Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Highlights im deutschen Trauermonat – der Fall der Mauer und der des Robert Enke:
Zwei nationale Gedenkfeiern für zwei Todesfälle
Dass Staaten eines unnatürlichen Todes sterben, ist an sich die Regel, Anlass zur Trauer unter den Hinterbliebenen ist eher selten. Allemal haben sie ihren Untergang der zielgerichteten äußeren Gewalteinwirkung näherer und entfernter Nachbarn zu verdanken, und da ist bei denen nur immer die Freude groß, wenn der Konkurrent, an dem sie sich stören, endlich zugrunde geht. Nur ganz selten kommt es vor, dass Staaten in ihrem ewigen Kampf um Selbstbehauptung gleichsam die Lebenslust verlieren, selbst Hand an sich legen und derart, mit dem freiwilligen Ausstieg aus der Konkurrenz der Mächte, das Ringen zur Entscheidung bringen. Da ist dann bei den Hinterbliebenen, die sich schon immer an ihnen störten, die Freude besonders groß. Zumal dann, wenn es unter ihnen einen gibt, der sich, wie die alte BRD gegenüber der alten DDR, immer schon als rechtmäßiger Eigentümer der Besitzstände seines unmittelbaren Nachbarn verstand und deswegen als geborener Erbe des verblichenen Staatswesens. So ein Rechtsnachfolger, der dementsprechend schon immer an vorderster Front darauf hinwirkte, den Erbfall zur Restaurierung der historischen Gerechtigkeit aus eigener Kraft herbeizuführen, kann, wen wundert’s, das Glück der realsozialistischen Selbstentleibung kaum fassen. Darüber wollen sich die Begünstigten noch 20 Jahre nach dem unerhörten Ereignis gar nicht beruhigen.
Aus der Zeitschrift
Teilen
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Highlights im deutschen Trauermonat –
der Fall der Mauer und der des Robert Enke:
Zwei nationale Gedenkfeiern für zwei Todesfälle
Ein politischer Freitod, der Freude
macht: Die SED-Führung, ja, die DDR gibt
auf!
(Historiker Guido W., ZDF)
Dass Staaten eines unnatürlichen Todes sterben, ist an sich die Regel, Anlass zur Trauer unter den Hinterbliebenen ist eher selten. Allemal haben sie ihren Untergang der zielgerichteten äußeren Gewalteinwirkung näherer und entfernter Nachbarn zu verdanken, und da ist bei denen nur immer die Freude groß, wenn der Konkurrent, an dem sie sich stören, endlich zugrunde geht. Nur ganz selten kommt es vor, dass Staaten in ihrem ewigen Kampf um Selbstbehauptung gleichsam die Lebenslust verlieren, selbst Hand an sich legen und derart, mit dem freiwilligen Ausstieg aus der Konkurrenz der Mächte, das Ringen zur Entscheidung bringen. Da ist dann bei den Hinterbliebenen, die sich schon immer an ihnen störten, die Freude besonders groß. Zumal dann, wenn es unter ihnen einen gibt, der sich, wie die alte BRD gegenüber der alten DDR, immer schon als rechtmäßiger Eigentümer der Besitzstände seines unmittelbaren Nachbarn verstand und deswegen als geborener Erbe des verblichenen Staatswesens. So ein Rechtsnachfolger, der dementsprechend schon immer an vorderster Front darauf hinwirkte, den Erbfall zur Restaurierung der historischen Gerechtigkeit aus eigener Kraft herbeizuführen, kann, wen wundert’s, das Glück der realsozialistischen Selbstentleibung kaum fassen. Darüber wollen sich die Begünstigten noch 20 Jahre nach dem unerhörten Ereignis gar nicht beruhigen.
*
Selbstverständlich müssen sie zum Jubiläum ihres
Glückstags ihr Volk in die Feier ihrer Freude
miteinbeziehen: Bei wem sonst, wenn nicht bei
Nationalisten ihres Schlages, sollten sie auch auf
ehrliche Gegenliebe treffen beim Gedenken der Umstände,
denen Deutschland seine neue Pracht zu verdanken hat?!
