Demokratie in Bosnien
Von freien Wahlen zum Bürgerkrieg und wieder zurück
In Bosnien werden die verfeindeten Volksgruppen von den imperialistischen Mächten gezwungen, das Dayton-Abkommen zu akzeptieren und Wahlen durchzuführen. Die Kontrahenten in Bosnien sollen ihren politischen Willen an eine Zentralgewalt abtreten. Sie beugen sich dem Diktat der Alliierten, indem sie den Wahlkampf als Kampf um ungeklärte Machtfragen führen. Entschieden wird die Wahl durch Gewalt von außen, die die Bedingungen für die verfeindeten ethnischen Gruppen setzt.
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Demokratie in Bosnien
Von freien Wahlen zum Bürgerkrieg und wieder zurück
1.
Es hat sich, so war zwischenzeitlich immer wieder zu vernehmen, also doch gezeigt, daß der Einsatz von Gewalt ein Mittel – und zwar das einzige – ist, um in Bosnien Frieden zu schaffen. Eine frohe Botschaft sollte das sein, ein Kompliment an die Adresse der NATO-Mächtigen, eine Forderung an sie, in Zukunft mehr Entschlossenheit statt Kleinmut zu beweisen, und eine doppelte Zurückweisung von staatstreuen Skeptikern, die die politische Effizienz von Waffen bestreiten und deshalb auch ihre moralische Qualität.
In der Tat haben sich die Führer der drei bosnischen Kriegsparteien zu Beginn des Jahres dem mit Bomben gegen die serbische Seite eingeleiteten Ultimatum der amerikanischen Weltmacht gebeugt und die Kampfhandlungen eingestellt. Eine gemeinsame NATO-Streitmacht der kapitalistischen Hauptnationen, die zuvor die Reichweite ihrer „friedlichen Diplomatie“ auf dem Balkan gegeneinander getestet hatten, marschierte mitten zwischen die verfeindeten Kampftruppen und stellte deren Führer so vor die Alternative, das Friedensdiktat von Dayton entweder hin- oder die unmittelbare Konfrontation mit der NATO aufzunehmen. Auf diese Weise wurde ein Abbruch des Krieges erzwungen. Das vorliegende Zwischenergebnis nach vierjähriger Schlächterei, von den Kontrollmächten zu politischen Grenzlinien begradigt, soll nun programmgemäß als echter und dauerhafter Friedenszustand fixiert und in eine einheitliche „zivile Staatsordnung“ verwandelt werden. Genau das, was angeblich die Unhaltbarkeit des alten jugoslawischen Vielvölkerstaats ausgemacht hat – ein gewaltsamer Deckel auf einen Topf, in dem lauter ethnische Gegensätze kochen –, wird als Rezept für die Etablierung eines „konstruktiven Zusammenlebens der bosnischen Volksgruppen“ präsentiert.. Doch der Kroate Tito ist tot, es lebe der Vollstreckungsbefehl von außen. Und weil der neue „Einheitsstaat“ eine Kreatur des westlichen Herrschaftswillens ist, dürfen US-Außenminister und sein Chefdiplomat Holbrooke ganz ohne Ironie die Erfolgsträchtigkeit des Projekts damit begründen, daß Muslime, Kroaten und Serben schließlich „jahrzehntelang in guter Nachbarschaft miteinander gelebt und gearbeitet haben“.
Als probates Mittel zum Erfolg haben sie den Kriegsgegnern, denen sie den Krieg verboten haben, die Abhaltung demokratischer Wahlen am 14. September verordnet. Ausgerechnet Wahlen!
2.
