Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Im Gefolge einer Reihe von Wahlniederlagen der Regierungsparteien:
Der demokratische Dialog zwischen Wählern und Gewählten kommt voran

Die Wahlniederlagen bei SPD und Grünen nehmen die Regierenden nicht als Ausdruck des verständlichen Ärgers der Regierten über die Zumutungen, sondern als Ausdruck der Dummheit des wählenden Volkes, das noch nicht verstanden hat, dass es zur durchgesetzten Politik keine Alternative gibt. Deshalb müsse man mehr Anstrengung unternehmen, um zu vermitteln, dass SPD / Grüne immer noch soziale Gefühle, besonders für die arbeitenden Menschen, hegen. Und dem Wähler unterstellt man am besten, er habe eigentlich nur die Uneinheitlichkeit der Partei kritisiert.

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Im Gefolge einer Reihe von Wahlniederlagen der Regierungsparteien:
Der demokratische Dialog zwischen Wählern und Gewählten kommt voran

Ein Jahr nach ihrem „grandiosen Sieg“ haben SPD und Grüne beim Wahlvolk ihren Kredit verspielt. Den „Denkzetteln“ bei den Hessen- und Europawahlen im Frühjahr und Sommer folgt ein wahres „Herbstdesaster“. In einer Serie von Landtags-und Kommunalwahlen beziehen die Regierungsparteien eine „verheerende“ Niederlage nach der anderen. Im Saarland erobert die CDU die Macht; in NRW, der „linken Herzkammer“ der Sozialdemokratie, holt sie sich die traditionellen Hochburgen der Sozis; im Osten gibt es erdrutschartige Verluste für die SPD, die in Thüringen und Sachsen mit weniger als 20% bzw. gerade mal 10% nur noch „dritte Kraft“ ist – hinter der PDS; in Berlin schließlich kann sich die SPD nicht einmal auf dem niedrigsten Stand seit 50 Jahren „behaupten“, auf den sie bereits bei den letzten Wahlen abgerutscht war; im Osten der Stadt gewinnt die PDS weiter hinzu. Und der grüne Juniorpartner in der Bundesregierung wird, wo man auch hinsieht, zur Splitterpartei degradiert.

In der SPD-Zentrale

gibt man sich gar nicht erst die Mühe, landespolitische Aspekte geltend zu machen, um die Bedeutung des Wählervotums herunterzuspielen. Selbstkritik sei wohl nötig, lautet die Lehre, die man aus der Wählerwanderung zur Opposition bzw. dem stummen Protest der Nichtwähler zieht – und zwar eine, die die Frage beantwortet, warum einem der Wähler die Zustimmung verweigert, die einem ja wohl zusteht: Das Wahlergebnis sei unsere eigene Schuld, wenn man nicht vermitteln kann, was man tut.

Ein Vermittlungsproblem

Bereitwillig übernehmen führende Sozialdemokraten die Verantwortung für das Zerwürfnis, das zwischen dem Wähler und ihrer Partei entstanden ist; und gehen dabei selbstverständlich davon aus, dass es für dieses Zerwürfnis in der Politik, die sie treiben, nie und nimmer berechtigte, geschweige denn künftig irgendwie zu berücksichtigende Gründe geben kann. Man gesteht vielmehr das Versäumnis ein, das stimmberechtigte Volk rechtzeitig und ausreichend in seiner Urteilsbildung angeleitet zu haben, und quittiert auf diese Weise dessen Votum postwendend mit der Auskunft, es dokumentiere mit ihm nur sein mangelndes Verständnis dafür, wie richtig die Regierung mit dem liegt, was sie tut. Erleichtert darf der Wähler zur Kenntnis nehmen, dass ihm die mit Regierungskompetenz ausgestatteten Sozis aus seiner wie auch immer motivierten, sachlich jedenfalls völlig ungerechtfertigten Entscheidung keinen Vorwurf machen, und sie sich künftig bessern wollen: Wir müssen uns mehr Zeit nehmen für die Bevölkerung.