Aber: Die neue deutsche Freiheit – bloß ein Ergebnis der
politischen Selbstaufgabe des östlichen
Unrechtsregimes
? Das können die Träger der jetzt
gesamtdeutschen Verantwortung ihren Bürgern ja unmöglich
als festlichen Anlass servieren. Also kommt das Volk in
den Genuss einer näheren Erläuterung der Umstände seiner
Freiheit – und die nationale Festveranstaltung wird zur
Orgie der Volksverblödung. Ausgerechnet sie, die
zusammen mit ihren regierenden Vorgängern 40 Jahre
hindurch nichts anderes betrieben haben als den
Untergang der DDR
aktiv zu befördern, legen jetzt
Wert darauf, dass der keinesfalls das Resultat ihres
jahrzehntelangen, hasserfüllten Bemühens war: Die Einheit
wollen sie allein einem Geschenk der Geschichte
verdanken, das Deutschland in den Schoß gefallen sein
soll. Bis zum Erbrechen kauen sie die Rede von der
friedlichen Revolution
wieder, die seinerzeit
einen ganzen Ostblock zu Fall gebracht
hätte, und
dann entrichten sie mit Pomp & Circumstances ihren Dank
an die Väter der Einheit
. Was die Abteilung
‚Revolution‘ betrifft, stehen natürlich die Helden von
Leipzig
mit ihrem unglaublichen Mut
an erster
Stelle – Aufständische, die sich lieber von einer
anderen Obrigkeit regieren lassen wollten,
einer, die mehr Erfolg und mehr Macht vorzuweisen hatte,
und vor allen Dingen ein Geld, das den Zugang zur Großen
Freiheit der Warenwelt eröffnete: Zu der sind Millionen
von Helden übergelaufen wie ein Mann. Dann wird anderen
großen Revolutionären gedankt. Dem vatikanischen
Umstürzler Karol Wojtyla zum Beispiel, der seine
päpstliche Autorität so trefflich zur Zersetzung des
Regimes in Polen verwandte; seinem Landsmann Walesa, der
die Überführung der polnischen Arbeiter vom
kommunistischen Joch unter die Obhut der Gottesmutter als
Regierungschef vollendete; seinem ungarischen Kollegen,
der einen Zaun durchschnitt; dem wackeren Sachsen im
gelben Pullover auf dem Balkon der Prager Botschaft; dem
Trottel aus dem SED-Politbüro, der mit seinem Versprecher
die Todesmauer
erst so richtig einstürzen ließ –
das waren die echten Freiheitskämpfer,
die mit den ‚Wir-sind-das-Volk‘-Umzügen überhaupt erst
etwas Rechtes anzustellen wussten. Was die Abteilung
‚Frieden‘ betrifft, so gebührt da der Dank aller
Deutschen an erster Stelle den Führern der größten
Kriegsallianz, die die Welt je gesehen hat, und gleich
danach dem Führer ihres östlichen Gegenspielers, weil der
ja am Ende, voll Bewunderung für die Erfolge seiner
Feinde, die Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens
eingesehen hat, sich gegen die Waffen der Freiheit mit
einem alternativen System zu behaupten. Usw. Damit
zusammen feiert, was im neuen Deutschland zusammen
gehört, wird zum Fest der Freiheit
gelogen, dass
die Styroporklötze nur so umfallen. Das gehört dazu, und
der Mauerfall klappt auch beim zweiten Mal, weil genügend
Helden mit Hand anlegen: Tausende von Kindsköpfen vor
Ort, zehntausende live dabei und vermutlich Millionen vor
den Bildschirmen.
*
Sicher ist das alles schon für sich zum Kotzen. Aber es ist allemal gut und nützlich zu wissen, was hinter der unmittelbaren Empfindung liegt, die einen da beschleicht. Und wenn einem die Chefs der Freiheit schon partout nicht verraten wollen, wie sie sich das erobert haben, worüber sie sich heute so freuen, kann man ja andere Quellen zu Rate ziehen. Unser Tipp:
Peter Decker/Karl Held: Abweichende Meinungen zur
deutschen Frage
:
DDR kaputt, Deutschland ganz! Eine Abrechnung mit dem
Realen Sozialismus
und dem Imperialismus deutscher
Nation, Resultate Verlag 1989;
Peter Decker/Karl Held: Abweichende Meinungen zur
deutschen Einheit:
DDR kaputt, Deutschland ganz (2): Der Anschluss: Eine
Abrechnung mit der neuen Nation und ihrem Nationalismus.