Die gewaltsam unterbundene Bürgerkriegsrealität in Bosnien besteht aus drei nach Volksgruppen sortierten politischen Parteien, die den ehemaligen Staatsbürgern der bosnischen Republik Jugoslawiens das „friedliche Zusammenleben“ unmöglich gemacht haben. Ihre ambitionierten Führer verfolgen, animiert durch den unter der Parole der „Selbstbestimmung der Völker“ vom Westen lizenzierten Sezessionismus Sloweniens und Kroatiens, lauter unvereinbare Staatsgründungsprogramme, die ohne Kriegserfolge einfach nicht zu haben sind. Das Kriegsprogramm der bosnischen Serben zielt auf die Eroberung eines strategisch zusammenhängenden Territoriums als Staatsbasis, das mindestens die zerstreuten Siedlungsgebiete einschließt, die zu einem wesentlichen Teil von Serben bewohnt werden. Als Perspektive der zu erkämpfenden Eigenstaatlichkeit ist die Anbindung an die serbisch dominierte Bundesrepublik Jugoslawien anvisiert. Die kroatische Mannschaft verfolgt das spiegelbildliche Programm zugunsten der Herstellung eines Großkroatien. Die Bosnjaken schließlich beanspruchen in Ermangelung eines eigenen völkischen „Mutterlandes“ die Vorherrschaft über die gesamte ehemalige Republik Bosnien-Herzegowina, betreiben also als einzige die Überführung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik in einen souveränen Staat. Sie trachten nach der gewaltsamen Unterwerfung der separatistischen „Minderheiten“ unter eine vom Westen abgestützte Zentralgewalt muslimischer Prägung. Vorübergehende Koalitionen zwischen zwei Parteien gegen die dritte ändern nichts an dem Sachverhalt der unvereinbaren Zielsetzungen.
Die Amerikaner und ihre Verbündeten haben den Kontrahenten nun freie Wahlen für gesamtbosnische Zentralorgane, für die gleichermaßen vorgegebenen zwei Teilgebilde der Republika Srpska und der Bosnisch-kroatischen Föderation sowie für die regionalen Kantone und Städte auferlegt;[1] der „komplizierteste“ Urnengang der bisherigen Demokratiegeschichte soll an die Stelle des Waffengangs treten und das politische Kunstprodukt der Macher von Dayton mit Leben erfüllen. Das wäre doch mal ein origineller Gebrauch der demokratischen Herrschaftstechnik! Normalerweise galt stets der Grundsatz, daß ein Volk erst „reif“ sein muß für die Demokratie, bevor man es zum Wählen schickt. Und wer wollte, konnte dem ein bemerkenswertes Eingeständnis entnehmen: Nur wenn das staatliche Gewaltmonopol und seine alleinige Zuständigkeit für alle politischen Entscheidungen zweifelsfrei anerkannt sind auf Seiten der Untertanen, entfaltet die Demokratie den ihr eigenen Nutzen – sie liefert mit jeder Wahl des Regierungspersonals ein erneuertes Treuebekenntnis des Volkes zu „seiner“ Herrschaft. Im Falle Bosniens wird demgegenüber die umgekehrte Reihenfolge diktiert und als Friedensmittel propagiert. Dort, wo weder ein Gewaltmonopol herrscht noch ein Volkswille existiert, der in ihm seinen selbstverständlichen, nationalen Inhalt hat, soll das Votum der Bürger beides herbeiführen. Nach der Logik der Aufsichtsmächte soll und wird das von ihnen inszenierte Wahlverfahren, an dem sich alle ethnischen Parteien beteiligen, eine Hierarchie politischer Organe und zuoberst ein gesamtbosnisches Parlament und eine Zentralregierung, mithin die Träger der Staatsautorität bestimmen – und damit zugleich die Autorität der einen Staatsgewalt gültig machen und dadurch wiederum automatisch den nicht vorhandenen Volkswillen stiften. Womit die Kreation eines völkerrechtlichen Subjekts namens Bosnien gelungen wäre. Der Sache nach reichlich absurd, aber genau das wird verlangt. Die Unterwerfung aller Kriegsparteien unter den Formalismus der staatsbürgerlichen Willensabgabe wird gleichgesetzt mit der Abtretung ihres politischen Willens unter die gewählte Zentralgewalt und der Übernahme einer passiven Untertanenrolle im neuen Staat anstelle des bisherigen Engagements für den völkischen Wahn. Indem Nationalisten, die sich bekämpfen, wählen, sollen sie sich als Mitglieder einer Nation betätigen und aus einem fremden Staatsprojekt ihr eigenes machen.
