die Art der Ordnung zu schließen, die damit errichtet werden soll. Da behandeln die USA gefangene Feinde wie der schlimmste Diktator, und der deutsche Partner gibt zu bedenken, dass der gute Ruf des Eroberers bei den Eroberten, seine Glaubwürdigkeit, Schaden nehmen könnte. Fischer jedenfalls lässt sich seinen Glauben an die moralische Überlegenheit des amerikanischen Menschenrechtsverletzers nicht erschüttern von einem Material, das ihm in anderen Fällen durchaus genügt, um einen Staat zum Schurken und damit für vogelfrei zu erklären. Er stellt sich ausdrücklich hinter das edle Selbstbild, aus dem die USA ihr Recht, die Welt zu überfallen und zu missionieren, ableiten – ihre Vorbildhaftigkeit in Sachen Freiheit und Demokratie –, er stellt sich damit sogar noch hinter dieses schöne Recht, um ihnen mitzuteilen, dass sie nicht nur das – darauf ließe sich ja vielleicht noch verzichten –, sondern die Fähigkeit, es durchzusetzen, verspielen, wenn sie ihr Versprechen auf vorbildlichen Umgang mit den Eroberten nicht einhalten.

„Das Ansehen der Vereinigten Staaten im Irak und in der arabischen Welt ist weiter beschädigt worden. Die Macht der grausigen Bilder … könnte dem Projekt Irak, der bewussten Demokratisierung eines Landes und einer Region mit militärischen Mitteln, mehr Schaden zufügen als die Terroranschläge der vergangenen Monate und die Versorgungsengpässe zusammengenommen.“ (FAZ, 13.5.)

Es ist erstens pure Heuchelei, wenn ein deutscher Außenminister, der sich ja keineswegs noch mehr moralisch einwandfreie Eroberungskriege der USA wünscht, Ratschläge darüber erteilt, wie sie das Recht und die Fähigkeit dazu erhalten oder wiedergewinnen könnten. Es ist zweitens ein entlarvender Zynismus, wenn der völkerrechtliche Oberlehrer die Frage der Moral ganz in die des Erfolgs übersetzt – Foltern bringt’s nicht – und sich dem Eroberer als Effizienzberater empfiehlt. Es ist drittens ein Fall absurder Versponnenheit, wenn derselbe Mann den ganzen fortgesetzten Krieg um die Macht im Irak als eine große Bekehrungsaktion der Iraker und darüber hinaus aller Araber, als ein Ringen der Supermacht um deren Gesinnung und Sympathie auffasst, nur um dieser Bekehrungsaktion ein Scheitern nachsagen zu können. Aber das ist eben Diplomatie: Der Vertreter deutscher Macht, die Amerikas Vorgehen anerkennen und unterstützen soll, redet mit keiner Silbe über den wirklichen Misserfolg der USA bei ihrer wirklichen Durchsetzung, sondern über einen moralischen Misserfolg auf der höheren Ebene der Eroberung der Seelen. Er hebt alles auf die Ebene der Anerkennungswürdigkeit, verweigert die Anerkennung und stellt Bedingungen, unter denen sie vielleicht gewährt werden könnte. Mit seiner Kritik an einer moralischen Blöße der Führungsnation spekuliert er verhohlen oder unverhohlen – auch die andere Seite täuscht sich da nicht – auf die wirkliche Blöße, die sie sich im Irak gibt; seine Anklage des moralischen Misserfolgs der USA gewinnt ihr ganzes Gewicht im zwischenstaatlichen Poker aus dem wirklichen Misserfolg nach den anspruchsvollen Maßstäben, welche die Weltmacht sich gesetzt und welche sich alle anderen zueigen gemacht haben.

Dass es den gibt, eröffnet Fischer und seinen europäischen Kollegen die Chance, diplomatisch ein wenig an der Absolutheit des imperialistischen Rechtsstandpunkts zu kratzen, den Amerika sich ganz selbstverständlich herausnimmt. Denn weder die Folter noch ihr Bekanntwerden, und auch keine noch so flagrante Verletzung des Völkerrechts könnten den Ruf oder gar die Handlungsfreiheit der Supermacht von sich aus beschädigen. Sie hat im Vorfeld ihres Kriegs ja vorgeführt, wie sie mit dem Völkerrecht umgeht, wenn es ihr im Weg steht. Sie definiert es nach ihrem Bedarf neu und verlangt vom Rest der Welt Anerkennung für ihre Definition. Widerspruch ignoriert sie; Staaten, die widersprechen, droht sie irrelevant zu machen. Vor kaum einem Jahr hat sich Europa über die Frage gespalten, ob man es sich überhaupt leisten kann, den USA die Erhebung ihrer Interessen zum international verbindlichen Recht zu verweigern.