Resultate Verlag 1990
Ein privater Freitod, der betroffen macht:
Depressionen trieben Robert Enke in den Tod
(SZ)
Der Freitod von Nationaltorhütern ist fast noch seltener
als der von Staaten. So einer hat in seinem Metier ohne
Zweifel geschafft, worauf es in dieser Welt allen
ankommt: Er steht an der Spitze des beruflichen
Erfolges. Das sichert ihm Anerkennung
weit über die Grenzen des Strafraumes hinaus, den er zum
Mittelpunkt seines Lebens erklärt hat. Deutschlands
Nr. 1
ist in dieser seltsamen Welt des Sports die
Galionsfigur des nationalen Kollektivs, das sich
da in friedlichem Wettstreit an anderen misst und um
Ehrenpunkte kämpft. Der steht deswegen mit allem, was er
tut, mit Glanztaten zwischen den Pfosten, aber auch mit
Rückschlägen
dort wie im Privatleben, immer im
Zentrum des öffentlichen Interesses. Das
Kollektiv, das er an derart entscheidender Stelle
vertritt, hat unbedingt ein Recht darauf zu
wissen, ob da wirklich der Beste im Aufgebot steht, und
fühlt ihm entsprechend gnadenlos auf den Zahn. Wenn so
ein Verantwortungsträger dann zur Überraschung aller und
auch noch just vor dem Höhepunkt seiner Karriere
überraschend abtritt, dann mag sich mit dem Tod des
Helden zwar der kritische Dauertest auf sein
Leistungsvermögen erübrigen – in Ruhe lässt man ihn
deswegen aber noch lange nicht: Sein Suizid ließ die
Deutschen erstarren. Und alle bewegte nur eine Frage:
Warum?
(Der Spiegel, Nr.
47)
*
Also steigt der öffentliche Sachverstand in die
Ursachenforschung ein, und die erste Forschungshypothese
ist gar nicht mal so schlecht: Zerstört ein
wunderbares Spiel, das zugleich ein so gigantisches
Geschäft und mit so viel Bedeutung aufgeladen ist, nicht
seine Protagonisten? Schluckt der Spitzensport seine
Talente und spuckt jene, die nicht funktionieren, als
Psychowracks und Selbstmörder wieder aus?
(Ebd.) Irgendwas könnte da
schon dran sein – man muss ja nur einen Blick auf die im
selben Bericht und in allen anderen Zeitungen ausgiebig
kolportierten Spielregeln werfen, die in diesem
wunderbaren Spiel auch noch gelten und die eigentliche
Würze dieses so gigantischen wie bedeutungsvollen
Geschäfts sind: Schon weiß man, wie noch ganz lange vor
jedem auffällig gewordenen Psychowrack oder Selbstmörder
der Normalfall auf und neben dem Spielplatz
funktioniert. Unter den 11 Freunden, die es sein
müssen, gebührt der Erfolg dem Tüchtigen, der
seinen Konkurrenten im Kampf um den Stammplatz
erledigt. Mit Dribblings, Ellbogen und Grätschen sowieso,
aber natürlich auch mit allen anderen Waffen, die einem
selbstbewussten modernen Menschen zur Verfügung stehen.
Da gehen subtiler Psychoterror und Mobbing, bei
Ausländern auch mal deutliche Winke auf genetisch
bedingte Minderwertigkeit, Hand in Hand mit der
überzeugenden Selbstdarstellung des einfach unschlagbaren
Ballhelden – kraftstrotzend, nervenstark,
aggressiv
. (SZ, 12.11.) Ein Torhüter, erzählen die
Fachleute, ist von Berufs wegen der Inbegriff
sportlicher Stärke
, schon gleich dann, wenn er
Deutschland vertritt: Er muss fehlerlos sein.
Nervenstark. Selbstbewusst. Es gibt keinen härteren Job
im Fussball.
(Der Spiegel, Nr.
47) Also inszeniert er sich wahlweise als Titan,
der riesige Eier hat, oder als Exzentriker, der beim
Hechten nach dem Ball die Tiefen des Seins ausmisst, und
liefert sich mit seinem Konkurrenten die beliebten
Psychoduelle
, die mit Sprachverweigerung anfangen
und mit übler Nachrede noch lange nicht aufhören. So sind
die gewöhnlichen Sitten beim Ballspiel, wenn das Kicken
zum Beruf und im Erfolgsfall auch reichlich mit Geld und
öffentlichem Ansehen entgolten wird.