Es geht daher nicht nur sowieso demokratisch voll und ganz in Ordnung, wenn diejenigen, die der Wähler neulich für die nächsten Jahre zur Ausübung der Staatsgewalt ermächtigt hat, stur an ihrer Politik festhalten – Wir werden den Kurs durchhalten – und der Kanzler persönlich erklärt, dass er die Führung der Staatsgeschäfte ja wohl nicht vom launischen Wahlverhalten der Bürger und unterschiedlichen Befindlichkeiten in den diversen Bundesländern abhängig machen kann:

„Alle 90 Tage sind in den nächsten drei Jahren irgendwelche Wahlen. Wenn die Bundespolitik darauf Rücksicht nehmen wollte, müsstest du als Kanzler deinen Hut nehmen. So kannst du nicht regieren.“

Ganz im Sinne der versprochenen Bereinigung des eingestandenermaßen selbstverschuldeten Verständigungsproblems sind derartige Mitteilungen nämlich schon recht brauchbare Argumente zur Vermittlung der beim Urnengang künftig zu beherzigenden Einsicht. Schließlich geht es bei der zugesagten Unterstützung der politischen Willensbildung mitnichten darum, dem Wähler lang und breit auseinanderzusetzen, warum die Regierung dies und jenes beschlossen hat und für die Zukunft projektiert. Er soll die Notwendigkeiten, die sie ihm serviert, akzeptieren, und dazu reicht es völlig, wenn er einsieht, dass es nicht anders geht. Zur Vermittlung dieses Lernziels gibt es in der Tat kein besseres Argument, als ihm eben das dreimal täglich einzubleuen: Es gibt zu unserem Sparkurs keine, aber auch gar keine Alternative. Dabei hat man ihm dann noch das entsprechende Erscheinungsbild zu bieten: als einer Partei, in der eben nicht alle durcheinanderreden, als gäbe es doch alternative Wege zu beschreiten, sondern sich wie ein Mann um ihren Führer scharen – und das wär’s dann mit der Vermittlung.

Doch was macht so eine Partei, wenn sie trotz allen Hinredens an den Wähler eine Niederlage nach der anderen einfährt und ihr im Osten der Republik eine Konkurrenz erwächst, die auf ‚Soziale Gerechtigkeit‘ setzt; wenn es wegen dieser Konkurrenzlage für ihre Führung immer schwieriger wird, Geschlossenheit zu organisieren und in den eigenen Reihen Zweifel an der Linie laut werden; wenn dann auch noch die Öffentlichkeit darauf einsteigt mit dem Befund, der SPD sei es nicht gelungen, Zeichen zu setzen, die den Menschen den Glauben bewahren, dass es bei ihrer Spar- und Steuerpolitik einigermaßen sozial gerecht zugeht? – Dann geht die Parteiführung auf den Antrag auf mehr sozialdemokratische Heuchelei beim Regieren ein und erfindet eine neue Spirale im demokratischen Diskurs: Im Hinblick auf die Politik, die man macht, besteht man ausdrücklich unvermindert weiterhin auf der Parteidoktrin ‚keine Alternative‘, aber was einen selber, so von Mensch zu Mensch betrifft, ist man gerne bereit, mehr für den Schein zu tun, man wäre eben doch anders als die anderen, irgendwie sozialer.

Die falschen Symbole waren es

Nachdem die Serie der Niederlagen nicht abreißen will und in Ostdeutschland die PDS das Rennen vor der SPD macht, meldet sich in der seit längerem wieder einmal die Basis zu Wort, um ihrer tiefen Empörung über das Auftreten des Kanzlers Ausdruck zu verleihen: Wie kann ein Kanzler rigoroses Sparen fordern, der mit 60-Mark-Zigarren posiert und alle Welt wissen läßt, wie teuer seine Anzüge sind. Bis dahin konnte er das jedenfalls. Und zwar mit Zustimmung besagter Basis, die diesen Kanzler nach dem Abtreten von Lafontaine zu ihrem Parteivorsitzenden gewählt hatte. Bis neulich war man ja auch noch ziemlich einverstanden damit, dass sich die Partei vom Maßstab des Sozialen freimacht und den Standpunkt verbreitet, die Position einer Arbeiterpartei, ‚von den Reichen nehmen, um den Armen zu geben‘, könne nicht länger die Politik unserer modernen Gesellschaft sein. Man hatte einfach nichts mehr dafür übrig, die eigene Politik ständig schamhaft mit dem sozialdemokratisch-notorischen Zusatz ‚leider notwendig‘ zu verkaufen, und wollte ein neues Bild von sich in die Welt setzen: als einer modernen Partei, die selbstbewusst herausstellt, dass es keine Schande ist, die Staatsnotwendigkeiten einer kapitalistischen Nation durchzusetzen und die dafür nötigen Opfer zu verordnen. Genau richtig war da ein Kanzler an der Spitze, der keine Gelegenheit ausließ, um zu demonstrieren, dass er es mit den wirklich wichtigen Leuten in der Nation kann, den Wirtschaftsbossen…