Heute sieht die Sache anders aus – nicht wegen unmenschlicher und übertriebener Härte bei der Unterwerfung des eroberten Landes, sondern weil die trotz aller Brutalität nicht so gelingt, wie sich die Weltmacht das einfach schuldig ist. Der Beweis, dass die USA mit ihrer Koalition der Willigen ganz allein weltpolitische Fakten setzen können, gegen die sich nichts und niemand rührt, so dass anderen Mächten nichts übrig bleibt, als die Fakten als neuen Rechtzustand zu akzeptieren; der Beweis, dass ein abweichendes Beharren auf dem Buchstaben internationaler Verträge nur die Abweichler isoliert und ihrer Ohnmacht überführt – dieser Beweis ist nicht gelungen. Mit einem Irak, in dem große Teile der Bevölkerung den Besatzern feindlich gegenüberstehen und nicht abzusehen ist, wie dort ‚geordnete Verhältnisse‘ oder gar eine politische und ökonomische Benutzung im amerikanischen Sinn zustande kommen sollen; mit einer Koalition, aus der sich ein Mitglied nach dem anderen abmeldet und die Lasten der Besatzung den USA alleine überlässt, muss Präsident Bush – so das deutsche Kalkül – seine Geringschätzung der alten Verbündeten aufgeben. Anstatt sie zu isolieren, sind die USA dabei, sich im Kreis der zur Einmischung fähigen Mächte selbst zu isolieren. Bei der geplanten Einsetzung einer irakischen Regierung unter dem Schutz amerikanischer Waffen könnte Bush die Rückendeckung der alten Europäer in der UNO und darüber hinaus praktische Beiträge zur Stabilisierung des Landes ganz gut gebrauchen. Deutschland und Frankreich registrieren dies als Anzeichen amerikanischer Schwäche – und je mehr sie davon zu verspüren meinen, desto höher steigt der Preis, den sie für ihre eventuelle „Kooperation“ verlangen: Von vornherein schließen sie praktische Mithilfe beim Besetzen aus und verhindern, soviel an ihnen liegt, ein Nato-Mandat, unter dem andere Mitgliedsländer gemeinsame militärische Kapazitäten und die gesamtwestliche Billigung nutzen könnten, um Amerika zur Seite zu stehen. Ohne eine „echte und volle Souveränität“ der neuen irakischen Regierung, die auch die freie Wahl außenpolitischer Partner und die Hoheit über die Öl-Lizenzen einschließt, will das alte Europa nicht einmal Geld geben und Polizisten ausbilden. Die „Kooperation“, die es in Aussicht stellt, hat nichts zu tun mit einer Hilfe zur Errichtung der irakischen Souveränität. Die Nachhilfe, die den USA in moralischen Belangen erteilt wird, zielt auf Mitsprache in höherer weltpolitischer Hinsicht. Nicht mehr Respekt vor gefangenen Arabern und irgendeinem Willen der irakischen Bevölkerung, sondern die Respektierung der Rechte ihrer imperialistischen Konkurrenten verlangt man von der Weltmacht.

[1] Rumsfeld wörtlich vor dem Kongress Komittee am 7.5.: „I deeply regret the damage that has been done to the reputation of the honorable men and women of our armed forces who are courageously, skillfully and responsibly defending our freedom across the globe. They are truly wonderful human beings.“

[2] Bis Redaktionsschluss sind die Nachrichtenagenturen nicht zu einem eindeutigen Ergebnis darüber gekommen, wo bei Sanchez neuer Verordnung die Negation genau liegt: Hat er den Schlafentzug verboten, den er vorher für mehr als 72 Stunden erlaubt hatte, oder nur den Schlafentzug, der diese 72 Stunden übersteigt? Aber vielleicht ist ja auch diese Unklarheit eine Auskunft.

[3] Schon vor dem Irakkrieg hat sich die Bush-Regierung heftig um die völkerrechtliche Billigung ihres Waffengangs durch den UN-Sicherheitsrat bemüht. Denn eine solche Billigung erhebt das, was Amerika aus seinem Interesse und mit seiner Macht unternimmt, zum internationalen Recht. Das Recht des Stärkeren wird durch den Segen der Betroffenen zur Sache der Weltgemeinschaft, der dann alle verpflichtet sind. Diesen Segen hat Washington nicht bekommen. Was es heißt, wenn diese Anerkennung strittig ist, verrät der Zustand des ehemaligen Westens seitdem.