Die Klassengesellschaft bespiegelt sich selbst und geht mit ihrem Zerrbild kritisieren:
Die Zivilgesellschaft – Karriere eines national wie international extrem unpassenden, ideologisch daher äußerst fruchtbaren Einfalls
Ist, wenn ein Präsident das Wort Zivilgesellschaft in die Zirkulation wirft, eine „Vokabel“ für die Wissenschaft schon ein Begriff? Wovon denn überhaupt? Von Wesenheiten, die zwischen „Idee“ und „Gestalt“ oszillieren? Spukt es da in den Köpfen? Aber womöglich werden solche Fragen Denkern gar nicht gerecht, die nach – immerhin: zehn! – Jahren der Forschung Rückblick auf ihr eigenes Tun halten, einfach nur zufrieden mit sich sind und konstatieren, dass ihnen ‚Bürgergesellschaft‘ zu einem Sympathiebegriff“ geworden ist.
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Systematischer Katalog
Die Klassengesellschaft bespiegelt
sich selbst und geht mit ihrem Zerrbild
kritisieren:
Die Zivilgesellschaft – Karriere eines national wie
international extrem unpassenden, ideologisch daher
äußerst fruchtbaren Einfalls
I. Die Zivilgesellschaft zu Hause
Ein wissenschaftliches Modell für den Fortschritt der politischen Kultur
Um festzustellen, was in der Republik gerade
Hochkonjunktur hat, bedarf es wahrlich keiner großen
wissenschaftlichen Vorbildung. Die Krise beschert der
lebendigen Manövriermasse des kapitalistischen Wachstums,
dem ‚Humankapital‘, das vom Lohn für seinen Dienst am
Profit leben muss, haufenweise Notlagen; die politischen
Regenten des Standorts stellen ihren
marktwirtschaftlichen Sachverstand unter Beweis, indem
sie auf dem Gesetzesweg für die weitere Verarmung der
arbeitenden wie der außer Dienst gestellten Volksteile
sorgen; die von der privaten Macht des Eigentums wie von
der öffentlichen des Staates Betroffenen fügen sich den
herrschenden Interessen, als ob Armut wirklich ein
‚Schicksalsschlag‘ wäre – und der kritischen öffentlichen
Meinung geht alles, was da an ‚Reformierung‘ des
Standorts auf Kosten seiner Insassen unterwegs ist, nur
immer nicht weit genug: Wenigstens eine kleine Einsicht
darüber, wie in der bürgerlichen Welt Macht und Ohnmacht
verteilt sind, welche Interessen zählen und welche nicht,
wäre also so schwer nicht zu erlangen. Doch die
Wissenschaften, die sich von Berufs wegen über das
Treiben in der bürgerlichen Gesellschaft Gedanken machen,
warten da mit ganz anderen Erkenntnissen auf. So wie sie
die Welt besehen, nimmt in der überhaupt nicht der
Klassenkampf von oben, sondern etwas sehr Luftiges
Aufschwung – da hat der Begriff ‚Bürgergesellschaft‘
zurzeit Hochkonjunktur
! (L.
Probst, Vortrag zur ‚Sommerakademie des Sekretariats für
Zukunftsforschung‘, 23.9.99) Wie dies? Was bringt
die professionellen Denker dazu, sich über eine Idee
und Gestalt der Bürgergesellschaft
zu verbreiten, nur
weil 1992 Richard v. Weizsäcker die Vokabel
‚Bürgergesellschaft‘ in den öffentlichen Sprachgebrauch
einführte
? Ist, wenn ein Präsident sie in die
Zirkulation wirft, eine Vokabel
für die
Wissenschaft schon ein Begriff? Wovon denn überhaupt? Von
Wesenheiten, die zwischen Idee
und Gestalt
oszillieren? Spukt es da in den Köpfen? Aber womöglich
werden solche Fragen Denkern gar nicht gerecht, die nach
– immerhin: zehn! – Jahren der Forschung Rückblick auf
ihr eigenes Tun halten, einfach nur zufrieden mit sich
sind und konstatieren, dass ihnen
‚Bürgergesellschaft‘ zu einem Sympathiebegriff
geworden ist. (T. Evers,
Bürgergesellschaft, Ideengeschichtliche Irritationen
eines Sympathiebegriffs,
www.reformwerkstattruhr.de). Vielleicht haben sie
ja ihre Gründe, weswegen ihnen ein Begriff derart
sympathisch ist, dass sie ihm in ihren eigenen Reihen
gegen alle wirklichen Konjunkturen eine eigene
Hochkonjunktur verpassen, und in der Tat:
„Das Wort klingt wie ein Versprechen: Engagement statt Apathie, Gemeinwohl statt Eigennutz, Solidarität statt Macht. Überhaupt ein Zugang zur Politik, der sich eher an Werten als an Interessen, an Menschen statt Strukturen orientiert“. (Evers, ebd.)
Der Klang eines Versprechens also ist des Wortes tiefere
Bedeutung und Grund der Sympathieerklärung. Allerdings:
was da versprochen wird, ist nicht gerade
sensationell. Die Niederungen des bürgerlichen
Erwerbslebens moralisch ins Abseits zu rücken
und für manch unerfreuliche Konsequenzen der Konkurrenz
ums Eigentum dementsprechend wahlweise ‚Eigennutz‘ und
ähnlich verwerfliche ‚Interessen‘, die Herzlosigkeit
einer ‚Macht‘ und die Intoleranz irgendwelcher anonymer
‚Strukturen‘ verantwortlich zu machen: Darauf versteht
sich so oder anders ja nun wirklich jeder gute Bürger.
Der pflegt regelmäßig die Tugend der Selbstbeschränkung,
die er an den Tag legt, bei allen anderen zu vermissen
und ist damit schon am Ende der Ursachenforschung für
alles angelangt, was ihn bei der Verteilung von Erfolg
und Misserfolg, Macht und Ohnmacht bedenklich bis
unbehaglich stimmt. Und was dieses die Wissenschaft so
anheimelnde Gegenbild betrifft, welches statt
der
gesamtgesellschaftlichen Unmoral von einer Bürger-
oder Zivilgesellschaft
versprochen
wird:
Auch da ist noch der drittklassigste Sonntagsredner um
ein Zitat aus dem Schatz von schönen Bildern nicht
verlegen, in denen die staatsbürgerliche Sehnsucht nach
der Herrschaft des Anstands gerne Zuflucht nimmt, und
weiß vorwärts wie rückwärts herzusagen, wie der Weg vom
‚Menschen‘, der das Tun des Rechten zum ‚Wert‘
verinnerlicht hat und entsprechend ‚Engagement‘ an den
Tag legt, schnurstracks zum höchsten aller Güter, dem
‚Gemeinwohl‘, führt. In dieser furchtbar banalen
moralischen Dummheit liegt offenbar beschlossen, was
diesen Begriff
für die Wissenschaft so
sympathisch
macht, und das ist allerhand: An alle
gängigen Deutungen, mit denen sich der gemeine
staatsbürgerliche Verstand das recht magere Ergebnis
seiner Bemühungen, in der Welt der Konkurrenz für sein
Interesse zu sorgen, als Verstoß gegen moralische
Pflichten zurechtlegt, den andere sich zuschulden kommen
lassen, knüpfen diese Theoretiker in denkbar affirmativer
Weise an. Dem gigantischen Fehler, den Bürger
durch die Bank machen, wenn sie die Gesetze ihrer
Obrigkeit nicht nur willig als den ‚Rahmen‘ hinnehmen, in
dem sie sich um ihren privaten Erfolg kümmern können,
sondern dazu auch noch das ihnen von Rechts wegen
Gebotene so zum eigenen Anliegen verinnerlichen, dass sie
sich zu Privatrichtern in Sachen Anständigkeit auch aller
anderen aufschwingen, haben sie nur eines hinzuzufügen:
Genau auf dieses Ideal einer gesamtgesellschaftlich
praktizierten Sittlichkeit, die einfach keinen
Gegensatz mehr kennt, weder zwischen den Interessen der
Bürger noch zwischen ihnen und der staatlichen Obrigkeit,
von der sie regiert werden, kommt es nach ihrem
Dafürhalten im Leben wirklich an – und sie gehen
in ihrer Parteilichkeit für das Ideal einer wirklich
gelebten Moralität gleich so weit, dass sie es in der
Welt ihrer Wissenschaft schon einmal wahr werden
lassen:
„Mit Zivilgesellschaft bezeichnet die Politikforschung eine spezifische Form politischer Kultur: Verschiedene Kräfte aus Staat, Markt, bürgerlicher Öffentlichkeit und bürgerlicher Privatheit agieren in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Diese Balance entspricht der idealen Vorstellung einer demokratischen, diskutierenden und partizipierenden Bürgergesellschaft.“ (M. und S. Greiffenhagen, i.d. Zeitschrift ‚Auf dem Wege zur Zivilgesellschaft‘, 3/99)
Dem Vernehmen nach ist diese Politikforschung
so
frei, die Welt, wie sie geht und steht, im Lichte einer
Vorstellung
zu beleuchten, von der sie
bereitwillig zugibt, dass die auf nichts Objektives,
sondern allein auf eine Einbildung zurückgeht, die
sie sich ersonnen hat: Die bürgerliche
Gesellschaft liefert in Gestalt von ‚Staat‘, ‚Markt‘ usw.