Und jetzt? Jetzt leuchtet plötzlich nicht nur der Parteibasis ein, dass man so nicht mehr auftreten kann:

„Um seiner über den demonstrativen Luxus-Kanzler erbosten Basis ein Zeichen zu geben, verzichtet er – zumindest öffentlich – vergangene Woche auf seinen Rauchgenuss… Für Schröders Berater ist dieser symbolische Rückzug das bisher ernsthafteste Signal ihres Chefs, auf seine Kritiker einzugehen: ‚Der arbeitet wirklich an sich.‘“

Da die ‚Kritiker‘ alles andere als ein Abrücken vom Sparkurs der Regierung gefordert haben, vielmehr beim Verordnen der aus staatshaushälterischen Gründen fälligen schmerzhaften Einschnitte auf der Ebene der Zeichen und Symbole mehr demonstratives Einfühlungsvermögen in die Seele der sozial Gedeckelten und vor allem: mehr wirkliches Einfühlungsvermögen in die Konkurrenzlage der Partei verlangt haben, sind sie mit der denkbar albernsten Demonstration von Ich habe verstanden bestens bedient. Dazu noch ein zackiger Leitantrag für den nächsten Parteitag mit dem Inhalt: Unsere Grundwerte haben Bestand, und die Partei steht wieder wie ein Mann hinter ihrem Führer. Gott sei Dank konnte die Gefahr eines schier undenkbaren Verrats an den sozialdemokratischen Werten gerade noch einmal zum tausendsten Mal in der 100-jährigen Geschichte der Sozialdemokratie gebannt werden!

Doch reicht so eine öffentlich, also für die Öffentlichkeit inszenierte Versöhnung zwischen Basis und Führung im Geiste der wahren Werte fürs Volk, das zunehmend den falschen Sozialdemokraten auf den Leim zu gehen droht?

„Das ist ja das Dramatische, dass die PDS der SPD das Thema soziale Gerechtigkeit und die Emotionen, die sich mit diesem Thema verbinden, weggenommen hat.“

Besser, man setzt noch eins drauf und erinnert es erstens pausenlos daran, dass es niemand anders als die sozialdemokratisch geführte Regierung war, die – beim Kindergeld, bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und bei der Steuerentlastung kleiner Einkommen – gleich zum Einstieg ihrer Regentschaft 3 soziale Großtaten vollbracht hat, die aber auch ein für allemal genug zu sein haben für den Beweis ihres sozialen Charakters; und zweitens sagen wir ihm am laufenden Band etwa folgendes:

„Wenn man als Sozialdemokrat aus bitter notwendigen Gründen Sparpolitik macht, die auch den eigenen Anhängern einiges zumutet, dann geht das nur, wenn man zugleich zeigt: Ich habe soziales Gefühl, ich habe Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit. Solche Signale müssen wir aussenden.“

Das geht ja vielleicht ans Herz. Da wird nicht nur regiert, dass die Schwarte kracht, sondern diejenigen, die das tun, zeigen denen, die das trifft, dass sie – ja was eigentlich? Sich aufs Heucheln verstehen? Aber sagt man dann, dass man zwecks Herstellung eigener Glaubwürdigkeit an den Adressaten die passenden Signale aussenden muß? Offenbar schon, und richtig verstanden ist dergleichen ja auch sowas wie der Beweis eines fürsorglichen Standpunkts, hat doch der Wähler, der seiner Regierung einen Denkzettel verpasst, anschließend ein Recht auf eine vereinnahmende Ansprache von oben. Ein Versuch lohnt sich jedenfalls, schließlich ist ein Kanzler nicht irgendwer:

„Schröder sprach wiederholt von einer Grundorientierung auf arbeitende Menschen, auf diejenigen hin, die in Fabrikhallen und Werkhallen ihre Arbeit verrichteten.“