Diese Strategie des Demokratieexports erklärt sich daraus, daß die NATO-Alliierten mit der Erzwingung einer ihnen genehmen „stabilen Ordnung“ auch einmal fertig sein wolle:
„Ohne den Willen der bisherigen Kriegsparteien zur Versöhnung wird sich der friedliche Aufbau Bosniens nicht realisieren lassen.“ (US-Außenminister Christopher)
Die Errichtung einer militärischen Fremdherrschaft, um den widerspenstigen völkischen Willen zu unterdrücken, ist nicht vorgesehen.
3.
Die Maßgabe, daß eine gemeinsame Abstimmung der sich ethno-rassistisch definierenden Gegner zur echten Geburt eines als legitim anerkannten bosnischen Staatsgebildes führen sollte, hatte es in Bosnien schon einmal gegeben. Sie diente tatsächlich und logischerweise der Mobilisierung der eigenen Landsmannschaften und ging bruchlos über in einen vierjährigen Bürgerkrieg, in welchem die drei Volksgruppen im Interesse der sich ausschließenden Staatsgründungswillen ihrer politischen Anführer verheizt wurden.
Folgerichtig war dies deshalb, weil die Volksabstimmung unter internationaler Aufsicht erklärtermaßen unter der Devise des Rechts auf Selbstbestimmung bisher geknechteter Völker stattfand. Daß die sich neu formierenden politischen Eliten vor Ort diesem Recht die Freiheit zu völkischem Aufbruch auch in Bosnien entnahmen, war kein Mißverständnis, wiewohl in diesem Falle gerade unerwünscht. Schon die Ankündigung der bevorstehenden Stimmabgabe setzte die Herbeiführung der im Sinne eines parteigemäßen Ergebnisses passenden Zusammensetzung der jeweiligen Wohnbevölkerung auf die Tagesordnung – und damit die Aufhetzung der als eigene Machtbasis reklamierten „Nationalitäten“ gegen andere Volksgruppen sowie die systematischen „ethnischen Säuberungen“ zur Sicherung der Volkstumsgrenzen. Ausgehend von der berechtigten Spekulation, daß die Rassereinheit der Bevölkerungsstruktur sich in einer Zuteilung des entsprechenden Territoriums durch die europäischen Aufsichtsmächte niederschlagen werde, ergab sich die Notwendigkeit von Ausrottung und Eroberung wie von selbst. Der Krieg um Grenzen, Raum und Volk als Fundament der eigenen Staatsperspektiven wurde zum Mittel und Zweck des Auftrags zu demokratischer Ab- und Selbstbestimmung.
4.
Es ist also kein Wunder, daß die gewaltsam getrennten Kriegsparteien mit all ihren offenen Rechnungen gegeneinander nur durch das Diktat der Garantiemächte von Dayton neuerlich zu den Wahlurnen zu bringen sind. Es ist auch kein Wunder, daß – wenn sie sich schon dem Druck der übermächtigen Aufsichtskoalition beugen – sie den imperialistischen Sinn der Wahlen nun abermals umzudrehen suchen. Sie beziehen sich berechnend auf das verordnete Wahlszenario, um mit, trotz und in ihm ihre nationalistischen Zielsetzungen zu befördern bzw. so wenig wie möglich zu gefährden. Dem mit ihnen veranstalteten Test auf ihre Unterwerfungsbereitschaft begegnen sie nicht mit der Einsicht in die nun fällige Versöhnung zwecks gemeinsamem zivilem „Wiederaufbau“, sondern mit dem gegenteiligen Test darauf, was ihnen wirklich und unvermeidlich abverlangt bzw. doch konzediert wird. Es ist den serbischen, kroatischen und muslimischen Führern schließlich nicht entgangen, daß auch die im IFOR-Auftrag vereinigte Konkurrenz der Weltordner auf Basis erzwungener Fügsmakeit auf Kooperation statt militärische Kapitulation baut, folglich ihre Interessen einbauen, d.h. in Rechnung stellen muß.