nur die Zutaten ins Haus, mit denen diese Forscher sich
eine spezifische Form politischer Kultur
hinkonstruieren können, die sich vornehmlich dadurch
auszeichnet, dass sie ihrer moralischen Vorstellung
entspricht
. Deren Inhalt fasst das, was es an
demokratischen Realitäten gibt, in dem sehr frommen
Gedanken einer Harmonie zwischen oben und unten, allem
und jedem zusammen, lässt sich daher gut mit einer
Balance
von Kräften
bebildern, deren höchst
spezifische
Bestimmung darin besteht, das sie
verschieden
sind – wahrscheinlich sind sie
zusammen mit ‚Staat‘ und ‚Markt‘ vom Himmel gefallen. Und
wenn man diesem Bild dann noch eine eigene Bezeichnung
verpasst, haben diese ‚Forscher‘ ein erstes Etappenziel
erreicht und können mit ihrem zur
Zivilgesellschaft
umgetauften Ideal immerhin eine
Wesenheit nennen, welche bezeugt, dass ihren idealen
Vorstellungswelten ein ganz reales Forschungsobjekt
korrespondiert. Insofern ist es für diese Denker auch gar
keine Frage, ob die Welt draußen auch wirklich derjenigen
entspricht
, die sie sich im Kopf gebaut haben: Das
kann die gar nicht vermeiden, und nichts haben diese
Forscher lieber, als sich dem kritischen Test auf den
Realismus ihrer Ideen zu unterziehen – und die schnöde
gesellschaftliche Prosa gründlich gegen ihre moralische
Phantasie abstinken zu lassen. Entweder so, dass man sich
schlicht und ergreifend dazu bekennt, ein freihändig
konstruiertes Prinzip von gesellschaftlicher Ordnung zu
vertreten und gegen alle Wirklichkeit geltend zu machen –
selbstverständlich mit der Versicherung, dass der Gang
der wirklichen Dinge sich demnächst schon an dasselbe
Leitbild
orientieren wird müssen, das sich der
wissenschaftliche Fachmann für normatives Denken
ausgeheckt hat:
„Dabei kann man, wie Jürgen Habermas, Zivilgesellschaft eher als ein normatives Leitbild auffassen, das heißt als eine bisher nirgends erreichte, sondern künftig erst herzustellende Ordnung“ (ebd.). Wenn man das schon kann, kann man selbstverständlich auch eine zweite Variante probieren und die Wirklichkeit solange geistig verfremden, bis man in ihr die Leitidee „erkennen“ kann, die man in sie hineingedacht hat, zumindest in Spurenelementen – „andere Politologen erkennen dagegen schon in gegenwärtigen Gesellschaften Züge einer zivilen Gesellschaft“ (ebd.).
In der Nachbardisziplin Soziologie versteht man sich
perfekt auf die Kombination beider Varianten. Man erklärt
offen heraus, mit theoretischen Erörterungen aufzuwarten,
die ausdrücklich einem Hirngespinst gelten – freilich
nicht, ohne das Recht zum weiteren Ausbau der eigenen
Phantasie auch noch zu begründen, und zwar mit einem
Menschenbild, das allein schon deswegen so unglaublich
originell ist, weil es das andere, gegen das es sich
stolz abhebt, nicht einmal in den dümmsten bürgerlichen
Köpfen gibt: „Das Gegenmodell einer
Gesprächsdemokratie (im Unterschied zur
herkömmlichen liberalen Demokratie
, d.Verf.)
sieht den Menschen nicht als isoliertes
Individuum.“ Steht so fest, dass auch Soziologen
gerne modellieren und deswegen Individuen keinesfalls
isolieren, kann damit auch als gesichert gelten, dass es
die ‚Gesprächsdemokratie‘ gibt, die sie als ‚Grundform‘
aller Demokratie gleich als Gegen
entwurf zur
wirklichen postulieren. Also geht es auch bei der
Ausmalung dieser irrealen Welt im Indikativ Präsens
weiter und wird ein weiteres Mal bewiesen, wie sich
hinter dem Rücken aller Beteiligten das bürgerliche
Treiben zur ‚Zivilgesellschaft‘ arrondiert. In einem
riesigen Dauer-Palaver ermitteln die Menschen Normen,
damit sie dann endlich wissen, was für sie verpflichtend
gilt und woran sie sich zu orientieren haben:
„Die Grundform politischen Handelns ist demnach die diskursive Beratung, (…) nicht primär um wirtschaftliche Interessen gestritten, sondern um politisch-normative Bewertungen, die sich argumentativ an gemeinsamen Kulturnormen bewähren müssen. (…) Entscheidungen (…) nicht als deal, sondern als vorläufig mehrheitliche Vermutung des Richtigen. (…) Der Staat erscheint nicht als gesonderter Apparat, sondern als Zusammenfassung der Sozialbezüge seiner Bürgerinnen und Bürger.“ (T. Evers, ebd.)
Immerhin deutet sich am Schluss der Konstruktion ein
wenig der Sinn an, auf den die polit-soziologische
Interpretation des Tummelns der Bürger in der
bürgerlichen Rechtsordnung hinauswill. Wenn die nur
einfach den Bourgeois vergessen, der in ihnen
steckt; wenn sie ihre bürgerlich-ökonomische
Haut von sich abstreifen, sich nicht mehr in der
Konkurrenz um so profanes Zeug wie deals
und
wirtschaftliche Interessen
in ihren Gegensätzen
verstricken; wenn sie sich vielmehr ihrer
staatsbürgerlichen Natur als wahrer und höherer
innewerden; wenn sie ihr ganzes Treiben und Trachten auf
die Gestaltung des Miteinander verlegen, das sie
zu Citoyen vereint, nur noch um
politisch-normative Bewertungen
ringen, auch dabei
extreme Zurückhaltung walten und so, wie die Wissenschaft
von Sir Popper es ihnen vormacht, auch im Leben jede
vorläufig mehrheitliche Vermutung
gelten lassen,
bis der erste schwarze Schwan um die Ecke biegt: Dann
könnte ein Traum der bürgerlichen Menschheit endlich wahr
werden. Dann hätten die Bürger sich der
Herrschaft über sich selbst, die sie für ihr
eigenes Fortkommen in der Welt des Eigentums brauchen und
wollen, glatt dadurch entledigt, dass sie sie
einfach – überflüssig machen! Ihr ewiges Leiden
an dem Widerspruch, die Beschränkungen, die ein
herrschaftlich erlassenes Rechtswesen ihren privaten
Interessen auferlegt, exakt andersherum, nämlich als
positive und nützliche Bedingung ihres
privaten Erfolgs zu nehmen, hätte schlagartig ein Ende,
weil dieser gesonderte Apparat
, den man gemeinhin
so als Staat kennt, weder gesondert noch ein Apparat mehr
wäre. Der wäre dann so etwas von einer ultralight-Version
von Obrigkeit, dass man ihn glatt vergessen könnte: ein
Stück von dir und mir und wir von ihm, Zusammenfassung
der Sozialbezüge
der Bürger, wir alle eben.
Doch noch ist es nicht ganz so weit. Noch sind die
Konstrukteure dieses schönen, neuen gewaltfreien,
selbstorganisierten
Gesellschaftslebens mehrheitlich
der Überzeugung, dass sie zwar die Haupttendenz haargenau
erfasst haben, auf die das Treiben der bürgerlichen
Gesellschaft hinausläuft, dafür aber, dass endlich
‚Zivilgesellschaft‘ herrscht, schon noch einiges zu tun
ist.
Bürgerliche Gesellschaft minus Klassen und Klassenstaat plus machtvolle Sinnquellen = Zivilgesellschaft
So reifen Vorschläge heran, wie man den Citoyens schon
einmal den nötigen Freiraum für eine mit der etablierten
Staatsmacht ums Gemeinwohl wetteifernde Staatenbildung
von unten schaffen könnte: Die Bürger könnten bei der
Obrigkeit doch höflich um gesetzlich geschützte Räume
für eine konkurrierende politische Gestaltungsmacht
einkommen, damit sie dann zusammen mit den staatlichen
Behörden gesellschaftliche Kreativität und
Selbstverantwortung entfalten können.
(U. Beck, Die Zeit, 25.5.00) Andere
wollen ihr Gegenmodell
mindestens genau so
praxisnah verstanden wissen, legen aber Wert darauf, das
‚Gegen‘ von dem Modell theoretisch deutlich heraus zu
präparieren, das sie im Kopf haben. Dazu entschließen sie
sich erst einmal zu einer Umtaufung der Gesellschaft, die
sie vor sich haben:
„‚Bürgergesellschaft‘ und ‚Zivilgesellschaft‘ haben inzwischen die ältere deutsche Übersetzung für ‚civil society‘, also ‚bürgerliche Gesellschaft‘, fast komplett ersetzt, wo es um die Beschreibung und normative Bestimmung des Gemeinwesens geht.“ (Ch. Liermann, Auf der Suche nach der Bürgergesellschaft, www.oeko-net.de)
Welchen Namen man dem bürgerlichen Scheißladen verpasst,
könnte einem ja egal sein. Es ist nur so, das
der Name, den diese Denker sich fürs
kapitalistische Gemeinwesen ausgesucht haben, eben ihr
verkehrtes Denkprogramm zusammenfasst, sie – wie das
schöne Kombinat von ‚Beschreibung‘ und ‚normative
Bestimmung‘ verrät – im Staat nur Bürger und in den
Bürgern nur den Staat sehen, weil sie die Gesellschaft
durch die Brille ihrer normativen Leitidee
betrachten. Und so sieht die bürgerliche Gesellschaft
dann auch aus: Was den bürgerlichen Staat
betrifft, so hat er – das hatten wir schon – in seiner
Rolle als gewaltmonopolistisches Aufsichtsorgan über die
Konkurrenz der Eigentümer im Grunde ausgedient: was es an
‚Normen‘ so braucht, würfeln die Citoyens unter sich aus.
Was den Kapitalismus betrifft, so ist
gleichfalls klar, dass er dann, wenn freie Bürgerpersonen
die Mehrung ihres Eigentums als Gemeinschaftswerk
betreiben, nur eine durch und durch herrschaftsfreie
Angelegenheit sein kann. Klassen jedenfalls, die bei den
einen in ihrer Verfügungsmacht über Eigentum, bei den
anderen in ihrer Eigentumslosigkeit gründen, gibt es da
nicht, ebenso wenig wie einen Gegensatz zwischen den
einen, die gegen Lohn den Reichtum schaffen, und den
anderen, die ihn sich aneignen. Und so lässt sich
zusammen mit der älteren deutschen Übersetzung auch
gleich das Objekt der Bezeichnung gründlich mit entsorgen
– und mit dem zusammen alles, was an die recht
unterschiedlichen sozialen Charaktere erinnern könnte,
die sich in der bürgerlichen Gesellschaft herumtreiben.