Auch bei den Grünen

hat man aus den ersten Wahlniederlagen im Westen der Republik erst einmal die Konsequenz gezogen, dass man den wählenden Zeitgenossen endlich und endgültig den Irrtum austreiben muss, Wahlen wären so etwas wie Gelegenheiten für sie, Anträge auf eine andere Politik zu stellen:

„Der größte Fehler wäre, jetzt da zu korrigieren. Es liegt nicht an den Inhalten, die Substanz unserer Politik ist alternativlos. Fehler seien aber bei der Vermittlung und in der Kommunikation gemacht worden.“

Eingedenk dessen, dass man als Partei groß geworden ist, die für sich immer mit dem Markenschild ‚alternative Politik‘ geworben und sich viel auf ihre basisdemokratische Streitkultur zugutegehalten hat, nimmt man sich bei den Grünen die handwerklichen Fehler, die man bei der Vermittlung begangen haben will, freilich ganz besonders zu Herzen.

Ein Schulungsproblem

Entnervt gibt ihr Chef zu Protokoll, dass er es mit seiner Partei einfach nicht mehr aushält: Da ist man nun endlich an der Macht, darf mit der Wirtschaft über die Modalitäten des Fortbetriebs von Atomkraftwerken verhandeln, Gesetze zur Deckelung der Volksgesundheit ausarbeiten und in der NATO Bomben auf Belgrad mitbeschließen, und anstatt durch ein geschlossenes Auftreten nach außen glaubwürdig rüberzubringen, dass es zu dieser Politik keine Alternative gibt, ist die Partei im Kopf immer noch in der Opposition. Was er nämlich schon lange begriffen hat, haben einige Leute in seiner Partei immer noch nicht begriffen: dass Opposition nichts mit einem abweichenden Standpunkt zur Politik zu tun hat, sondern eine Rolle ist, die man annimmt, um an die Macht zu kommen, und ablegt, sobald man die ausübt. Diesen Leuten empfiehlt er dringend eine Schulung – vermutlich zum Thema ‚Wie stelle ich mich geschlossen hinter meine Führung?‘.

Doch will er gar nicht nur sie erreichen. Sein Lamento über sie ist unüberhörbar für die Ohren der Öffentlichkeit und damit des wahlberechtigten Publikums bestimmt. Ohne sich von dessen für seine Partei ziemlich vernichtenden Votum beirren zu lassen, spricht er den Wähler unvermittelt an als einen, dem ja wohl auch an Wahlerfolgen der grünen Partei gelegen sein müsste, um sich auf dieser Basis mit ihm über den Inhalt der erteilten Denkzettel zu einigen: Dass seine Partei im ersten Jahr ihrer Regierungszeit wirklich ein unmögliches Erscheinungsbild abgeliefert hat, gibt er gerne zu. Sich darauf zu verständigen, hat für ihn und seinesgleichen nämlich den Vorteil, dass man sich mit dem Wahlvolk dann über die Regierung und den grünen Beitrag zu ihr ohne jegliche Bezugnahme auf die Politik, die man ins Werk setzt, nur noch in den Kategorien einer zu perfektionierenden Wählervereinnahmung zu unterhalten braucht.

Wie ernsthaft man auf diesem Feld an sich arbeiten will, wird dem Wahlbürger, der eben das honorieren soll, von der grünen Parteiführung denn auch gerne und absolut glaubhaft demonstriert. Sie führt ihn regelrecht ein in ihr schäbiges Handwerk. Was vergibt sich eine Regierungspartei eigentlich, wenn die Politik, die sie macht, zum Gegenstand interner Auseinandersetzungen wird, und sie darüber gelegentlich ein uneinheitliches Bild darbietet? Antwort aus berufenem Munde: Dieser doch sehr dissonante Chor, den man bei allem und jedem hat, habe die Wähler verunsichert und Begehrlichkeiten geweckt. Um die Herstellung der Sicherheit beim Wähler geht es also, dass Begehrlichkeiten welcher Art auch immer von seiner Seite jedenfalls fehl am Platze sind. Diese Sicherheit wird verspielt, wenn eine Führung es zulässt, dass ihre Beschlussfassungen in Auseinandersetzungen hineingezogen werden, und der Wähler darüber den Eindruck gewinnt, die Regierungsgeschäfte ließen sich womöglich doch irgendwie sozialer, ökologischer, sonstwie menschenfreundlicher oder auch nur besser abwickeln – ein unverzeihlicher Fehler, auf dem dann bekanntlich die Opposition ihr Süppchen kocht…

