Zur Reform der Bürgergeldreform

Kaum eine Zehnteldekade nach Umsetzung ihrer „Jahrhundertreform“ verspürt die sozialdemokratische Regierungspartei dringenden Korrekturbedarf am Bürgergeld. Da muss zunächst die Frage erlaubt sein, welche ökonomischen Charaktere in diesem sozialpolitischen Nest eigentlich sitzen, das erst neulich von der bürgerfreundlichen Partei neu zurechtgemacht worden ist und das jetzt abermals reformiert gehört.

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Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus der Zeitschrift GegenStandpunkt 3-24, die am 20.09.2024 erscheint.
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Zur Reform der Bürgergeldreform

Kaum eine Zehnteldekade nach Umsetzung ihrer „Jahrhundertreform“ verspürt die sozialdemokratische Regierungspartei dringenden Korrekturbedarf am Bürgergeld.

Da muss zunächst die Frage erlaubt sein, welche ökonomischen Charaktere in diesem sozialpolitischen Nest eigentlich sitzen, das erst neulich von der bürgerfreundlichen Partei neu zurechtgemacht worden ist und das jetzt abermals reformiert gehört. Nach offizieller Auskunft finden sich unter den Beziehern Langzeitarbeitslose, Aufstocker und eine erkleckliche Anzahl an ukrainischen Kriegsflüchtlingen.

Bei ersteren handelt es sich um eigentümliche Figuren, nämlich um Opfer des kapitalistischen Fortschritts. Wovon sie sozial betroffen gemacht sind, ist immerhin der Umstand, dass für die Erwirtschaftung des gesellschaftlichen Reichtums kontinuierlich weniger Arbeitsaufwand erforderlich ist. Und das ist gerade für diejenigen, auf deren Potenz zur Arbeit es darum weniger ankommt, alles andere als eine gute Nachricht. Denn sie sind und bleiben in Fragen ihres Lebensunterhalts in der Lohnabhängigkeit verhaftet, auch wenn sie nicht länger einem Bedarf der Unternehmerschaft nach lohnender Arbeit zuzuführen sind. Dieser Widerspruch hat Methode: Der von den Unternehmen kontinuierlich betriebene Fortschritt steht schließlich im Dienste ihres Profits, bemisst sich also gerade daran, dass sie sich der Kosten von möglichst viel bezahlter Arbeit – also möglichst viel proletarischem Lebensunterhalt – entledigen, und das bei gleichzeitiger Steigerung der Erträge aus der übrig gebliebenen, einstweilen weiterhin lohnenden Arbeit. Jede Verbesserung der Produktivität in ihren Fabriken und Büros hat sich daran zu bewähren, ob sie mehr Lohnkosten einzusparen verspricht, als der Fortschritt selbst dem Unternehmen an Investitionskosten verursacht. So wird im Kapitalismus systematisch Arbeitsaufwand eingespart, um ihn zugleich an lohnender Stelle in die Höhe zu treiben. Dass dabei in einer atmenden Konjunktur flexibel auszugestaltender Beschäftigungsverhältnisse, die das zeitweilige Einstellen und Rauswerfen von Arbeitskräften zur Normalität von deren proletarischen Lebensentwürfen werden lassen, mit Notwendigkeit eine dauerhafte Restgröße einer arbeitslosen Mannschaft herauskommt, die zwar alternativlos auf Erwerbsarbeit als ihre Einkommensquelle angewiesen bleibt, aber zugleich für die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums erfolgreich und nachhaltig überflüssig gemacht worden ist – das mag für diese Leute selbst ein ziemlicher Widerspruch sein, und eine absurde Eigenart der kapitalistischen Produktionsweise ist es obendrein. Damit ist es aber ganz sicher nicht das Problem der Unternehmerschaft, unter deren Regie dieser als exklusives privates Eigentum geschaffene Reichtum erarbeitet wird und deren Nutzen aus der Benutzung fremder Arbeit gerade so seinen erfolgreichen Gang geht.