Zugute kommt diesen fortschrittlichen Spracherneuerern
dabei, dass in der Welt, in der sie leben, die
‚Rationalität‘ des kapitalistischen Wirtschaftens
keineswegs nur deren praktischen Nutznießern allergrößte
Selbstverständlichkeit ist. Sogar die, die ihr Lebtag
lang nur ihren Schaden davon haben, sich für den Dienst
am Wachstum zur Verfügung zu stellen, sind geschlossen
dazu übergegangen, sich in der alternativlosen
Abhängigkeit von den Konjunkturen der kapitalistischen
Rentabilitätsrechnung einzuteilen und eben aus ihrer
Ohnmacht das Beste für sich zu machen. Und wenn sich die
proletarischen Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft
schon nicht mehr als Klasse verstehen und betätigen, sich
auch in ihnen die Auffassung festgesetzt hat, dass sie
als Mitglieder eines nationalen Kollektivs
allenfalls noch darauf Anspruch hätten, dass ihre
arbeitsamen Dienste, die sie anbieten, auch abgerufen
werden – dann liefern sie damit der Wissenschaft glatt
einen Beweis: Den nämlich, dass dann wohl die
Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft endlich
wirklich alle gleich geworden, sich
traditionale Sozialformen und -ordnungen, wie sie
durch soziale Klassen (…) vorgegeben wurden
, in Luft
aufgelöst haben und verfallen
sind. (U. Beck, Wie wird eine postnationale und
zugleich politische Bürgergesellschaft möglich?,
www.heise.de, 25.4.99) Und wo es zwischen ihnen
nichts mehr gibt, das sie in Gegensatz zueinander bringen
könnte, hat sich dann auch die gewaltsame Klammer in
Nichts verflüchtigt, die den bürgerlichen Laden
zusammenzwingt – so besoffen macht die Idee vom
Volksganzen, das keine Klassen mehr kennt, diese Denker,
dass sie auch keinen Staat mehr kennen wollen und ganz
vergessen, dass der es ist, der Citoyens überhaupt erst
zu solchen macht: Auch die deutsche, hegelgeprägte
Tradition
, in der die bürgerliche Gesellschaft …
dem Staat gegenübertrat
(Ch.
Liermann, ebd.), könne man ihnen zufolge getrost
aufgeben, und zwar zugunsten eines bemerkenswerten
‚Paradigmenwechsels‘
hin zur ‚Zivilgesellschaft‘. Die
unterscheidet nämlich gar nicht mehr zwischen Staat
und Gesellschaft, sondern umfasst beide … idealerweise
als jenen Raum, in dem sich die Individuen in freier
Konkurrenz entfalten…
(Ch.
Liermann, ebd.) Es ist zwar nur ein
‚Paradigmenwechsel‘, ein einfaches Um- und
anders-als-Hegel-denken, wozu der Mann sich entschlossen
hat. Aber dieser Mut zum Denken irrealer Welten geht
zweifellos in Ordnung, wenn ein so bemerkenswert schöner
„Raum“ dabei herauskommt: Der Staat tritt uns Bürgern
nicht mehr gegenüber, nein, wir umfassen ihn gleich! Und
was sonst noch zum Kapitalismus gehört, umfassen wir
gleich mit: Vormittags selbstverwirklichen wir uns in
Gesetzen, um uns nachmittags beim Konkurrieren erst recht
frei zu entfalten!
So zieht die Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft
die ‚verhimmelte Existenz‘ (Marx), die der Bourgeois, dieser
Privatmensch und ‚egoistische homme‘, als Citoyen, als
‚imaginäre(s) Glied einer eingebildeten Souveränität‘
zugleich führt, in den Himmel ihrer Ideenbildung hinein –
und emanzipiert den Menschen ziemlich gründlich vom
Leiden an seiner ‚Doppelexistenz‘: Sie
konstruiert sich ein ganzes gesellschaftliches
Leben zurecht, in dem der Bürger als
Privatmensch nur die Pflichten seiner im
Staat inkorporierten Allgemeinheit exekutiert. Sie
erfindet sich die Lichtgestalt einer moraldurchtränkten
Kreatur, die gleichsam von Natur aus –
selbstreguliert
, also irgendwie aus angeborener
höherer Verantwortung gegenüber dem Großen & Ganzen –
alle ihre Bourgeois-Interessen so gründlich an ihren
Pflichten als Citoyen relativiert, dass von ersteren
einfach nichts mehr übrig bleibt – und statt dessen aus
Zauberhand so etwas wie Gemeinwohl
entsteht, und zwar endlich ohne dass
Politik
als machtvolle, überlegene
Leitungsinstanz
(Ch. Liermann,
ebd.) auftreten müsste. Wissenschaftlich gesehen
ist also Kommunismus im Prinzip doch relativ einfach zu
haben. Er geht ganz ohne Revolution und funktioniert
mitten im schönsten Kapitalismus – vorausgesetzt, man
denkt sich eben die Welt radikal weg, in der man gerade
lebt, und konzentriert sich ganz darauf, wie in der
eigenen, imaginierten Welt der Citoyens an einem
Gemeinwohl gestrickt wird, das dem, das es gibt, dann
doch wieder so unähnlich nicht ist. So kleinliche Fragen,
wer inmitten all der feinen Diskurse
, in denen die
Bürger das Richtige
ermitteln, die Drecksarbeit
macht, also arbeitet und die Ausbeutung organisiert,
Leute entlässt und an der Wohlfahrt spart, innen auf die
Verbrecher aufpasst und draußen die nötigen Kriege führt,
dürfen dabei allerdings keine Rolle spielen; wenigstens
ist von ihnen in den wissenschaftlichen Bebilderungen der
bürgergesellschaftlichen Idylle nichts überliefert.
Wichtiger ist festzuhalten, dass bei dieser Sorte eines
Absterbens des Staates
durch sein Aufgehen im
Verantwortungsgefühl bürgerlicher Diskussionsrunden die
Ordnung und ihr Sinn keinesfalls zu
kurz kommen. Da kann die brave Bürgerseele schon ganz
beruhigt sein, denn in der ‚Zivilgesellschaft‘ werden
keineswegs notwendigerweise Desintegration und Anomie
um sich greifen. Vielmehr entsteht eine Ethik
individueller Selbstentfaltung und Selbstverantwortung,
die zu den machtvollsten Errungenschaften und Sinnquellen
moderner Gesellschaften gehören.
(U. Beck, ebd.)
Die Ethik des Zusammenhaltens ersetzt das Gewaltmonopol, Sinn ist die Quelle, aus der der Reichtum sprudelt und die Macht des Gemeinwesens obendrein. Staatliche Restposten, die es noch gibt, beteiligen sich rege an der Sinnstiftung und mischen dabei mit, wenn die Bürger
„gewaltfrei, selbstorganisiert, selbstreflexiv und in dauernder Spannung miteinander und mit den staatlichen Behörden gesellschaftliche Kreativität und Selbstverantwortung entfalten.“ (derselbe, Die Zeit, 25.5.00)
Und so geht es dahin in der Werkstatt der Wissenschaft
und ihren idealen
Gegen-Welten zur wirklichen, die
so vortrefflich sind, weil sich in ihnen nur die
Phantasie durchgeknallter Staatsbürger freien Lauf nimmt
und ihrer eigenen Vortrefflichkeit Denkmäler setzt. Doch
dann erinnern sich diese Denker, die ‚l’etat c’est moi!‘
einfach mal andersherum buchstabieren, problemlos
zwischen Ich und Staat ein Gleichheitszeichen setzen und
damit nichts weniger als die Demokratie auf ihren –
ansatzweise schon oder aber demnächst ganz bestimmt
wirklichen – Begriff gebracht haben wollen, glatt daran,
dass sie bloß Idealisten einer Welt sind, die es
außerhalb ihrer Köpfe schon auch noch gibt. Und dann
ergeht ein kleiner, aber doch vernehmbarer Rückruf an die
Adresse der eigenen Spinnerei:
„Die Wirklichkeiten von Macht, Interesse und Gewalt lassen sich nicht vollends in Verständigungsprozessen bändigen. Es ist weder möglich noch wünschenswert, dass ein soziomoralisch gefärbtes Beteiligungsmodell die repräsentative Wahldemokratie schlankweg ersetzt.“ (T. Evers, ebd.)
Interessant: Dieselben Denker, die ihr
soziomoralisches Beteiligungsmodell
nicht nur als
das Allerwünschenswerteste auszupinseln verstehen, was
Staatsbürger sich nur denken können, sondern auch ein ums
andere Mal versichern, dass der Wunsch längst unterwegs
ist, wahr zu werden, halten ihre ideale Welt mit einmal
für weder möglich noch wünschenswert
. Kaum sind
sie fertig mit dem Auspinseln ihrer Gegen
-Welt zur
wirklichen, müssen sie unbedingt die Versicherung
hinterher reichen, damit der Demokratie, die es gibt, auf
gar keinen Fall zu nahe treten zu wollen. Als irgendwie
geartete Kritik an den Realitäten der Demokratie
möchte der gedankliche Absprung zur Vorstellung von
Gemeinwesen, in denen ‚Partizipation‘ und ‚Verständigung‘
regieren, bitte nicht verstanden werden. Eher als deren
Negation, als Anti-Kritik, die der für
wünschenswert
befundenen repräsentativen
Wahldemokratie auch mitsamt ihren Wirklichkeiten von
Macht, Interesse und Gewalt die Erfüllung aller sozio-
oder sonstwie moralisch gefärbten Drangsale zu entnehmen
vermag. Also soll man die Einbildungen von einem
Allgemeinwohl, das als herrschaftsfreies Werk initiativ
gewordener Bürger zustande kommt, wohl als wertvollen
Zusatz zur Demokratie würdigen. Und siehe da:
Sympathischer
werden sie mit ihrem Begriff
darüber zwar auch nicht; aber etwas besser in die Welt,
in der wir leben, passen sie dann schon.
Noch ein Ideal der Zivilgesellschaft: Der Staat engagiert sich für mehr Wohlfahrtspluralismus!