*
Aber offenbar überhaupt nicht nur dort, wie der ‚Spiegel‘
in seiner zweiten Hypothese vermutet: Verweisen die
Tragödien der Sportler womöglich auf eine andere
Dimension: auf eine Gesellschaft, die Leistung zum
Fetisch erhebt und damit ihre Elite krank macht?
(Ebd.) Wiederum ist der
Verweis so blöd nicht, auch wenn sich bei näherer
Betrachtung besagter Dimension schon herausstellt, dass
Leistung in dieser feinen Gesellschaft keineswegs ein
Fetisch ist und die Regeln des Leistungswettbewerbs auch
überhaupt nicht nur in ihren besseren Kreisen gelten. Ein
Fachmann der SZ drückt das sehr vornehm, aber doch
hinlänglich deutlich aus: Es ist ein Kennzeichen
unserer Arbeitswelt, dass über Anreize zur Kompetition
maximale Leistung aus den Leuten herausgeholt werden
soll.
(P. Henningsen, SZ,
12.11.) Was der Mann so überaus höflich als
Kennzeichen einer anonymen Arbeitswelt anspricht, ist die
jedermann vertraute Banalität, dass man in seinem
Arbeitsleben einem permanenten Leistungsvergleich
unterzogen wird. Die Gnade, mit dem Angebot der
eigenen Leistung bei einem Auftraggeber auf Interesse zu
stoßen, ist für den der Auftakt dazu, Nutzen wie Kosten
der eingekauften Ware mit anderen Anbietern beständig
daraufhin zu vergleichen, ob ersterer nicht besser und
letztere nicht billiger zu haben wären. Das halst dem
stolzen Besitzer eines Arbeitsplatzes ganz von allein den
lebenslangen Privatkampf um selbigen auf, und den führt
er gleich an zwei Fronten: Einmal dort, wo es gilt den
‚Anreizen‘ gerecht zu werden, die ihm zur Entfaltung
seiner maximalen Leistungsfähigkeit dankenswerterweise
zur Verfügung gestellt werden – und dann auch noch dort,
wo er gegen seine Konkurrenten den Beweis
anstrengt, dem Leistungsvergleich viel besser
gewachsen zu sein, der an ihm wie an ihnen angestrengt
wird. Das führt, kann man den Zeitungen entnehmen, zu
einer erstaunlichen Nivellierung der Unterschiede in der
vertikal doch so differenzierten modernen
Leistungsgesellschaft. Alle in der erlesenen Welt des
Profisports und der übrigen Elite üblichen Gemeinheiten
bei der Berechnung des eigenen Konkurrenzerfolgs, alle
dort praktizierten Varianten und Kombinationen von purer
Niedertracht und hoffnungsloser Angeberei: All das ist –
den bescheideneren Mitteln der Beteiligten angepasst –
auch Alltag in den niederen Welten des Berufslebens, in
den Abteilungen von Betrieben und Versicherungen,
Sekretariaten von Kanzleien und Versandstellen von
Verlagen. Und noch eines wissen die Sachverständigen, die
sich bei den Ursachen des Selbstmords von Deutschlands
Nr. 1 kundig machen, zu berichten: Auch vor den
Folgen dieses klassenübergreifenden
Leistungsvergleichs, dem die bürgerliche Menschheit erst
ausgesetzt wird und den sie sich dann auf ihre Weise auch
noch privat zum Demonstrationsfeld ihrer persönlichen
Vortrefflichkeit ausbaut, sind die Insassen der
Klassengesellschaft ziemlich gleich. Unter den
Verrücktheiten, die sie sich wechselweise selbst und
anderen antun, leidet das seelische und körperliche
Befinden in einem Maß, dass die Rede von einer
Volkskrankheit Depression
die Runde macht. Und der
Verdacht, dem eigenen Ideal einer fehlerlosen Inkarnation
von Erfolgstüchtigkeit eventuell doch nicht gewachsen zu
sein, reift ja auch überhaupt nicht nur bei Torhütern zu
dem Entschluss, sich besser mit Selbstmord dem Versagen
vor diesem Ideal zu entziehen als sich an ihm zu
blamieren. Das ist, wie jedes Sterberegister mitteilt, in
der Welt der Konkurrenz gar nichts Außergewöhnliches.