Bei zweiteren handelt es sich ebenfalls um Opfer des kapitalistischen Fortschritts, auch wenn sich für sie im Unterschied zu den Arbeitslosen der Widerspruch ihrer Erwerbsquelle ein wenig anders darstellt: Sie müssen nicht nur, sie dürfen glatt weiterhin für den Profit ihrer Arbeitgeber arbeiten – und tun das subjektiv auch nur, weil ihre Arbeit in fremden Eigentumsdiensten für sie selbst ein Lebensmittel hergeben soll. Zu Beziehern von Bürgergeld werden sie, weil genau das für sie nicht aufgeht: Sie können mit ihrer Arbeit kein ausreichendes Auskommen für sich bestreiten. Auch diese Eigentümlichkeit ist ein notwendiges Phänomen der kapitalistischen Rechnung mit der Lohnarbeit, die sich für die Arbeitgeberseite umso mehr lohnt, je weniger sie sie kostet und je mehr sie zugleich in der bezahlten Arbeitszeit leistet. Ganz viel Arbeit unter den Rechtskategorien von ‚Minijobs‘ und ‚Teilzeit‘, natürlich zu möglichst niedrigen Löhnen, gehört daher ganz selbstverständlich zum kleinen Einmaleins zeitgemäßer Erfolgsrezepte der deutschen Unternehmerschaft. Dass für die Arbeitnehmerseite dabei der Widerspruch herauskommt, alternativlos auf Erwerbsarbeit als Einkommensquelle angewiesen zu sein und zu bleiben, darin sogar erfolgreich ausgenutzt zu werden, und davon dennoch nicht leben zu können, das ist selbstverständlich ebenfalls nicht das Problem derer, die sich die Lohnarbeitsverhältnisse, arbeitsmarktpolitisch bekräftigt, gerade auf die Weise passend für sich hergerichtet haben.

Und letztere? Die haben mit alldem zwar auf den ersten Blick nichts zu tun: Sie sind ja ohnehin nicht hier, weil das deutsche Kapital nach ihnen verlangt oder sie abgestoßen hätte; und Bürgergeld erhält diese auserwählte Subspezies der Sozialfälle mit ausländischer Staatsbürgerschaft allein aufgrund des politischen Beschlusses, die Opfer unseres russischen Feindes nicht mit Sachleistungen abzuspeisen, wie man es mit sonstigen Schutzsuchenden am liebsten zu machen pflegt. Nützlich für das deutsche Kapital sind sie in gewisser Weise dennoch, und das sogar in zweifacher Hinsicht. Indem sie, im Unterschied zu anderen Flüchtlingen explizit arbeitsberechtigt, dem Heer der Arbeitslosen zugeschlagen werden, bieten sie der hiesigen Unternehmerschaft eine bequeme zusätzliche Auswahl an bei Bedarf frei ausnutzbaren Billigarbeitskräften. Und allein durch ihre schiere Anwesenheit, selbst wenn sie nicht benutzt werden, vergrößert sich die unternehmerische Macht zum Herabdrücken des Lohnniveaus.

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Die politische Hoheit befasst sich in Gestalt ihres Sozialstaates mit diesen Produkten des kapitalistischen Fortschritts – unter dem Gesichtspunkt sozialer Problemlagen, in denen sich Betroffene befinden und die sie ihrem Staat damit bereiten. Es liegt im Pragmatismus dieses hoheitlichen Blicks auf die Sache, dass darin die notwendig falsche Gewissheit eingeschlossen ist, die Arbeitslosen und Sozialfälle hätten – gerade dann, wenn man ihnen in ihrer Lage helfen will – an sich etwas zu korrigieren, das ihre nachhaltige Beschäftigung offenbar so nachhaltig und hartnäckig verhindert.

Diese sozialpolitische Grundweisheit kennt im Wesentlichen zwei Gesichtspunkte, die seit jeher in je unterschiedlicher Gewichtung die hoheitliche Aufgabe der Erwerbslosenbetreuung bestimmen. Und kaum sind die Sozialdemokraten mit ihrem Hartz-IV-Trauma darauf gekommen bzw. haben es in der Ampelregierung schließlich umsetzen können, dass in puncto ‚Fördern‘ und ‚Fordern‘ ein Paradigmenwechsel ansteht, der ein bisschen vergleichsweise Freundlichkeit und Zugewandtheit der Sozialämter für ihre Sozialfälle vorsieht,[1] sind sie sich jetzt die Korrektur dieser Korrektur schuldig: Kaum abgeschafft bzw. abgemildert, sollen die Sanktionen für ‚kooperationsunwillige Arbeitslose‘ wieder hochgefahren und die Maßstäbe für als zumutbar geltende Arbeit verschärft werden. So wird von der SPD die eine Konnotation des notwendig falschen Standpunkts der Sozialpolitik gegenüber dem Problem der Arbeitslosigkeit und seiner Figuren, wonach man ihnen durch freundlichen Respekt den Weg in die Selbstständigkeit durch Arbeit ebnet – als hätten sie die Bedingungen ihrer nützlichen Verwendung durch die Unternehmerschaft überhaupt irgendwie selbst mit ihren Fähigkeiten und ihrem Mindset in der Hand –, im Namen der anderen kritisiert: Die falsche, viel zu lasche Arbeitslosenbetreuung verhätschelt die Leute und gilt damit ihrerseits als ein von der Politik selbst verschuldetes Beschäftigungshindernis; stattdessen braucht es das Gegenteil: mehr Zwang und Nötigung als die einzig wahren Mittel gegen das Nichtsnutzertum.