Dankenswerterweise lassen die theoretisierenden Freunde
der ‚Zivilgesellschaft‘ bei passender Gelegenheit selbst
durchblicken, von welchem demokratischem Sumpf ihre
hypertrophe staatsbürgerliche Phantasie die Blüte ist:
Bürgerschaftliches Engagement
, Individualismus
in der Gestalt der Selbstorganisation, der
Eigeninitiativen und experimenteller Politik…
(U. Beck, Telepolis.de) und
das Modell Bürgerarbeit
(ebd.) insgesamt sind Antworten auf
Probleme
, die von nichts Geringerem als der
herrschenden weltweiten Wirtschaftskrise und der damit
einhergehenden „Krise der Sozialsysteme“ in den
kapitalistischen Staaten aufgeworfen werden. Die sind es,
die der ‚Zivilgesellschaft‘ und ihren engagierten
Bürgern
alle Chancen eröffnen:
„Die Diskussion um das bürgerschaftliche Engagement ist zuerst eine Diskussion über die fehlenden finanziellen Gestaltungsräume unserer Gesellschaft… (aber) Gesellschaften gestalten sich um in Krisenzeiten. Neue Entwicklungen können aus Mangel entstehen. Die fehlende Quantität der Mittel kann in eine neue Qualität des Miteinander umschlagen.“ (H. G. Ruhe und A. Fritzsche, Das Prinzip Gegenseitigkeit – Kommunitarismus in der Bildungsarbeit: Idee und Wirklichkeit)
So also passen sie zusammen, die Hochkonjunktur
der Notlagen, die Kapital und Staat den lieben
Bürgern bescheren, und die des Sympathiebegriffs
Zivilgesellschaft
. Der Staat spart am sozialen
Unterhalt seiner Gesellschaft – und die Wissenschaft
erobert sich die soziale Not als Terrain, neue und vor
allem extrem preiswerte Qualitäten des Miteinander
zu ersinnen. Für die praktische Seite des
Umschlags
in diese neue Qualität
der
Abteilung Sozialstaat sorgen schon seit längerer Zeit die
verantwortlichen Politiker, indem sie in Anbetracht der
sinkenden Zahl von Beitragszahlern und wachsender
Ausgaben für immer mehr Arbeitslose und Rentner an den
Einnahmen der Sozialkassen und deren Ausgaben für
Leistungen drehen. Für die passende theoretische
Interpretation stehen dann Fachleute – die gar nicht
einmal Soziales studiert haben müssen – bereit, die das
dem betroffenen Publikum genau andersherum
verdolmetschen. Nach ihrem Dafürhalten war gar nicht der
Sozialstaat mit seinen schäbigen Aufwendungen zur
Verwahrung der vorübergehend oder dauerhaft aus ihren
produktiv-kapitalistischen Diensten Entlassenen das
Residuum aller ‚Solidarität‘, zu denen es eine soziale
Marktwirtschaft bestenfalls bringt. Vielmehr ist der
Staat in absoluter Verkennung aller solidarischen
Potenzen, die in seinem Volk schlummern, mit seinem
sozialfürsorgerischen Aktivismus den bürgerlichen
Drangsalen nur immer im Wege gestanden, Notlagen auch
ohne Mittel, einfach nur mit der unbegrenzten
„Antriebskraft“ des solidarischen Zusammenhaltens
durchzustehen:
„Für viele ist es komfortabler, sich vom Staat aushalten zu lassen, als sich anzustrengen und etwas zu leisten … Der Staat soll erst einmal aufhören, die Menschen zu entmündigen. Der übertriebene Staat gründet auf einer Lüge: Angeblich hilft er den Menschen. Aber in Wirklichkeit macht er sie abhängig von Versorgung und erstickt ihre Antriebskräfte.“ (Ex-Bundespräsident Roman Herzog: So viel Sozialstaat ist unsozial, Der Spiegel, 47/01)
So erfährt der Bürger endlich die Wahrheit über sich:
‚Versorgung‘ ist nichts, was er mangels eigener Mittel
braucht, sondern so etwas wie Valium, das der
übertriebene Staat
ihm einträufelt, um ihn von
sich abhängig
und damit faul, antriebsschwach und
konkurrenzuntüchtig zu machen. Ehrliche Armut in Freiheit
hat dem Individuum schon immer am wirksamsten Beine
gemacht, und was im Kleinen gilt, gilt im Großen erst
recht – zuviel Verantwortung für soziale Sicherheit
und Gerechtigkeit dem Staat zu überantworten
, tut der
Gesellschaft insgesamt nicht gut: Angesichts der
vielfältigen Veränderungen im sozialstaatlichen
Bereich, der drängenden Probleme auf dem Arbeitsmarkt und
der vielfach konstatierten ‚Demokratieverdrossenheit‘
hat der Deutsche Bundestag eine passende
Enquete-Kommission eingerichtet, die die Zukunft des
bürgerschaftlichen Engagements
in Deutschland
untersuchen, die vielfältigen Forschungen der letzten
Jahre zu dem Thema ‚Bürgergesellschaft‘ bündeln
und
richtungsweisend würdigen soll. Die Kommission ist schon
vorab davon ausgegangen, dass es für eine
demokratische Bürgergesellschaft nicht angemessen ist,
alle Verantwortung für soziale Sicherheit und
Gerechtigkeit dem Staat zu überantworten.
Man dürfe
nicht länger das enorme Potential an
‚wohlfahrtsrelevanten Gütern‘ ausblenden, die u.a. durch
bürgerschaftliches Engagement in unterschiedlichen
Bereichen produziert werden
, sondern müsse einen
echten Wohlfahrtspluralismus
entwickeln. Die
Kommission hat sich vorgenommen, begründete Empfehlungen
zur Förderung und Ausgestaltung des bürgerschaftlichen
Engagements in Deutschland zu entwickeln…
(MdB Bürsch, Vorsitzender der
Kommission, Homepage des Bundestages, Link:
Gremien)
Die wichtigste Empfehlung der Staatskommission steht
schon mit ihrer Gründung und Aufgabenstellung fest: Die
demokratische Gesellschaft soll sich endlich
selbst um die Sozialfälle kümmern, die sie
notorisch produziert, und sie nicht alle bei der Instanz
abladen, deren machtvollem Wirken sie sie zu verdanken
hat. Angesichts der drängenden Probleme
, die die
‚Bürgergesellschaft‘ dem Staat dadurch beschert, dass sie
ihm in der Krise nicht mehr so problemlos die finanzielle
Ausstattung liefert wie in besseren Zeiten, macht der
Staat sie dafür haftbar – und befindet es für
angemessen
, wenn sie sich selbst mehr für die
Wohlfahrt
der Armen im Lande engagiert
.
Anders als noch in den Zeiten einer ‚realsozialistischen
Alternative‘ und eines ‚Wettstreits der Systeme‘ ist die
staatlich organisierte Armenpflege für die
materiell Minderbemittelten mit und ohne Lohn heute eben
kein Ausweis mehr für eine gelungene,
kapitalistisch-soziale Marktwirtschaft. Damals wurde noch
die Vorsorge für die industrielle Reservearmee des
wachsenden Nachkriegskapitalismus propagandistisch als
Fürsorge für die Arbeiterklasse verkauft; in Zeiten, in
denen Millionen von arbeitsfähigen Leuten für dauerhaft
überflüssig befunden werden und die ideologische
Konkurrenz mit dem abweichenden System beendet ist, kann
auch das grundgesetzliche Sozialstaatsgebot
neu
interpretiert werden: Sozial ist, wenn die Gesellschaft
selbst sich ohne staatliche Vormundschaft
um ihr
Elend kümmert und im Zuge einer freiheitlich
organisierten Almosenwirtschaft ihre
wohlfahrtsrelevanten Güter
vermehrt in eigener
Regie produziert
. Die zu vielen Kosten,
die Arbeitslose und sonstige Arme verursachen, sind heute
unter dem kritischen Titel zuviel Staat
einziger
Ausweis eines Defektes im Leben der Nation – und
den soll das Volk mit bürgerschaftlichem
Engagement
heilen helfen.
Dieser Zynismus ist politische Praxis. Aus deren
Maßstäben extrahieren die einen Fachexperten für
politische Ideologie die Richtlinien des
Zeitgeistes, wie er sich zum Thema ‚Sozialstaat
heute‘ in Spiegel-Serien und Feuilletonspalten
ausbreitet, und die anderen, wissenschaftlich
„forschenden“ Ideologen finden im Zynismus von Politik
und Zeitgeist eben ihren Stoff, den sie zu ganzen
Modellwelten verfremden. Und das ist sie dann, real und
in ihrer ganzen Schönheit, die
Gesprächsdemokratie
, die der Wissenschaft als
Ideal vor Augen steht: Der Staat verarmt sein Volk – und
intellektuelle Arschlöcher quatschen sich hemmungslos die
Idee einer großräumigen, auf Vereinen und Verbänden
aufbauenden, debattierenden Öffentlichkeit
von der
Seele, in der die Bürger sich über Regeln und Sinn des
am Gemeinwohl orientierten politischen Handelns
verständigen
, mit dem Resultat der Stabilisierung
und Selbstkorrektur der liberalen Gesellschaft
(SZ, in der Besprechung eines neuen
Buches zum Thema „Zivilgesellschaft“). Beamte auf
Lebenszeit halten Zuwendungen durch den Staat für eine
einzige Zumutung und verbreiten sich mit ihrer
Entdeckung, dass überhaupt nicht nur sie selbst von
Philosophie und moralischer Sinnstiftung gut leben
können. Solches nährt den Mann, auch wenn er nicht
Professor ist – Selbstvertrauen
heißt für sie das
Leistungspaket nicht nur für die Wohlfahrt der
Obdachlosen im Winter: „In diesen Modellen (der
Bürgerarbeit
) wird Wohlfahrt nicht mehr länger
in einer Geldsumme gemessen oder als ein Leistungspaket
angeboten. Stattdessen wird hier eine Philosophie
erprobt, in der Wohlfahrt unauflöslich verbunden, gedacht
und praktiziert wird mit der Erweiterung von
Selbstkontrolle und Selbstvertrauen derjenigen, die diese
Wohlfahrt empfangen. Auf diese Weise kann die
individualistische Kultur ihre eigene Sozialethik
entwickeln und erproben.“ (U.