Also verdoppeln sich die Kriegstreiberparteien von gestern abermals in Wahlparteien von heute. Die Kriegsherren werden zu Wahlkämpfern, die Soldaten zu Stimmvieh und Kontrolleuren des Stimmviehs. Konkurrierende (Neu-)Parteien verfolgen entweder dasselbe Ziel oder werden als Volksverräter schikaniert. Im Wahlkampf gilt nur das ethnische Programm. Die Wahlordnung ergibt einen zusätzlichen guten Grund für die Sicherung maximal rassereiner Gebiete: den Schutz vor Unterwanderung der einmal erkämpften sicheren (Stimmen-)Mehrheit. Rückkehrwillige Flüchtlinge werden also gesteinigt, Visumpflichten eingeführt, verbliebene Angehörige einer fremden Rasse fertiggemacht und in die Flucht getrieben. Den eigenen Volksgenossen werden nach strategischen Gesichtspunkten die erwünschten Orte der Stimmabgabe zugewiesen, Zuwiderhandlung wird mindestens mit Nahrungsmittelentzug bestraft. Muslimische Flüchtlinge aus dem heute serbischen Besitzstand lassen sich gemäß Befehl ihrer Führer in ihren Herkunftsorten registrieren, um diese womöglich per demokratischer Stimmenmehrheit „zurückzugewinnen“ und so das Recht auf deren Herauslösung aus dem serbischen Gebiet anzumelden.
Mit anderen Worten: Die Wahl wird zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.
5.
Nach dem programmatischen Doppelbeschluß der NATO-Staaten und des ihnen per „Internationaler Kontaktgruppe“ assoziierten Rußland soll der Einsatz der 60000 IFOR-Truppen die Gewaltfrage im Land klären und auf dieser Grundlage der „zivile Aufbau“ einer ordentlichen Staatsgewalt entsprechend den vorgegebenen Weisungen erfolgen. Auf Grund des Widerstandes der ehemaligen Kriegsparteien haben die Interventionsmächte jedoch schon bald feststellen müssen, daß die Präsenz ihrer Streitmacht im Lande zwar ausreichen mag, um den Ausbruch offener kriegerischer Feindseligkeiten zu unterbinden, nicht aber dazu, durch die Anweisung zu ordentlichen Wahlen eine konstruktive Übernahme ihrer Zielsetzung zu bewirken. Daß alle drei Parteien so renitent gegen den „Geist“ der verordneten Demokratie verstoßen und die in Wahlverfahrensregeln gekleideten Gebote hintertreiben, hat sie aber nicht von ihrem Standpunkt abgebracht. Sie diagnostizieren vielmehr die eskalierenden Praktiken der unversöhnlichen Nationalisten als schlechte politische Rahmenbedingungen
für den ordnungsgemäßen Verlauf und damit das angestrebte Resultat der Wahlen. Und sie erklären der zunehmend skeptischen Weltöffentlichkeit, daß es sich folglich nicht um normale Wahlen handeln könne, diese aber um so dringlicher stattfinden müssen:
„Die Kräfte der ethnischen Trennung bleiben stärker als die Kräfte der ethnischen Reintegration. Bosnien ist auch sechs Monate nach dem Friedensabkommen ein Land, das auseinanderfällt, kein Land, das sich zusammenfügt.“ (Wiederaufbau-Komissar Bildt, SZ 15.6.96) „Auch Bildt lehnte eine Verschiebung der Wahlen ab. Je länger der Urnengang auf sich warten ließe, desto größer sei die Gefahr der Zersplitterung Bosniens.“ (SZ 14.6.96)
Je deutlicher sich der Wahlkampf als Kampf um ungeklärte Machtfragen erweist, um so größer wird der „Handlungsbedarf“ der NATO-Chefs, für die ein Scheitern des Daytoner (Wahl-)Beschlusses gleichbedeutend ist mit dem Verlust der „Glaubwürdigkeit“ ihrer unwiderstehlichen Erpressungsmacht. Sie müssen sich entscheiden, welche Verstöße gegen die Dayton-Regie sie hinnehmen wollen und welche nicht. Und mit jeder dieser wohldifferenzierten Entscheidungen wird deren politisches Kriterium offenkundiger und damit das maßgebliche Motiv, dem sich die Mission „Frieden für Bosnien“ verdankt.
- Sie konzedieren von Anfang an die Verwandlung der nationalistischen Kriegsparteien in Wahlparteien, denen auch in Zukunft die „politische Verantwortung“ obliegt. Schließlich haben diese nun mal die Macht über die verschiedenen Landesteile!