Dass sie diesen Fehler eingesehen, also gelernt haben, dass das überzeugendste Argument für die Alternativlosigkeit der Regierungspolitik immer noch in einer Führung besteht, die sie praktisch herstellt, indem sie sich mit ihren Beschlüssen entschlossen durchsetzt, wollen die Grünen offenbar demnächst vom Wähler honoriert bekommen. Jedenfalls gibt sich ihre Führung alle Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass sie nun weiß, wie man ihm nach allen Regeln demokratischer Überzeugungsarbeit wahrhaft professionell kommt: Die Politik der Regierung sei richtig, nur hätten alle zu ihr stehen müssen. Und damit das künftig auch klappt, fasst man Maßnahmen ins Auge, um Geschlossenheit in die Partei hineinzuorganisieren: Wer die unseligen Strömungsdebatten beenden will, muss die Doppelspitze abschaffen, damit wir zu einer einheitlichen Führung kommen. Um Debatten in der Partei zu beenden, die es ja nun auch nicht wegen der Doppelspitze gibt, führt man nun also eine Debatte wegen der Doppelspitze. Schade wäre es für den Wähler nur, würde eine der debattierenden Doppelspitzen aus Sorge um das geschlossene Auftreten der Partei ernstmachen mit ihrer – selbstverständlich ebenfalls via Pressekonferenz verbreiteten – Androhung, dass sie über die Verfahren zur Herstellung von Geschlossenheit künftig nur mehr unter Ausschluss der Öffentlichkeit weiterdebattiert: Radcke zeigte sich unglücklich darüber, dass der Streit öffentlich ausgetragen wird.

Doch auch an den Grünen gehen die weiteren Niederlagen, die man im Osten des Landes kassiert, nicht spurlos vorüber. Man sieht sich auf den Status einer bloßen Westpartei festgelegt und ist zudem auch noch im westlichsten Bundesland aus dem Parlament gewählt worden; höchste Zeit, sich neu aufzustellen. Auch für die Grünen heißt das zuallererst: Keine Korrekturen an der Politik, Kurs halten – aber entschlossen nach einer neuen, Attraktivität versprechenden Identität suchen, mit der man sich in der Parteienkonkurrenz besser behaupten kann.

Ein Profilierungsproblem

Wo sich Zweck und Mittel in dieser Weise sortieren, sind Überlegungen der folgenden Art angesagt:

„Wenn wir darum konkurrieren, die bessere linke Partei zu sein, werden wir die Auseinandersetzung verlieren. Das kann die PDS besser, populistischer, demagogischer.“

Das sind halt so Einfälle: Auf diesem Feld gelingt uns die Demagogie nicht so gut, also wählen wir ein anderes. Vielleicht folgendes: Die Grünen müssen sich als linksliberale Partei inmitten der Gesellschaft verstehen. Was immer man sich unter ‚linksliberal‘ vorstellen soll: Darf man denn nachfragen, ob diejenigen, die sich da offensichtlich restlos dem Sachzwang ihres eigenen Parteierfolgsstrebens ausgeliefert wähnen, überhaupt linksliberal sein wollen? Oder gar sind? Grüne stellen sich solche Fragen jedenfalls nicht. Andere dagegen schon. Z.B. die, was für ihre Partei herausspringen könnte, wenn sie sich linksliberal präsentieren würde. Und unter diesem Gesichtspunkt erscheint ihnen die Kombination der zwei Begriffe, die obendrein schon andere besetzt haben, doch keine allzu gute Idee zu sein: Das ist ein schmales Segment. Vielleicht ist es ja doch günstiger, den alten Begriff aufzumöbeln, der den Vorteil hat, dass man ihn selber schon besetzt hat: Das Gremium soll das Profil schärfen. Dazu wolle man Themen wählen, die grüne Identität ausdrücken.