Beck, Wie wird eine postnationale und zugleich politische
Bürgergesellschaft möglich? Telepolis.de, 25.4.99)
Denn auch das haben sie herausgefunden und können es zum
Wohle der gesprächsdemokratischen Kultur einfach nicht
verschweigen: Wie im Krieg der Schützengraben, so macht
im zivilen Leben erst die Not den wahren Menschen. Human
wird die Ökonomie, wenn man sich aus ihr ausgeklinkt hat,
die kreisende Rotweinbombe unter der Brücke ist die echte
ökonomische Handlungskompetenz, und in den
Flüchtlingsghettos wohnen die NachfragerInnen, die der
Nation aus der Krise helfen und als soziales Kapital
allen anderen ein Vorbild sind:
„Die sozialproduktiven Handlungsvollzüge … der Armut bergen Aspekte einer humaneren Ökonomie … In Armutsmilieus finden sich Formen der Selbsthilfe und der Hilfe auf Gegenseitigkeit, die für neue gemeinwesenorientierte Formen kultiviert werden können. Auch die Menschen, die es gelernt haben unter Verhältnissen absoluter Armut ihr Leben zu organisieren, bringen wertvolle Besitzstände sozialen Kapitals und ökonomischer Handlungskompetenz … ein. MigrantInnenökonomien sind heute in europäischen Großstädten bedeutende ökonomische Faktoren.“ (Susanne Elsen: Gemeinwesenökonomie – eine Antwort auf Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung? Neuwied / Berlin 1998, S. 21-22)
In dieser dummen und gemeinen Manier betätigen sich die
Fans der ‚Zivilgesellschaft‘ als freie Zulieferer für den
ideologischen Überbau der aktuellen Sozialpolitik – und
dass sie den Begriff
, mit dem sie auch noch das
Elend als Gelegenheit für die Stabilisierung und
Selbstkorrektur der liberalen Gesellschaft
zu feiern
verstehen, ausgesprochen sympathisch
finden,
glauben wir ihnen bei der Geistesverfassung gerne.
II. Die Zivilgesellschaft unterwegs
Eine erschütternde Bilanz: Außer im Westen weltweit „keine Zivilgesellschaften“!
Obwohl sie selbst deutlich durchblicken lassen, dass ihr
Ideal einer durch bürgerliches Engagement privatisierten
Staatlichkeit wirklich nur auf dem Mist ihrer
demokratisch-kapitalistischen, westlichen Heimatländer
gewachsen ist: Von ihrer normativen Leitidee
abbringen lassen sich die theoretisierenden Freunde der
„Zivilgesellschaft“ selbstverständlich auch beim Blick
über deren Grenzen hinaus nicht. Und warum denn auch: Wer
sich mit seinen kontrafaktischen politischen Ideenwelten
so gründlich von jedem Urteil über die Wirklichkeit
freigedacht hat, in der er selbst lebt, weiß sich in
seiner Urteilsbildung im Prinzip selbstverständlich auch
in Bezug auf ganz andere politische Kulturen
kompetent. Er muss dazu nur seinem Blickwinkel treu
bleiben, so, wie er es bei der eigenen tut, auch diese
‚Kulturen‘ einfach an seinem Ideal messen – und schon ist
er auch in ihrem Fall darüber im Bilde, wie es um ihren
Begriff
bestellt ist. Doch wo die Deutung ihrer
eigenen demokratischen Welt im Lichte einer vorgestellten
bürgergesellschaftlichen Idealität die Denker der
‚Zivilgesellschaft‘ regelmäßig – im Großen und Ganzen
wenigstens – zufrieden stimmt – im Prinzip ist die
Sittlichkeit, von der sie schwärmen, immer unterwegs,
manchmal sogar, zumindest in Ansätzen
, schon da –,
ist es diesbezüglich um den Rest der Welt nicht gut
bestellt – und darüber gelingt diesen Idealisten ihr
nächstes Kunstwerk: Sie werden zu Kritikern der
imperialistischen Welt, ohne dass sie sich dazu jemals
Rechenschaft darüber ablegen müssten, was das überhaupt
für eine Welt ist, in der sie leben.
Was da beispielsweise aus
Afrika an Nachrichten an ihr
Ohr dringt, stimmt sie sehr bedenklich – schlicht und
ergreifend deswegen, weil es einfach nicht in die von
ihnen gepflegten Modellwelten einer staatsbürgerlichen
Zivilisiertheit hineinpassen will. Wo ganze
Gesellschaften ihrer Subsistenzmittel beraubt sind, in
Elend versinken und massenweise an Hunger und Krankheit
gestorben wird, wollen jedenfalls auch sie nicht von
einem geregelten bürgerlichen Erwerbsleben reden, in dem
Gesellschaftsmitglieder sich prima in freier
Konkurrenz entfalten
könnten, wenn sie sich nur
staatsbürgerlich ein wenig veredeln. Und wo die
staatlichen Herrschaften, die es dort gibt, in ihrem
Verfall begriffen sind, wo sich ein halber Kontinent im
Kriegs- oder Bürgerkriegszustand befindet und auch in
dessen Rest von konsolidierten Souveränen, die in der
flächendeckenden Ausübung ihrer hoheitlichen Rechtsgewalt
Völker überhaupt erst zu solchen machen, nur höchst
bedingt die Rede sein kann: Da traut sich auch der
schärfste Idealist der ‚Bürgergesellschaft‘ nicht so
recht vom Staat als einer Zusammenfassung der
Sozialbezüge
seiner Bürger zu reden. Dort
jedenfalls gibt es die Ingredienzien nicht, aus
denen er und seinesgleichen in zivilisierteren Breiten
die Idee der ‚Bürgergesellschaft‘ zusammen zu stricken
gewohnt sind – und genau das: Dass die Welt in Afrika so
ganz und gar nicht der Idealität von Welt
entspricht, die sie im Kopf haben, ist dann für
diese Denker schon ihr fertiger Begriff
. Kein
einziges der Phänomene gesellschaftlicher Erosion und
politischer Zersetzung, die sie zur Kenntnis nehmen und
unter der Rubrik ‚failed states‘ abspeichern, veranlasst
sie dazu, ein wenig an der geistigen Brille irre zu
werden, durch die sie die politische Welt betrachten. Sie
konstatieren, dass der Entwicklungsstaat, besonders in
Afrika
schon seit einigen Jahren gescheitert
ist (J. Bossuyt, Entwicklungshilfe
für die Demokratie, 1997), interessieren sich aber
weder für die seltsame Natur dieses Projektes
‚Entwicklung‘, noch für die Gründe seines Scheiterns und
auch nicht dafür, was diese Staaten nach dem Scheitern
ihrer nationalen Ambitionen dann noch sind: Mit dem
Befund, dass in Sachen ‚Zivilgesellschaft‘ in ihrem Fall
wohl Fehlanzeige zu verbuchen ist, sind sie mit
ihnen theoretisch fertig. Und auf diese Manier findet
auch so ziemlich der ganze Rest außerhalb der
marktwirtschaftlich-demokratischen Zivilisation des
Westens seine sozio-politologische Begriffsbestimmung.
Was immer da in Russland im
Einzelnen vor sich gehen mag, welche Formen die mit
einigem Gewaltaufwand betriebene Etablierung
kapitalistischer Verhältnisse in den Trümmern des realen
Sozialismus annimmt und was es mit dem Krieg und seinen
Gründen auf sich hat, den die Staatsmacht gegen ihre
Terroristen aus Tschetschenien führt: Gemessen am Ideal
staatlicher Sittlichkeit, das diese Experten im Kopf
haben, stellt sich eindeutig heraus, dass in Sachen
Zivilgesellschaft
eine gewaltige Kluft zwischen
Anspruch und Realität (…) herrscht. Auch in Russland gibt
es diesen Begriff, aber die Realität dahinter muss erst
aufgebaut werden. Während der westliche Besucher die
Zivilgesellschaft als eine Grundform des politischen
Lebens kennt, als ein Netz von freien und unabhängigen
Bürgervereinigungen, ist in Russland für den Aufbau einer
Zivilgesellschaft die Administration des Präsidenten
Putin zuständig.
(V. Agaev,
DW-radio, 5.9.2002) Wer in
China – ein ganz anderes Land
mit ganz anderen politischen Sitten, Erfolgen und
Drangsalen – dafür zuständig ist, ein Netz von freien und
unabhängigen Bürgern einzurichten, ist gleichfalls keine
Frage; dass auch die dortige Obrigkeit diesbezüglich alle
erforderlichen Dienstleistungen an der Verwirklichung
eines Anspruchs
schuldig bleibt, den es in
hiesigen Denkstuben nun einmal gibt, ebenfalls nicht:
Allein schon Falun Gong und eine Staatspartei, die den
Bürgern den freien Zugang zum Internet verwehrt, beweisen
dem demokratischen Verstand eindeutig, dass von einer
chinesischen ‚Zivilgesellschaft‘ einfach nicht die Rede
sein kann. Und was von China gilt, gilt so gut wie für
den ganzen Rest der ‚Dritten
Welt‘. Auch da müssen sich die Experten der
‚Zivilgesellschaft‘ mit Einzelheiten nicht groß abgeben,
die den Machtgebrauch in diesen Ländern betreffen. Was es
mit einer Staatsräson auf sich hat, die in der
Aufrechterhaltung von Restbeständen einer politischen
Ordnung besteht, an der das Handel treibende Ausland noch
Interesse nimmt, ist ihnen mit einem einzigen Blick auf
die vom demokratischen Regelfall abweichenden Wege
sonnenklar, die das ins Land kommende Geld nimmt: Wenn
die Inhaber der örtlichen Gewalt Exporterlöse wie das
gute Geld internationaler Kreditgeber für sich
privatisieren, anstatt damit die gemeinwohldienliche
Interessenskonkurrenz einer ‚Bürgergesellschaft‘ ins Werk
zu setzen, dann liegt es diesmal an korrupten
Politikern
, die ganze Kontinente als Geiseln
nehmen (E. Karnowsky, SZ).
Korruption, Ausrufezeichen: Fertig ist der Begriff ganzer
Kontinente, weil damit ja wohl klar ist, weshalb sich die
Realität einer ‚Zivilgesellschaft‘ auf ihnen einfach
nicht einfinden will.
Mit demselben Denkverfahren, mit dem sie die Demokratie als Hort der Verwirklichung all ihrer vorgestellten staatlichen Idealitäten feiern, lassen die Freunde der ‚Zivilgesellschaft‘ so den Rest der staatlichen Welt am selben Telos gründlich scheitern. Und so perfekt, wie sie sich bei ihrer Abstraktion von der Wirklichkeit ihrer heimatlichen Demokratien gegen den Einwand zu immunisieren verstehen, neben der Sache zu liegen, und sich einfach frei dazu bekennen, in die Welt die Teleologie hineinzusehen, die ihnen am Herzen liegt, so ist auch ihr internationaler Rundblick in jeder Hinsicht davor gefeit, in eine Blamage seiner Urheber auszuarten. Auf den zarten Hinweis hin, sie möchten mit ihrem ideellen Prüfkriterium für eine politische Herrschaft, die ihrem sittlichen Geschmack entspricht, vielleicht allzu verwegen sein, weil ihre Auffassung, die Herrscher und Völker auf dem Globus hätten nichts anderes im Sinn und wären mit nichts anderem befasst, als es ihren schönen Vorstellungen Recht zu machen, womöglich doch etwas weltfremd wäre, würden sie vermutlich verständnislos mit den Achseln zucken: Für sie beweist ja jeder staatliche Flecken, auf dem sie ihre ‚Zivilgesellschaft‘ nicht vorfinden, nur immer von neuem, dass sie deswegen dort genau hingehört, wo sie nicht ist; und alles, was es an deren Stelle gibt, beweist schon wieder dasselbe – dass da nämlich böse Mächte am Walten sind und den unaufhaltsamen Fortschritt der Zivilisation hintertreiben.