- Sie nehmen die Konsolidierung der ethnischen Grenzziehungen, das „ethnische engineering“ mit seinem Terror gegen volksfremde Eindringlinge hin, selbstverständlich ohne diese „Ausschreitungen“ zu billigen. Schließlich ist es nach vier Jahren Schlächterei nur zu verständlich, daß die Völker nicht von heute auf morgen zu multikultureller Nachbarschaft übergehen können! Und außerdem kann die IFOR-Truppe den Flüchtlingen nicht das verbriefte Recht auf Rückkehr verschaffen, weil das „nicht ihr Auftrag ist“.
- Sie ändern die Wahlordnung, damit die Kriegsflüchtlinge sich auch an ihrem neuen Wohnsitz als Wähler registrieren lassen können, ohne daß dadurch andererseits die faktisch erreichte und in Dayton förmlich zugestandene ethnische Grenzziehung demokratisch abgesegnet werden soll: Weil das Ergebnis im serbischen Siedlungsgebiet nicht paßt, finden die örtlichen Wahlen vorerst gar nicht statt.
Der Katalog dieser unter dem Motto „Die Wahlen können nicht perfekt sein“ (Christopher) akzeptierten „Begleitumstände“ dokumentiert in Wahrheit keineswegs – wie konstruktive Kritiker meinen – den Siegeszug beklagenswerter Zugeständnisse aus wahltaktischen Gründen (im Falle Clintons) oder aus europäischer Vorliebe für Appeasement-Politik. Er demonstriert vielmehr, daß das Bosnien-Programm des demokratischen Imperialismus nicht mit einem menschenfreundlichen Einspruch gegen Nationalismus und Rassismus zu verwechseln ist. Wie auch. Nachdem die Anerkennung des antijugoslawischen Separatismus den Selbstbestimmungswahn der Völker so schön beflügelt hat, sollen jetzt eben diese nationalistischen Kräfte den eigenen Ordnungsvorstellungen untergeordnet, und das heißt dienstbar gemacht werden. Ihr Verbrechen besteht einzig darin, auf eigene Faust und Rechnung sowie ohne Lizenz aus Washington und Brüssel einen Krieg um Grenzen angezettelt zu haben. Bringen sie ihre „berechtigten nationalen Anliegen“ und Energien hingegen in die für sie vorgesehene Balkan-Ordnung ein, sind sie anerkannte Politiker und Bausteine der „europäischen Sicherheitsarchitektur“.
Sofern sie jedoch von ihren eigenmächtigen Staatsgründungsabsichten nicht ablassen wollen, sind und bleiben dieselben Politiker „unmenschliche Kriegstreiber“, mit denen sich friedliche und stabile Verhältnisse nicht durchsetzen lassen. Sie müssen zur Botmäßigkeit gezwungen werden. Damit steht umgekehrt fest, welche „Provokationen“ als nicht zu duldende Mißachtung der „Voraussetzungen für die Abhaltung freier Wahlen“ behandelt werden:
- Was die obersten Wahlaufseher auf keinen Fall hinnehmen, ist das politische Überleben der in Dayton als Kriegsverbrecher identifizierten Serbenführer Karadžić und Mladić. Und das nicht deshalb, weil diese Herren etwa einen unmenschlichen Krieg geführt hätten, die Kollegen Tudjman und Izetbegović hingegen einen menschlichen. Karadžić und Mladić verkörpern vielmehr für die Manager von Dayton die Linie eines verbrecherischen, weil nicht unterwerfungsbereiten bosnisch-serbischen Separatismus, der gebrochen werden muß. Also wird die Unperson Karadžić von den USA mit offenen Kriegs- und Embargodrohungen gegen alle Serben zum Rücktritt von seinen politischen Ämtern gezwungen – und gleichzeitig öffentlich befürchtet, daß seine Nachfolger „die Politik Karadžićs weiterverfolgen“.
Die neu zusammengesetzte bosnische Serbenführung erklärt, sie verstehe sich in der Nachfolge des gewählten Präsidenten Karadžić, und droht mit einem Wahlboykott für den Fall seiner gewaltsamen Verhaftung. Der Test auf die Einsichtsfähigkeit der Pale-Serben läuft; die Auslieferung der inkriminierten Führer an das Kriegsverbrecher-Tribunal ist laut dem deutschen Außenminister Kinkel – „Wir haben noch Zeit“ – spätestens nach den Wahlen fällig.