Doch dabei Vorsicht, keine Rückfälle in alte Zeiten! Deswegen noch einmal langsam und zum Mitschreiben, worauf es ankommt, wenn die Grünen eingedenk ihrer Konkurrenzlage heute mehr grüne Identität fordern:

„Man muß zwei Schritte unterscheiden: Da ist zum einen die klare Position der Partei, die gegebenenfalls auch radikal formuliert werden muß. Das andere ist aber, was davon umsetzbar ist. Schritt eins ist die klare Position. Schritt zwei das, was im Kompromiß mit dem Partner daraus wird. Im Regierungsalltag haben wir bisher nicht klar rübergebracht, dass sich unsere Position nicht auf das reduzieren läßt, was die Regierung macht.“

Die Ideale der Partei darf deren Gefolgschaft und soll der Rest der Menschheit nie mehr verwechseln mit einem Anspruch an die Politik, die man treibt. Letztere ist strikt zu trennen von den Titeln, unter denen sie gemacht wird. Weil da nichts durcheinander gebracht werden darf – und zum Beweis, dass man selbst da nichts mehr durcheinander bringt –, gehört heute zu einer erfolgversprechenden Selbstdarstellung die ausdrückliche Klarstellung, dass es bei der nur um die schönfärberischen Lügen der Partei geht, die als solche freilich ganz und gar unverzichtbar sind. Hinlänglich klargestellt haben die Grünen mittlerweile, dass die höheren Werte, auf die sie sich berufen, nicht dazu gedacht sind, mit ihnen der Politik ins Handwerk zu pfuschen. Und auf dieser Grundlage entwickeln sie analog zur SPD – nicht zuletzt zwecks Abgrenzung von ihrem Koalitionspartner – umso dringlicher das Bedürfnis der Pflege dieser Werte.

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Nachtrag 1: Die Öffentlichkeit sekundiert

Einer Regierungsmannschaft dadurch das Vertrauen zu entziehen, dass man es vorbehaltlos der nächstbesten politischen Konkurrenz schenkt oder demonstrativ daheim bleibt, wenn Urnengang angesagt ist – für solche politischen Willensbekundungen demokratischer Untertanen, die mit Kritik kaum zu verwechseln sind, hat die Öffentlichkeit grundsätzlich allemal Verständnis. Zumal dann, wenn sie dieses Verständnis aus eigenen Gesichtspunkten heraus aufbringen und als Inhalt des ansonsten ziemlich wortkargen Wählerurteils darlegen kann. Politische Vernunft bescheinigt sie dem Wahlvolk dann für die bescheuertsten Verstandesleistungen; z.B die Geduld zu verlieren, wenn sich von der Regierung angekündigte Gesetzesvorhaben – welchen Inhalts auch immer – hinziehen oder Streitereien in der Koalition – über was auch immer – nicht prompt durch ein Machtwort des Kanzlers beendet werden.

Im vorliegenden Fall allerdings wird die Öffentlichkeit in ihrer sprichwörtlichen Pressevielfalt den Verdacht nicht los, dass solche sturzvernünftigen Entscheidungsgründe zur Erklärung der erteilten Denkzettel nicht mehr ausreichen. Denn inzwischen ist sie der Auffassung, dass die Regierung für ihre Arbeit allenthalben gute Noten verdient. Eichels Sparprogramm – wer hätte gedacht, dass die Koalition nach ihrem dilettantischen Fehlstart mit Lafontaine so etwas Solides noch hinkriegt? Und der Spaßkanzler der ersten 100 Tage, er ist keineswegs mehr der Moderator eines rot-grünen Chaos, sondern an seiner Verantwortung – vor allem in den Tagen des Krieges! – gewachsen. Ja, wenn man es vom Ergebnis her betrachtet und aus der Optik des durch ihn letztlich ins Recht gesetzten Zeitgeistes, hat Schröder eine geradezu historische Leistung vollbracht: Er hat den Trug einer rot-grünen Reformperspektive zertrampelt (FAZ) – indem er konsequent auf all denen herumgetrampelt ist, denen eine Regierung immer erst im beschönigenden Lichte einer rot-grünen Reformperspektive als überzeugendes Angebot an die wählende Menschheit erscheinen wollte. Irgendwie von gestern der Wähler, der es nicht honoriert, wenn er von seinem Modernität und neue Ehrlichkeit verströmenden Kanzler nichts als eine kompetente Führung versprochen kriegt.