Die Konsequenz: „Zivilgesellschaftliches Engagement“ global
Radikal kritisch ist der Maßstab also durchaus,
mit dem diese Schwärmer in der imperialistischen Welt
Rundblick halten und ein ums andere Mal konstatieren, wie
schlecht es in der um die Staatenbildung von unten
bestellt ist. Nur ist es eben keine Kritik an nichts
und niemandem, die auf diesem Wege lanciert wird. In
seiner absurden Weltfremdheit ist das kritische
Prüfkriterium ‚Zivilgesellschaft‘ über alle Objektivität
des imperialistischen Weltzustandes hinaus, nimmt gar
nicht erst Bezug auf die unterschiedlich verfassten und
bemittelten Subjekte der politischen und wirtschaftlichen
Konkurrenz auf dem Globus, und auch nicht auf die Werke,
die sie in der zustandebringen: Einer kritischen Prüfung
unterzogen werden die Staaten nicht in Hinblick auf das,
was sie im Zuge ihrer wechselseitigen Benutzung und
Ausnutzung tun und ihren Völkern antun,
sondern allein unter der Perspektive dessen, was sie fürs
Zustandekommen des Ideals von ‚Zivilgesellschaft‘ alles
nicht tun. Und diese Nicht-Kritik an den
staatlichen Subjekten der imperialistischen Welt verrät
dann schon auch, dass der ganze kritische Impuls dieser
Denker auf einer bedingungslosen Affirmation der
kleinen, aber gewichtigen Auswahl dieser Subjekte beruht,
die ihnen am nächsten stehen. Insofern nämlich mit der
Idee der bürgergesellschaftlichen Engagiertheit exakt das
Prinzip gefasst sein will, nach dem die
bürgerlich-marktwirtschaftlichen Demokratien zum höchsten
Stadium ihrer Perfektibilität vorstoßen bzw. dort schon
angelangt sind, erklären sich diese Denker mit ihrem
Ideal schon zu eindeutig parteilichen Anwälten
der fälligen Weltverbesserung: Etwas Schöneres als die
Realinszenierung der Vorstellung
, mit der
ihnen das staatsbürgerliche Leben in ihrer
Demokratie so überaus schätzenswert erscheint, können sie
sich auch für den Rest der Welt einfach nicht vorstellen!
Wenn etwas, dann fehlt dem nur eines: Genau das
bürgergesellschaftliche Ensemble, mit dem sie die
demokratischen Mutterländer des Imperialismus mitsamt
ihren Institutionen vom Geld bis zur Friedhofsordnung zu
absolut herrschaftsfreien Räumen
zu verfremden
belieben, in denen alle am Wohle aller wirken. Sicher: In
ihren eigenen Ländern mag für ihren Geschmack in Sachen
‚Zivilgesellschaft‘ auch nicht immer und überall alles
zum Besten bestellt sein. Im Prinzip aber ist es
das eben schon, und das ist die Pointe dieser Apologie,
mit der sie nicht nur ihre demokratische Heimat zum El
Dorado der bürgerlichen Freiheit verfabeln, sondern das
auch noch in alle Welt hinaus exportiert sehen wollen:
Wie die Demokratie in ihrem Inneren im Grunde stets der
vorgestellten Idealität von
gesamtgesellschaftlich-herrschaftlicher Sittlichkeit
entspricht
, die sie in ihr entdeckt haben, so kann
auch der Fortschritt der Menschheit außerhalb der
westlichen Wiege aller Zivilisation nur darin bestehen,
derselben Idealität zu entsprechen
. Oder,
um den Zusammenhang von verkehrter Abstraktion und
Parteilichkeit im Denken anders auszudrücken: Je
weltfremder die Teleologie ist, die man in die Demokratie
hineinlegt, desto grundsätzlicher fällt nicht nur deren
Affirmation, sondern auch noch die eines ganzen
imperialistischen Weltzustandes mit aus.
Doch bis es so weit ist, dass die Welt auch am
westlich-demokratischen Wesen genesen kann, gibt es auch
da noch zu tun für die Fans des zivilgesellschaftlichen
Fortschritts, die es – wie daheim – beileibe nicht bei
einer nur theoretischen Zuständigkeitserklärung für das
Glück der Menschheit bewenden lassen wollen. Und wie die
mannigfachen Notlagen des bürgerlichen Lebens im Inneren
ihrer demokratischen Nationen, so ist für sie auch der
Zustand der globalisierten Weltwirtschaft wie eigens dazu
geschaffen, mit Dokumentationen ihrer
praktischen Engagiertheit der
‚Zivilgesellschaft‘ zum Durchbruch zu verhelfen. In
diesem Sinne erfreuen sich schon einmal die Maßnahmen
einer kleinen Umdeutung, welche die Ministerien „für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ in
Deutschland und anderswo im Rahmen ihrer
„Entwicklungspolitik“ für angebracht halten. Die sperren
ja auch nach dem „Scheitern“ des Projektes namens
‚Entwicklung‘ nicht einfach zu, überlassen auch ‚failed
states‘ keineswegs sich selbst, sondern stehen ihnen mit
„Hilfsprogrammen“ zur Seite: Sie wenden sich, an der
örtlichen Staatsautorität bzw. ihren Resten vorbei,
unmittelbar an Dorfgemeinschaften, lokale Vereine oder
Genossenschaften oder an vor Ort schon tätige karitative
ausländische Nichtregierungsorganisationen als
„Subunternehmer“, wenn sie im Zuge ihrer praktizierten
Nächstenliebe ein paar Dieselmotoren oder Impfampullen
springen lassen – und da macht es bei den Freunden des
bürgergesellschaftlichen Fortschritts ‚Klick!‘.
Schlagartig erkennen sie auch in dieser politischen
Kultur des Elends die hoffnungsvolle
zivilgesellschaftliche Perspektive
wieder, die sie
auch schon für die Notleidenden daheim geistig
bereitgestellt haben. Einwände, mit Initiativen für eine
Hilfe zur Selbsthilfe
– Hacken und Brunnenbohrung
inklusive – doch nur in absurd-lächerlicher Manier an
Symptomen herumzudoktern, die der erfolgreiche Gang des
imperialistischen Weltgeschäfts bei seinen Opfern
hinterlässt, halten sie für absurd: Sie gehen
davon aus, mit dieser Sorte basisnaher Betreuung
absoluter Mittellosigkeit die Substanz aller Übel zu
kurieren, an denen die Welt laboriert. Die letzten
Überreste einer familiären oder stammesmäßigen
Notorganisation himmeln sie allen Ernstes als ersten
Schritt hin zu einer besseren staatlichen Welt an, und
kommen sich überhaupt nicht zynisch dabei vor, wenn sie
Solidargemeinschaften von Siechen und Hungerleidern als
Urform des zivilgesellschaftlichen Miteinander
anlachen, von dem sie träumen, und entsprechend machen
sie weiter: Dort, wo ansprechbare Regierungen noch
vorzufinden sind, werden diese dazu gedrängt, sich im
Sinne ihres Idealbildes von ‚Miteinander‘ möglichst
selbst aus dem Wege zu räumen,
„die Lokalbehörden sowie die Zivilgesellschaft schon an der Planung von Entwicklungsvorhaben zu beteiligen und durch die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft eine dezentralisierte Zusammenarbeit zu forcieren.“ (J. Bossuyt, ebd)
Den betroffenen havarierten Staatswesen irgendwelche Hoffnungen auf eine weitere „Förderung“ zu machen, hat man damit selbstverständlich nicht vor. Dieser etwas „andere Ansatz“ der Entwicklungspolitik hat ein etwas anders gelagertes Ersatzprogramm im Auge:
„Erstens ist das Konzept der dezentralisierten Zusammenarbeit nicht so sehr ein neues Förderinstrument und keine weitere Kreditlinie … als vielmehr ein anderer politischer Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit… Die EU versucht so, mit Mitteln der Entwicklungspolitik Demokratisierungsprozesse anzustoßen“ (J. Bossuyt, ebd.),
und wenn die EU das schon tut, wissen auch die Freunde
des zivilgesellschaftlichen Fortschritts, dass ihre Sache
gut unterwegs ist. So firmieren die Reste
nichtstaatlicher Organisiertheit in südlichen
Katastrophenstaaten, die als Ersatzadressaten
internationaler Sozialhilfe fungieren, mit ihrer ideellen
Ernennung zur ‚Zivilgesellschaft‘ als Hoffnungsträger der
imperialistisch verwüsteten Staatenwelt. All denen, die
irgendwie den Zerfall ihrer laut UN-Staatenverzeichnis
zuständigen regionalen Gewaltorganisation überlebt haben,
kommt die Bestimmung zu, die etwas abseitigen Bedürfnisse
demokratisch-westlicher Sozialromantiker zu bedienen –
und von unten
in das gescheiterte
Gemeinwesen
die Formen einer neuen demokratischen
Machtausübung hinein zu tragen. An diesen
Demokratisierungsprozessen
sollen Afrikas
Elendsregionen genesen, für Staaten, denen man die
Entwicklungshilfe zusammenkürzt, neue Kreditlinien
verweigert und nicht einmal mehr das Geld für einen
Dorfbrunnen oder eine Impfaktion in die Hand geben will,
soll das Hirngespinst einer Demokratisierung
auf
zivilgesellschaftlicher Grundlage
eine Art neue
Ressource werden. Und dadurch, dass man NGOs von außen
die Organisation der Armenpflege mit westlichen Almosen
in Zusammenarbeit mit Privatvereinen im Inneren abwickeln
lässt und sie damit ausdrücklich zum politischen Akteur
namens ‚Zivilgesellschaft‘ ernennt, sollen diese Staaten
auch noch stabiler
werden: Dadurch, dass man den
konkurrierenden Mächtigen im Lande eine vom westlichen
Ausland unterstützte und ins Recht gesetzte Konkurrenz im
Inneren vor die Nase setzt, die die demokratische Basis
ohnehin bedrängter Machthaber und zugleich ihr Gegenpart,
Kontrolleur und Anstoßgeber für die fällige Läuterung von
korrupten
Regenten sein soll!