- Nicht hinnehmbar ist ferner die Fortexistenz der kroatischen „Republik Herceg-Bosna“, die nach dem Beschluß von Dayton bereits zu Jahresbeginn in die Bosnisch-Kroatische Föderation aufgelöst werden mußte, aber nicht wurde. Im hartnäckigen Festhalten an diesem nicht genehmigten „Staat im Staate“ manifestiert sich der ungebrochene Wille der kroatischen Abteilung Bosniens, das kroatische Reich zu vergrößern, womit die Wiedereröffnung der muslimisch-kroatischen Kriegsfront auf der Tagesordnung bleibt. Die Amerikaner haben beide Parteien – unter den damaligen Kriegsbedingungen gegen die übermächtigen bosnischen Serben erfolgreich – zur Bildung einer politischen Föderation erpreßt. Diese soll in amerikanisch-europäischem Interesse nun das materielle Fundament des bosnischen Zentralstaats werden, das imstande ist, den serbischen „Separatismus“ einzuhegen und zu kontrollieren. Das Funktionieren des Bündnisses ist somit die „entscheidende Bedingung für das Gelingen des bosnischen Staates“ (US-Außenminister Christopher). Also haben die USA im Verein mit der EU alle Druckmittel ausgeschöpft und dem Chef aller Kroaten, Tudjman, kurz vor dem Wahltermin eine förmliche Einwilligung in die Auflösung seiner völkischen Provinz in Bosnien abgerungen.
Daß es sich tatsächlich um eine „Auflösung“ von Herceg-Bosna handelt, wurde gleich unmittelbar nach der Vertragsunterzeichnung aus Kroatenmunde dementiert – es gehe um eine bloße „Verwandlung“. (SZ 18.8.96) Die amerikanische Interpretation besteht auf dem erfolgreichen Vollzug der Unterschrift.
- Was die Front der westlichen Ordnungshüter unmöglich akzeptieren kann, ist schließlich das Scheitern der zum Exempel und Probelauf der allgemeinen Wahlen erklärten Wahlen im geteilten Mostar. Die Nichtanerkennung des Ergebnisses durch die kroatisch kommandierte Stadthälfte wegen gewisser „Unregelmäßigkeiten“ ist ein Unding; ob ein Ergebnis legitim ist oder nicht, entscheiden die OSZE-Beobachter! Also wird auf dem Zusammentreten des gewählten Parlaments bestanden – mit Erfolg: weil ein Vertreter der unterlegenen Kroaten einstimmig zum Bürgermeister gewählt wird, wie es die OSZE-Kommission zuvor demokratisch abgekartet hat. Die Generalprobe für freie Wahlen ist damit erfolgreich gelaufen.
Gleichzeitig wird der kroatischen Anfechtung der Mostarwahlen bei einem Gerichtshof, der noch gar nicht existiert, von den OSZE-Vermittlern stattgegeben. Bis der spricht, so lassen die „kroatischen Mafiosi und Dunkelmänner“ (ein EU-Beobachter, SZ 9.8.96) verlauten, tritt das Parlament nicht mehr zusammen.
Das vorläufige Resultat des demokratischen Friedensprozesses steht damit fest: Die termingerechte Inszenierung des den Parteien aufgenötigten Wahlformalismus gilt schon als „großer Erfolg“ und Beweis für die Macht der imperialistischen Ordnungsstifter. Ein schönes Eingeständnis, daß Wahlen für mehr – und das wäre die Unterwerfung der verfeindeten Machtkonkurrenten unter ein von allen gleichermaßen anerkanntes Gewaltmonopol – schlechterdings nicht tauglich sind. Man rechnet realistischerweise auch eher mit dem Gegenteil: Damit die Stimmabgabe selbst nicht das Morden neu entfesselt, sondern ordnungsgemäß vonstatten geht, wird das IFOR-Mandat kurzfristig erweitert: Die NATO-Kriegsmaschinerie übernimmt die Kontrolle.
6.