Jedenfalls hat die Öffentlichkeit, wo die Dinge so liegen, überhaupt kein Verständnis dafür, wenn der Wähler die erstbesten Gelegenheiten ergreift, um wieder zurück zur Union zu wechseln:

„Sehr rational ist dies nicht, denn abgesehen von einigen anbiedernden Tönen aus der zweiten Reihe, haben die führenden Unions-Politiker keinen Zweifel daran gelassen, dass sie den angeprangerten Regierungskurs in den Grundzügen der Wirtschafts- und Sozialpolitik fortsetzen würden, falls man sie dazu ermächtigte.“ (SZ)

Das Problem, der Wähler könnte eine politisch nicht opportune Mannschaft ermächtigen, hat die Öffentlichkeit dabei also nicht. Hämisch notiert sie, dass der Wähler keine Wahl hat: Hart für Wähler und Nichtwähler zugleich. Wie man’s auch macht, der Effekt bleibt derselbe. (FR) Wohin immer der Wähler also sein Kreuzchen künftig auch setzt – es wird ihm nichts helfen. (SZ) Sorgen macht ihr vielmehr, was eigentlich in den Köpfen von Stimmbürgern vor sich geht, die durch ihr Wahlverhalten zum Ausdruck bringen, dass sie einfach nicht kapieren wollen, dass sie keine Wahl haben. Liegt da nicht der Verdacht nahe, dass diese Mannschaft eine völlig verantwortungslose Einstellung hat; dass sie nur darauf aus ist, jede sich ihr bietende Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen, um sich etwas von den ihr von der Regierung auferlegten Opfern zu ersparen?

Wie dem auch sei: Dieser Einstellung muss schon im Ansatz ein Riegel vorgeschoben werden; so weit muss der demokratische Konsens zwischen Regierung und Opposition reichen! Keinerlei Verständnis hat die Öffentlichkeit daher, wenn man in der Opposition der Versuchung nicht widerstehen kann, die Anfälligkeit des Volks für Leute, die mit sozialen Versprechungen locken, aus durchsichtigen parteipolitischen Berechnungen für sich auszunutzen. Und auch wenn diese Gefahr bei der CDU nun wirklich nicht besteht: Warnen kann man angesichts gewisser anbiedernder Töne aus der zweiten Reihe gar nicht früh genug davor, die Unions-Christen könnten sich zu einer Opposition von links entschließen und den Anwalt der enttäuschten Hoffnungen der daheim gebliebenen SPD-Kundschaft spielen. Sie würden damit sich selbst keinen Gefallen tun:

„… die CDU als Heimat des Sozialen. Da tut sich nicht nur eine Glaubwürdigkeitslücke auf… Auch das Ergebnis könnte fatal sein: Die Union läge am Ende in den Ketten, aus denen sich die SPD gerade mühsam und qualvoll befreit.“ (SZ)

Sie haben das auch gar nicht nötig:

„Insgeheim ist man froh, dass die Sozialdemokraten sich die blutigen Köpfe holen bei einem Politikwechsel, den man selbst für nötig hält.“ (FAZ)

Und vor allem: Sie würden sich damit aus der nationalen Verantwortung stehlen, in der demokratische Parteien stehen. Die haben in ihrer Konkurrenz um die Macht gemeinsam Sorge dafür zu tragen, dass nicht am Ende – bloß weil Demokratie ist! – der falsche Eindruck entsteht, die wirtschaftspolitischen und imperialistischen Programmpunkte, die die Regierung unter dem Titel von lauter Sachnotwendigkeiten exekutiert und die Opposition genauso exekutieren würde, falls man sie ermächtigte, wären für das Volk mit einem Kreuz bei der Wahl doch irgendwie abweisbar.