*
Doch kaum haben sich die öffentlichen Suizidforscher mit
dem Stichwort ‚Volkskrankheit‘ die Rubrik erobert, unter
der sie die psychopathologischen Konsequenzen der
modernen Konkurrenzgesellschaft studieren können, wollen
sie von all dem, was sie einem selbst über die Quelle der
verbreiteten gesellschaftlichen Verrücktheit erzählt
haben, überhaupt nichts mehr wissen. Sie reden vom
Erfolgsdruck
, der überall herrscht; sie sprechen
die widerlichen, aber eben auch überaus populären
Techniken an, mit denen die Mitglieder dieser Welt ihr
Lebensprogramm exekutieren, diesem ‚Druck‘ gerecht zu
werden und ihren Erfolg gegen andere zu
erkämpfen; sie nehmen zur Kenntnis, zu welchen geistigen
Absonderlichkeiten und körperlichen Defekten es kommt,
wenn einer entweder den Erfolg in der Konkurrenz so
konsequent zu seiner Sache macht, dass er sich
zum Erfolgscharakter idealisiert, entsprechend
auftritt und seine Mitmenschen drangsaliert; oder zum
Opfer solcher Machenschaften wird und in ihm darüber die
Einsicht wächst, derselben Idealisierung, die er über
sich pflegt, nicht gewachsen zu sein – und dann vergessen
sie kurzerhand alle systemrelevanten Leistungen, mit
denen sich hierzulande Menschen in schlechte
Gemütsverfassungen und schlimmere Verzweiflung bringen,
und bescheinigen ihnen, sie wären krank
! Als ob
sie den Verdacht entkräften wollten, mit ihren
Bemerkungen über die – objektiv wie subjektiv –
maßgeblichen Regeln des Konkurrenzerfolgs dem Laden, in
dem sie gelten, kein besonders gutes Zeugnis
auszustellen, deuten sie sich manifest auffällig
gewordenen Konsequenzen des praktizierten Irrsinns als
Defekt zurecht, den der eine hat, der andere
nicht:
„Im ganzen Land begreifen Menschen auf einmal, welche Verwüstungen die Krankheit Depression in der Seele eines Menschen anrichten kann. Sie sind erschrocken darüber, welche Wucht sie hat. Sie fragen sich, welch mächtiger Schatten sich über einen Menschen legen muss, wenn der Schub kommt. Und wie es sein kann, dass nicht einmal einer wie Enke sich dagegen wehren kann.“ (Der Spiegel, ebd.)
Die Intelligenzbolzen aus Hamburg haben jedenfalls
begriffen, welchen Reim sich die Menschen im ganzen Land
auf das Abtreten ihres Helden im Tor machen sollen.
Leistungsanforderungen, die an einen ergehen,
bedingungslos gerecht werden zu wollen? Ja, das gehört
sich so, das ist durch und durch natürlich. Sich selbst
zum Idioten der eigenen Erfolgstüchtigkeit zu
stilisieren? Ja, auch das ist im Grunde genommen ganz
normal, wenn auch in mancher Ausprägung nicht immer
unproblematisch. Daran zu zerbrechen? Nein, das sollte
dann doch nicht sein, zumindest nicht so heftig und schon
gar nicht so, dass das ramponierte Selbstbild gleich zur
Angst vor dem Leben
ausartet und der Mensch sich
am Ende vor den Zug legt. Doch auch so etwas muss man,
weil es zwar bedauerlich, im Grunde aber schon auch
irgendwie verständlich ist, auch verstehen können. Aber
keinesfalls als unerwünschte Nebenwirkung der im Lande
herrschenden druckvollen Konkurrenzsitten und Gebräuche,
die man kaum im Kopf aushält – sondern eben als
individuelle Krankheit. Nicht jeder ist dem
Druck gewachsen
und, was entscheidend noch dazu
kommt, nicht jeder traut sich das einzugestehen, vor sich
selbst nicht und schon gleich nicht vor anderen, weil er
dann ja der Versager
ist, der er ums Verrecken
nicht sein will: Wer die Weichei-Krankheit
hat,
wird halt auch als ein krankes Weichei genommen. Fragt
sich nur, warum nicht jeder der harte Hund auch wirklich
ist, als der er herumläuft, aber da weiß der Fachmann für
die Therapie seelischer Kollateralschäden der
bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft die Antwort:
Depression ist eine organische Krankheit und nichts,
wofür man sich schämen muss. Sie unterscheidet sich nicht
so wesentlich vom Meniskusabriss, wie man in der ruppigen
Fußballwelt vielleicht denkt.