Wie das Zustandekommen und die Umstände der Durchführung des Herzstücks der Demokratie in Bosnien zeigen, sind Wahlen alles andere als ein Mittel der Befriedung dort, wo das Gewaltmonopol nicht schon durchgesetzt ist. Sie mobilisieren vielmehr für rivalisierende Gewalten. Das „zivile“ Staatsgründungsprogramm der auf ihrer Oberhoheit bestehenden Großmächte fällt demzufolge immer wieder auf das elementare Grundgesetz politischer Herrschaft zurück: Konkurrierende Souveränitätsansprüche werden durch Gewalt entschieden. Die Herstellung eines allgemein anerkannten Staatswillens in Bosnien, repräsentiert durch eine oberste Regierung über den zwei designierten Unterabteilungen Republik Srpska und Bosnisch-Kroatische Föderation, wird nur in dem Maße Realität, wie die imperialistische Gewalt(drohung) sie gültig macht. Die List, sich widersetzende nationale Bewegungen auf die Ersetzung der Waffen durch Stimmzettel zu verpflichten und ihnen dann mit dem Argument zu kommen: „Jetzt habt ihr euer Parlament und eure Regierung gewählt, und deshalb müßt ihr ihr gehorchen!“ geht nur auf, wenn sich die Adressaten dem Diktat zu einer selbstbestimmten Preisgabe der eigenen Staatsbildungsprojekte beugen. Wie schon die Wahl selbst ein Produkt militanter Intervention ist, so entscheidet sich auch ihr politisches Resultat an der Überzeugungskraft der zum Einsatz gebrachten alliierten Machtmittel. Der Ertrag der Wahlen steht damit auch fest: Die Addition der muslimischen und kroatischen Stimmen ergibt eine Mehrheit, der die NATO-Ordnungsstifter das Mandat zur Durchsetzung ihres Bosnien-Modells entnehmen können; sie legitimiert jede Gewalt, die diesem Gebilde zum Leben verhilft; Gewalt, und zwar von außen, braucht das demokratisch gezeugte Staatswesen aber auch, um wunschgemäß ins Dasein zu treten.
Und darauf haben sich die amerikanischen Ober-Weltordner, aber auch die ihre Mit-Zuständigkeit beanspruchenden EU-Staaten in ihrem notorischen politischen Realismus schon längst vorbereitet. Ihr Interesse sorgt schon dafür, daß das Verhältnis von demokratischem Überbau und materieller Herrschaft auch in Bosnien vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Erstens dadurch, daß sie die muslimisch-kroatische Armee militärisch aufrüsten (und das schon bevor diese als Regierungsarmee firmiert), damit sie notfalls an Stelle der kostbaren amerikanischen GIs die Serben zur Räson bringt. Zweitens dadurch, daß sie die Fortsetzung der NATO-Intervention unter neuem Titel und Auftrag über den ehedem festgelegten Zeitraum hinaus planen, um zumindest die Wiederaufnahme des Bürgerkriegs in ihrem Hinterhof zu verhindern.[2] Die Entscheidung über die „angemessene“ Fortsetzung der Friedensmission ist bereits zu einem Streitgegenstand der Ordnungsmächte geworden, deren Rivalität zwischenzeitlich hinter dem „erfolgreichen“ IFOR-Einsatz zurückgetreten ist.
[1] Die Kommunalwahlen hat das aufsichtsführende Organ der OSZE mittlerweile aufgeschoben: Der demokratische Akt soll keine örtlichen Machtverhältnisse legitimieren, die den Machern und Förderern eines bosnischen Einheitsstaats nicht passen. Schuld an der Gefahr solch verkehrter Ergebnisse sind wieder einmal die Serben – die ihre Leute genauso strategisch an die passenden Wahlorte dirigieren wie die anderen Volksgruppenführer die Ihren.
[2] Noch bevor man Entsprechendes von den kampferprobten Nachbarn hört, meldet die Bonner Regierung Deutschlands uneingeschränkte Bereitschaft an, definitiv „normal“ zu werden und, statt Hilfstruppen an den Rand, bewaffnete Eingreiftruppen ins Zentrum des Geschehens zu schicken. Wo die Soldaten einer regionalen Führungsmacht eben hingehören…