In gleichem Sinne erstrecken diese Graswurzel-Theoretiker
der demokratisch-zivilgesellschaftlichen Staatenbildung
ihre ideelle Zuständigkeit für den Fortschritt der
Freiheit auf den Rest des Globus und sind – dies
zumindest – stets darüber im Bilde, wie und von wem und
vor allem gegen wen sich für den engagiert
gehört.
Freunde der Zivilgesellschaft sind es, die die zweite
Säule der deutsch-russischen Beziehungen
abgeben und
den „Petersburger Dialog“ bevölkern, ein Forum, das
wichtige Repräsentanten aus allen Sparten der
Zivilgesellschaft beider Staaten zu Kontakten und
freimütigen Gesprächen zusammenführen soll
(Stiftung Wissenschaft und Politik,
SWP-aktuell, März 02). Da dürfen sie dann
freimütig die demokratisch-zivilisatorische Legitimation
der russischen Politik nach Strich und Faden durchprüfen
und am Umgang mit Menschenrechtsgruppen,
Tschetschenienkriegs-Kritikern, Frauengruppen, Umwelt-
und Verbraucherschützern ermitteln, wie weit der Weg
vom autoritären innenpolitischen Kurs
(FAZ, 10.4.02) zur Zivilgesellschaft in
Russland noch ist. Dabei finden sich freilich nicht nur
in Russland beklagenswerte Zustände: Da fehlt es ihrem
Verständnis nach afghanischen Stammeskriegern an
sittlich-staatsbürgerlicher Reife, die sie sich
schnellstmöglich aneignen sollten, um aus ihrem
großflächig zwar nicht terroristen-, aber
lebensmittelfrei gebombten Land endlich einen Ort
zivilgesellschaftlicher
Ruhe und Ordnung zu
machen; kolumbianischen Para-Militärs und Guerillas wird
die Übernahme zivilgesellschaftlicher Standards
zur Konfliktbewältigung in ihrem heillosen Land
nahe gelegt, damit sie endlich ihren jahrzehntelangen
Bürgerkrieg beenden könnten; und den Angolanern wird nach
dem x-ten Friedensschluss mit den einst vom Westen
gesponsorten Killern der UNITA mitten in einer
Hungerkatastrophe empfohlen, jetzt aber endlich eine
offene Zivilgesellschaft
(ein
EU-Sprecher, 5.4.02, euronews) zu gründen.
„Offene Zivilgesellschaft“: Der aktuelle Berufungstitel für das Recht auf weltweite imperialistische Einmischung
Der Anspruch, mit einer Kombination von grenzenlosem
Wohlwollen gegenüber den Opfern des Imperialismus,
absoluter Nicht-Kritik an dessen tätigen Subjekten und
gnadenloser Fundamentalkritik an allen Herrschern, die
das eigene Ideal untergraben, die Welt aufzumischen, wäre
ein einziger Witz – hätte er nicht sein Vorbild in
wirklichen Mächten, die auf der Welt zugange sind und die
das Stichwort, mit dem er sich vorträgt, auch wunderbar
für ihre Zwecke verwenden können. Was den
idealistischen Wächtern der imperialistischen
Zivilisation ganz lässig von der Hand geht, wenn sie mit
ihrer Forderung nach einer weltweiten
‚Bürgergesellschaft‘ das abstrakte Idealbild überall
friedfertig funktionierender Gemeinwesen als Erziehungs-
und Entwicklungsziel auf die disparatesten Normal- und
Katastrophenfälle der Weltpolitik übertragen: Das hat
seine höchst reale politische Grundlage in dem
Selbstverständnis, mit dem einige wenige imperialistische
Nationen davon ausgehen, dass alle anderen ihnen
gegenüber ohnehin weisungsgebunden sind. Und wo die
Moralisten des zivilgesellschaftlichen Lebens bei ihrer
Durchmusterung der Staatenwelt an allem, was sie
vorfinden, stets nur das eine, nämlich deren grundlegend
mangelhafte Verfassung in sittlicher Hinsicht entdecken:
Da haben die Realisten der imperialistischen Politik in
dieser Entdeckung einen wunderbaren Titel zur
Rechtfertigung für alles, was sie im Umgang mit diesen
defekten Gebilden betreiben oder unterlassen, was sie
ihnen an Rechten zubilligen können, verwehren müssen oder
einfach zumuten wollen. Und damit, dass sich neben
wissenschaftlichen Irrköpfen und sozial engagierten
Zynikern auch noch Staaten für die Erreichung
zivilgesellschaftlicher Standards
stark machen,
überschreitet dieser Sympathiebegriff
endgültig
die Ekelschwelle. Die wissen nämlich im Unterschied zu
ihrem moralisierenden staatsbürgerlichen Propagandatrupp,
der einfach alles über den einen Leisten seines Ideals
schlägt, bei der Handhabung dieses Begriffs
nicht
nur sehr fein zu differenzieren und ihn je nach dem
Interesse, das sie dabei im Auge haben, passend in
Anschlag zu bringen: Die Interessen, die sie so fein
vorzubringen verstehen, sind nicht besonders fein.
Denn selbstverständlich ist es einem deutschen Kanzler
scheißegal, wie die neuen Herren Russlands ihr Volk
kujonieren, und für das Elend von Tschetschenen hat er
gleichfalls nichts übrig. Wenn einer wie er das Wort von
der ‚Zivilgesellschaft‘ in den Mund nimmt – er soll bei
einem Treffen mit Putin im Herbst des Jahres 2000 …
dem Kremlherrn gesagt haben, man müsse ‚was zur
Zivilgesellschaft machen‘. Putin war sofort
einverstanden, obwohl er sich bis dahin um diesen Begriff
nicht gekümmert hatte
(FAZ,
10.4.02) –, dann trägt er mit dieser Kritik die
praktisch-politische Anspruchshaltung seiner Politik
gegenüber dem ehemaligen Hauptfeind vor. Der geht es um
die Kontrolle der alten Supermacht, deren
Restaurierung und Rückkehr zum Status einer
konsolidierten Macht von Weltrang möglichst verhindert,
zumindest behindert werden soll. Diese
Bemühungen werden ideologisch begleitet und unterstützt
von der Entdeckung, dass es sich bei der russischen
Bürgergesellschaft
um das fehlende
Lebensmittel der russischen Nation handeln soll.
Deswegen wird nach Kräften danach gesucht, wie
Putins Regime ausgiebig in einen internen demokratischen
Kleinkrieg mit den vielfältigen, zum puren
Machtinteresse
der Regierung querliegenden,
Sonderinteressen seiner Zivilgesellschaft
verstrickt werden könnte. Dafür muss man der, die es ja
noch gar nicht gibt, erst einmal auf die Beine helfen,
also Kritiker des Regimes aller Couleur unter eigenen
Einfluss bringen und die russische Regierung auf den
anerkennenden Umgang mit ihnen verpflichten. So kann die
ein wenig den fortwirkenden Verdacht ausräumen, in Sachen
Herrschafts- und Regierungstechnik weiterhin jenen
autoritären, altrussisch-kommunistischen Gewohnheiten
anzuhängen, in denen bekanntlich das Bürgerliche
zugunsten des Staatlichen so arg zu kurz kam.
Was den Umgang mit den Armenhäusern in Afrika und der
‚Dritten Welt‘ insgesamt betrifft, so hat sich die
Politik der maßgeblichen Gestalter der kapitalistischen
Weltordnung praktisch und ideologisch vom Programm der
„Entwicklung“ dieser Staaten verabschiedet. Für das, was
die dann noch sind und sein sollen, wird ihnen dann von
zuständiger Seite mit der Idee der ‚Zivilgesellschaft‘,
die sie dringend bräuchten, der passende Titel verpasst,
der Interesse und Wertorientierung imperialistischer
Drittweltpolitik aufs Glücklichste zusammenführt: Der
zynische Einfall, in hungernden afrikanischen Dörflern
den Citoyen zu entdecken, ihnen aufzugeben, eine neue
„Bürgergesellschaft“ und aus der einen gesunden neuen
Negerstaat zu gründen, ist das genau passende
Ersatzprojekt dafür, dass den Betreibern und Nutznießern
des kapitalistischen Weltgeschäfts der weitere Unterhalt
dieser Staaten zu kostspielig ist, die nur auf Rohstoffen
sitzen, die sie nicht brauchen, für die man selbst aber
dringende Verwendung hat. Dieses ‚Disengagement‘ bedeutet
freilich nicht, dass man diese Länder, soweit sie noch
auf politische Drohungen und die Erpressung sogar noch
mit Almosen reagieren, aus den Pflichten
kapitalistisch-demokratischer Sittlichkeit entlassen
würde. Man will eben immer noch etwas von ihnen, auch
wenn man kaum mehr etwas von ihnen wollen kann – neben
ihren stofflichen Reichtümern eine gültige Adresse für
zwischenstaatliche Mitteilungen beispielsweise; oder die
Rücknahme von Bevölkerungsteilen, die es nicht lassen
können, als Armutsflüchtlinge die kapitalistischen
Metropolen heim zu suchen; oder die Unterlassung von
Kriegen mit den Nachbarn, weil die beim Abtransport von
Natur- und Bodenschätzen oft recht lästig sind. Also –
und dafür steht hier ‚Zivilgesellschaft‘ – haben sie sich
auf die Ansprüche des imperialistischen Erziehungswerkes
in Sachen freedom & democracy einzulassen und ihre
Bemühungen unter Beweis zu stellen, erstens
‚governance‘ auszuüben und zweitens so, dass
„wir“ sie einigermaßen ‚good‘ finden können.