Auch diese Eingebung ist wahrlich nichts Neues. Dass die Sozialdemokraten damit dem schon lang und breit von den Christdemokraten und Liberalen ventilierten Komplementärstandpunkt gegen ihre Reformvorhaben folgen, meinen sie jedoch nicht; vielmehr bestehen sie auch bei der Revision ihrer Reform darauf, exakt das, was sie sich jetzt vornehmen, dem Bürger und seinem gesunden Anstandsempfinden abgelauscht zu haben, dem sie entsprechen wollen. Nach Auskunft seiner Erfinder erleben nämlich die vielen kleinen Leute das Bürgergeld überhaupt nicht als die Respektsbekundung, als die es gemeint war. Nicht etwa, weil es ihnen zu wenig bieten würde: Es sei im Gegenteil gerade darin eine einzige Respektlosigkeit gegenüber ihnen, ihrer harten Arbeit und ihrem Bemühen, davon zu leben, wenn andere es einfach so kriegen. Also besinnt die SPD sich darauf, Partei der Arbeit statt Partei der Arbeitslosigkeit sein zu wollen. Zum Glück handelt es sich bei ihrem Bürgergeld um ein „lernendes System“, das sich von den politischen Sachwaltern nachsteuern lässt...

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Zu allem Überfluss läuft diese gehässige sozialpolitische Gerechtigkeitsdebatte zwischen den Entscheidern – mit ihrem fleißigen und anständigen Volk in der Rolle als Echokammer und Berufungsinstanz – im Lichte von Haushaltsstreitereien ab, die in einer reifen Demokratie wie der unseren ebenfalls immerzu stattfinden: Das Argument, dass die Sozialausgaben viel zu teuer sind, passt nicht nur in jede Konjunkturlage, sondern auch in jede Phase der Legislatur und in jeden Abschnitt des Fiskaljahres.

Der linke SPD-Mann Stegner weist in der Debatte gegenüber den freiheitlich-christlichen Stimmen, die zum Sparen mahnen und ihrerseits das Bürgergeld schleifen wollen, darauf hin, dass die gegenüber Hartz IV weggefallenen Sanktionen und Leistungskürzungen rechnerisch einen verschwindend geringen Kostenunterschied ausmachen, vor allem in Anbetracht der im Vergleich zu den „wenigen notorischen Verweigerern“ viel größeren Masse von Aufstockern und Ukrainern. Wenn man wirklich etwas gegen die hohen Sozialkosten tun will, dann löse man solche Probleme doch eher über bessere Löhne, die nicht zum Aufstocken zwingen. Auch ein schöner Gedanke, den seine Widersacher natürlich sofort als absurd zurückweisen: Sparen, indem man ausgerechnet die Wirtschaft noch mehr belastet? Anstatt diejenigen ranzunehmen, die dem Staat diese Kosten mit ihrem Lebenswandel verursachen?

Ein möglicher Ausweg aus der Debatte liegt darin, dass diese Kostgänger, wie eingangs erwähnt, ja bei Weitem nicht nur faule Deutsche sind. Im Gegenteil sind unglaubliche 47,3 % der Bürgergeldbezieher noch nicht einmal wirkliche Bürger unseres Staates. Nicht zuletzt im Lichte dieser Tatsache fragt man sich, wiederum angetrieben von CDU und FDP, dann schon, wie es mit den ganzen Ukrainern, die hier bei uns sind, anstatt ihrem Vaterland zur Seite zu stehen, und die hier noch nicht einmal arbeiten, künftig überhaupt weitergehen soll. Auch wenn die SPD davon – im Ausnahmefall der Ukrainer – einstweilen noch nichts wissen will: Die Gehässigkeit des Nationalismus verspricht immer wieder politische Abhilfe in Fragen sozialer Probleme.

[1] Siehe: Das Bürgergeld. Eine ‚Jahrhundertreform‘ für den staatlich betreuten Pauperismus, GegenStandpunkt 2-23.