Das bewegt schreibende Demokraten ziemlich, und sie machen sich so ihre freien Gedanken, wie man der darin enthaltenen Problemlage auf elegante Weise Herr werden könnte:

„Die paradoxe deutsche Gemütslage – Ja zu den Reformen, Nein zu den Maßnahmen – kann offenbar nur durch eine große Koalition überwunden werden: Dann entfällt für den Wähler die Fluchtmöglichkeit, sein Glück einfach bei der jeweils anderen Volkspartei zu suchen.“ (Spiegel)

Das Problem besteht offenbar darin, dass das Volk in der Demokratie eine – zugegebenermaßen trostlose – Möglichkeit vorfindet, ein Nein zu den Maßnahmen, die die Regierung zur Durchsetzung der nationalen Interessenlage beschließt, zum Ausdruck zu bringen. Und was tut es? Es ergreift sie glatt. Obwohl man ihm längst erfolgreich eingehämmert hat, dass Reformen sein müssen. Diese Möglichkeit müsste man ihm auch noch verbauen, damit es endgültig nicht mehr um die Einsicht herumkommt, dass für es kein Weg vorbeiführt an einem uneingeschränkten Ja zu allem, was ihm seine Staatsführung einbrockt.

Das sind so Wunschträume, wie Demokraten sie haben.

*

Nachtrag 2: Eine gar nicht vorgesehene Wahlmöglichkeit bietet sich als solche an

Solche Zeichen der Zeit weiß eine kleine Partei am Rande des Parteienspektrums als Gelegenheit für sich zu interpretieren:

„Die Schröder-SPD behauptet, es gebe keine Alternative zu ihrer Politik. Dann können wir Wahlen gleich abschaffen. Denn im Klartext hieße das ja: Kohl müsste es so machen, wie es von Schröder gemacht wird. Gysi müsste es so machen. Diese Einstellung halte ich für gefährlich.“

Dem stets enorm pfiffigen Fraktions-Chef der PDS ist damit so etwas wie die ultimative Ableitung der Daseinsberechtigung seiner Partei gelungen. Vom Sozialkundeunterricht her weiß er, dass Wahlen ohne Wahlmöglichkeit keine sind. Also braucht es ja wohl seine Partei als die radikale Alternative, ohne die sich das ganze Kreuzchen-Malen nicht recht lohnen würde… Und das ist sie dann auch schon, die Alternative, auf die es der PDS in ihrer Selbstwerbung ankommt: dem regierungsamtlichen Getöse von der Alternativlosigkeit der eigenen Politik das machtvolle Postulat entgegenzuschleudern, es müsse eine geben… Welche? Das ist auf diesem hohen Niveau politischer Auseinandersetzung erstens gar nicht weiter von Belang; und zweitens ergibt es sich von selbst: Wo die SPD ihr herkömmliches „soziales Gewissen“ gegen den Totalitiarismus alternativlosen Regierens eintauscht, da adoptiert die linke Konkurrenzpartei die herrenlos gewordenen Inhalte; denn da eröffnet sich ein Platz in der Parteienlandschaft, auf dem man sich zur Eroberung von möglichst großen Anteilen der Gesamtwählerschaft positionieren kann. Die Sozialdemokraten entsozialdemokratisieren sich gerade, also nichts wie hin auf den links frei werdenden Platz. Mit einer Sozialdemokratisierung der PDS rechnet man sich einige Chancen aus, die SPD um Teile ihrer Klientel beerben zu können, um dann vielleicht einmal – Visionen braucht das Land! – zusammen mit der CDU für eine sozialere Politik eintreten zu können, in der es ja inzwischen mehr sozialdemokratische Traditionen als in der SPD geben soll…

Ungefähr dieselbe Bedeutung hat es, wenn die PDS laut darüber nachdenkt, ihre strikte Ablehnung von UN-Militärmissionen aufzugeben. Nämlich die: Die empfohlene Kurskorrektur ist Teil der Strategie, die PDS gesamtdeutsch zu positionieren. Schließlich will sich die PDS nicht mit der Rolle einer ostdeutschen Klientel-Partei abfinden; da sind alle Überzeugung verzichtbar, die zum herkömmlichen gesamtdeutschen Polit-Konsens nicht passen.

Man kann dieser Partei also alle möglichen Vorwürfe machen; z.B. den, dass sie neben allen sonstigen Argumenten, die ihr dafür mittlerweile offenbar einleuchten, neuerdings auch noch ihren eigenen unbedingten Willen, zur regierungsfähigen Partei aufzusteigen, als guten Grund für den Einsatz deutscher Waffen und Soldaten ins Feld führt. Nur den Vorwurf, sie würde aus taktischen Gründen ihre Identität verändern, sollte man ihr ersparen. Sie hat nämlich keine andere Identität als die einer demokratischen Partei, die um die Macht konkurriert.