(Holsboer, „Depressionsforscher von Weltrang“,
ebd.). Der Mann hat die erstaunliche Entdeckung
gemacht, dass trübsinnige Verstimmungen der heftigeren
Art mit so manchen Stoffwechselvorgängen im Hirn
einhergehen – und sich dazu entschlossen, Grund und Folge
einfach umzukehren: Ob überhaupt und wie lange es einer
durchhält, Eier zu zeigen
(O.
Kahn), ist für ihn neben manchen
Umwelteinflüssen
auch eine Frage der
genetischen Disposition
, so oder so also nichts, was
einer allein mit seinen verkehrten Gedanken anrichten
könnte. Insofern muss der Mensch sich nicht nur überhaupt
nicht schämen
, wenn er bei seiner irren Suche nach
den in ihm selbst liegenden
Ausstattungsmerkmalen, die Erfolg
verbürgen, nicht recht fündig wird und am Ende gar
komplett Fehlanzeige vermeldet: Beim Fehler seiner
Fehlersuche assistiert ihm bei Bedarf auch noch
haufenweise professionelle Hilfe
. Wenn ihm das
Chromosom für die dauerhafte Ausprägung der
Charaktermaske des unschlagbaren Siegers fehlt, muss er
sich nur melden – und sein Mut wird belohnt: vom
Fachmann, der mit Tabletten und abgrundtief viel
Verständnis darauf aufpasst, dass er in der Psycho-Logik
seines Fehlers keinesfalls bis zum Bahndamm
weitermarschiert...
*
So ist der Torwart mit seinem heimlichen Kampf
gegen eine unheimliche Krankheit
auch über seinen
Tod hinaus ein großes Vorbild für die Deutschen. An ihm
und dem tragischen
Ausgangs seines Kampfes sollen
sie lernen, wie sehr es nicht nur in der glamourösen Welt
des Sports, sondern überhaupt im Leben darauf ankommt,
den Anforderungen, die da nun einmal gelten, gerecht zu
werden. Da hat jeder an seinem Platz aus sich
herauszuholen, was in ihm drinsteckt, und wenn sich da
entweder zeigt, dass das wider Erwarten doch nicht langt,
oder einen schon vor jedem praktischen Erweis dieses
Umstands das bohrende Gefühl beschleicht, dem Druck
nicht standhalten
zu können, den das Ideal von der
eigenen Vortrefflichkeit bei seinen unvermeidlichen
Reibungen mit den Niederlagen des Alltags entfacht – dann
ist das zwar bitter, macht aber gar nichts. Dann
muss man nur Einsicht haben in die vergleichsweise
defizitären Mittel, mit denen einen die Natur fürs
Bemeistern der Lebensanforderungen ausgestattet hat, die
es in unserer modernen Welt nun einmal gibt. Dass der
eine in Stresshormonen
schwimmt, während beim
anderen die Hirn-Blut-Schranke dem Konkurrenzerfolg im
Weg steht: Dafür kann man ja nun wirklich
nichts. Also muss man auch aus dieser Einsicht den einzig
folgerichtigen Schluss ziehen und sich zu seinem
Defekt bekennen und mit ihm leben
wollen. Gewissensqualen über die allfällig bemerkten
Differenzen zwischen Selbstbild und Wirklichkeit gehen in
Ordnung – aber sich aus denen derart ein Gewissen zu
machen, dass man sie einfach nicht mehr weiter
kultivieren mag: Das ist nicht gut und führt zu
Tragödien
wie der von unserer Nr. 1. Zur
Vertiefung der Lehre findet dann die größte
Trauerveranstaltung seit Adenauer statt. Ein Volk hört
ergriffen zu, was der Mann vom DFB über die manchmal
nicht so lichten Seiten des Leistungsprinzips
erzählt, wird aber dann natürlich in die Aussicht auf
bessere Zeiten entlassen. Läbbe gät waita
, wusste
ein Erfolgstrainer nach Niederlagen immer zu sagen, ab
sofort sind wieder Siege dran und das Trikot der Nr. 1
parkt auf der Ersatzbank.
*
Auch das alles, die Sache selbst wie die Touren ihrer öffentlichen Affirmation betreffend, ist einfach zum Kotzen. Und aus dem schon oben genannten Grund kann auch in dem Fall ein Lesetipp nur nützlich sein:
Resultate. Die Psychologie des bürgerlichen
Individuums
GegenStandpunkt Verlag, ISBN 978-3-929211-04-1