Manchmal schließen sich Politiker da auch ganz der
Leitidee ihrer intellektuellen Avantgarde an – und wollen
mit dem Begriff
die Politik eines Staates
buchstäblich in wörtlichem Sinn als Hindernis fürs
Zustandekommen von ‚Zivilgesellschaft‘ identifiziert
haben. Aus dem Verkehr zu ziehen hat sich dann zum
Beispiel der Regent Zimbabwes nicht deswegen, weil er dem
imperialistischen Zugriff auf die Reichtümer seines
Landes im Wege steht. Sondern selbstverständlich nur
deswegen, weil er mit seinen marodierenden Banden ein
Hohn auf die – Bürgergesellschaft ist!
Weil dieser politmoralische Dauertest auswärtige
Herrschaften als potentielle Störquellen für die eigenen
Anliegen – und umgekehrt die Einflussmöglichkeiten der
eigenen Politik auf deren Vorhaben – im Visier hat,
geraten mit dem anspruchsvolle Prüfkriterium
‚Zivilgesellschaft‘ prinzipiell alle Staaten
weltweit kritisch ins Blickfeld. Es bewährt sich als
universell brauchbarer Maßstab zur Beurteilung
fremdstaatlicher Positionen und Interessen, der, je nach
der Kompatibilität ausländischer Machenschaften mit
„unseren“ weltpolitischen Vorhaben, Aufschluss über die
zivilisatorische Entwicklungsstufe der Geprüften gibt. So
zum Beispiel auch über die der politischen Parteien des
EU-Anwärters Tschechien. Die weigern sich, die
Bene-Dekrete aufzuheben, auf deren Grundlage nach dem
Krieg in Tschechien lebende Deutsche und Ungarn
vertrieben und enteignet wurden; sie befürchten, mit der
Aufhebung der alten Rechtsgrundlage den damals
Vertriebenen heute neue und von Tschechien unerwünschte
Rechtspositionen einzuräumen, und verdächtigen die
tschechischen Zeitungen, die in der Hand deutscher
Verleger sind und das Thema offener und selbstkritisch
diskutieren
, der antitschechischen Kollaboration. Das
ist nicht in deutschem Interesse – und sie müssen sich
deshalb von einer großen deutschen Zeitung sagen lassen,
dass offenbar der zivilgesellschaftliche Wertekanon
den Prager Parteien noch ziemlich fremd
ist
(SZ, 25.4.02). Es steht
nämlich tschechischen Politikern – in ihrer
nationalistischen Schlichtheit
– und ihren
verschwörungssüchtigen Landsleuten
nicht zu,
deutsche Politik des Revisionismus
zu
verdächtigen, geschweige denn, dass Deutschland
tschechische Journalisten als Lohnlakaien
(ebd.) zur Geltendmachung
seiner Ansprüche gegen Tschechien nötig hätte. Die
Prager Parteien
werden also in der EU und auf
ihrem Weg dorthin noch einiges zu lernen haben, in Sachen
zivilgesellschaftlicher Wertekanon
, und es ist
selbstverständlich Aufgabe der Deutschen, ihnen das dazu
Nötige beizubringen.
Aber auch der Nation gegenüber, die sich politische
Lektionen von Seiten der Europäer und der Deutschen im
Speziellen nicht gefallen lässt, will man – bei allem
Respekt – doch gesagt haben, worauf es ankommt: Die
europäische Zivilgesellschaft
hält den Ansatz
der Amerikaner, alle Probleme der Welt auf den Kampf
gegen den Terror zu reduzieren
, für absolut und
simplizistisch
(der französische
Ex-Außenminister Védrine). Ein dermaßen auf das
Militärische verengter Sicherheitsbegriff
ist
jedenfalls nicht die Art und Weise, wie wir Politik
anlegen
(Außenminister
Fischer). Der in solchen Sprüchen zum Ausdruck
kommende europäische „Ansatz“ zur Lösung der Weltprobleme
ist einerseits anmaßend und von der üblichen
imperialistischen Großspurigkeit: Dass man für alle
Probleme der Welt
mitzuständig sei und dafür die
Politik anzulegen
habe, ist der selbstverständliche
Ausgangspunkt. Andererseits drückt die Redeweise die
europäische Frustration gegenüber dem
militärisch verengtem Sicherheitsbegriff
der USA
aus: Den denunziert man ja gerade deswegen, weil die
eigenen Machtmittel in den entscheidenden Fragen der
Weltordnung eben nur für die Praktizierung eines
zivilgesellschaftlich erweiterten
Sicherheitsbegriffs
reichen. Deshalb kann Europa
gegen die amerikanische „Verengung“ einfach nichts
ausrichten, obwohl die Amerikaner manche Berechnung, die
Deutschland und seine europäischen Kumpane in aller Welt
verfolgen, mit ihren absoluten und
simplizistischen
, radikalamerikanischen Maßstäben
versauen. Und das begründet drittens einen
ebenso verlogenen wie hochmoralischen Auftrag der
Europäer an sich selbst: Den Auftrag zur Lösung aus der
Abhängigkeit von der amerikanischen Militärmacht zu
Gunsten einer perspektivischen Gleichrangigkeit in
Militärfragen, um die Welt endlich mit einem nicht auf
Antiterrorkampf reduzierten
, simplizistischen
oder militärisch verengten
, sondern mit einem
alternativen, nämlich rundum zivilgesellschaftlich
angelegten
Imperialismus Europas zu beglücken.
*
So passt die weltfremde Spinnerei von Intellektuellen in
jeder Hinsicht wunderbar zu der Politik, deren
idealisierende Verfremdung diese sich auch gerne
angelegen sein lässt. Der Ansatz
engagierter
Staatsbürger, sich weltweit mit der Forderung nach
dezentralisierter Zusammenarbeit
und
Mobilisierung der Bürgergesellschaft
einzumischen,
um genehme politische Prozesse anzustoßen
, ist für
sich genommen nicht mehr als ein trostlos affirmativer
und entsprechend einfältiger Idealismus. Seinen
gedanklichen Urhebern sind sittliche Verantwortlichkeit
und praktische Zuständigkeit demokratischer
Herrschaftsprinzipien für den Rest der Welt so
selbstverständlich wie den Vertretern ihrer Staatsgewalt,
deren globale Drangsale sie sich auf ihre gelehrte Weise
zum Gegenstand ihrer theoretischen Sorge machen – eben
so, dass von denen absolut nichts mehr vorkommt. In der
Hand der wirklichen Machthaber und Gestalter der
internationalen Politik bewährt sich diese inhaltlich
bescheidene Ideenwelt als wertorientierte, ideelle
Begleitveranstaltung der weltweiten zwischenstaatlichen
Gewaltwirtschaft – und darüber verliert sie schon ein
wenig ihren luftigen Charakter. Da steht dann
demokratische Zivilgesellschaft
als Signum eines
imperialistischen Erziehungswerkes, und wo
diesem moralischen Postulat nicht entsprochen wird, taugt
die ‚Bürgergesellschaft‘ sehr gut als Maßstab eines
Verdikts, das sich mit wuchtigen Werten,
völkerrechtlichen Ansprüchen, diplomatischen Erpressungen
und – wenn nötig – auch mit „Präventivkriegen“ gegen
Mitglieder der Völkergemeinschaft wendet, die sich
weigern, die alternativlos gültigen Anstandsregeln
unserer „One World“ ohne nationalen Vorbehalt
anzuerkennen. Völker und Staaten, die immer wieder nicht
so funktionieren, wie es die Verwalter der Weltordnung
von ihnen erwarten, sollen sich dem jeweils gültigen
imperialistischen Oktroy fügen, auch und gerade dann,
wenn sie glauben, Grund zur „Unruhe“ zu haben. Wo – wie
auf dem Balkan – alte staatliche Klammern diverser
Völkerschaften im Zuge einer Neuordnung der Region von
außen zerschlagen werden; oder wo – wie in Afrika,
Südamerika und Asien – Staaten in Bürgerkriegen oder
„Schuldenkrisen“ die Grundlagen ihrer souveränen Macht
einbüßen: Da hat die herrschende politische Moralität der
Weltordnung in der ‚Zivilgesellschaft‘ den aktuellen
Titel, Besserung in praktischer Hinsicht anzumahnen.
Die Unordnung, die Gewalt und
die Bürgerkriege, die die maßgeblichen Mächte
des Imperialismus als unerwünscht, weil dysfunktional für
ihre Ordnungsgesichtspunkte bewerten, werden als Verstöße
gegen den verbindlichen Maßstab eines sittlichen
Zusammenlebens von Volk und Führung gebrandmarkt, und die
Angesprochenen wissen damit, was sie zu tun haben: Als
Störer der imperialistischen Ordnung sollen sie
ablassen von einem politischen Benehmen, das einer
eigenen nationalen Berechnung entstammt und eben
deswegen – so sehen das die politischen Herren der Welt –
zwangsläufig zu Unordnung, Unruhe und Konflikten mit der
überlegenen Räson der Weltordner führen muss. Wie eine
schlechte Gewohnheit sollen sie das Laster eines
„falschen“ Nationalismus ablegen, nicht länger auf dem
eingebildeten Recht eines „eigenen staatlichen Weges“
bestehen, sich läutern und selbst überwinden, um in den
Schoß der sittlichen Weltgemeinschaft heim zu finden –
wie ein kolonisierter Heide, der von seinen Naturgöttern
ablässt, in den der Mutter Kirche.
Dieses wunderbare Zusammenspiel mit der politischen
Moralität, auf die sich Staatenlenker auch dann noch –
und dann erst recht – berufen, wenn sie in den Krieg
ziehen, beschert einem moralischen Spleen demokratischer
Wissenschaftler seine Karriere zum gewichtigen Pfeiler
des Zeitgeists, nach dessen Richtlinien die Beurteilung
der Politik nach Innen wie nach Außen vonstatten geht.
Und dort endlich angekommen, nivelliert der Begriff
Zivilgesellschaft
endgültig alle Unterschiede
zwischen denen, die ihn aus ziemlich unterschiedlichen
Gründen so sympathisch
finden: In dem
interessanten Streit, ob die irakische
Zivilgesellschaft
besser mit Krieg oder ohne Krieg
zustande kommen soll, könnten sich die zivilen Freunde
der ‚Zivilgesellschaft‘ von ihrem Außenminister
mindestens so viele bedenkenswerte „Aspekte“ abholen wie
der von ihnen. Und alle zusammen hätten sich im
gesprächsdemokratischen Diskurs auch mit Gelehrten und
politischen Praktikern aus den USA sehr viel zu sagen.