Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Pandemie II.
Vom demokratischen Sinn einer Seuche
Braucht die CDU „Aufbruch und Erneuerung“? Oder eher „Kontinuität“? Wäre die Nation mit F. Merz als Kanzler/kandidat besser bedient? Oder mit A. Laschet? Die Befassung der demokratischen Öffentlichkeit mit dieser Streitfrage war gerade in Gang gekommen und hätte so erregend werden können. Aber mit „Corona“ herrschen nicht bloß im Alltagsleben der Nation andere Prioritäten: Unter Seuchenbedingungen lebt die parteipolitische Konkurrenz nach einem etwas anderen Muster ganz kräftig auf.
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Pandemie II.
Vom demokratischen Sinn einer Seuche
Braucht die CDU „Aufbruch und Erneuerung“? Oder eher „Kontinuität“? Wäre die Nation mit F. Merz als Kanzler/kandidat besser bedient? Oder mit A. Laschet? Die Befassung der demokratischen Öffentlichkeit mit dieser Streitfrage war gerade in Gang gekommen und hätte – für ein am Schicksal der Herrschaft Anteil nehmendes Publikum – so erregend werden können. Denn so funktioniert die politische Geschmacksfrage, von deren interessierter Beantwortung durchs regierte Volk das politische System lebt: Abstraktionen, die für ein Bekenntnis mehr zu Unzufriedenheit mit dem „Gang der Dinge“ oder zu „irgendwie“ mehr Einverständnis stehen, für die Wahrnehmung des Rechts freier Bürger auf Ablehnung des Berliner Regierungspersonals oder für eine Gesamtbilanz, in der Gewöhnung als guter Grund für Zustimmung fungiert, werden in den herrschaftsfreien Diskurs des mündigen Publikums eingefüttert, als Erkennungszeichen für Parteitypen, die die Herrschaft über Land und Leute bei sich und ihrer Entourage am optimalsten aufgehoben finden, um abrufbare Zustimmung zu evozieren; Parteigrößen treten zur Chefwahl an, empfehlen sich ihrer Partei als Garanten für neue Erfolge bei den nächsten allgemeinen Wahlen und präsentieren sich dafür und in diesem Sinne als Repräsentanten der allgemein zirkulierenden Empfindung allgemeiner Un- resp. Zufriedenheit, die sie als Grund für demokratische Wahlentscheidungen kennen und als selbstverständlich anerkennen. Das Publikum soll Noten vergeben; nach dem doppelten Kriterium, a) ob es mehr zu Unzufriedenheit neigt – Gesichtspunkte dafür werden auch geboten bzw. aus dem allgemeinen Volksgemurmel abgerufen, besonders gerne die Zahl der Migranten, die das heimatliebende Gemüt der Deutschen entweder aus eigenem Empfinden nicht aushält oder aus der höheren Warte des nationalen Blockwarts als den Massen nicht zumutbar beurteilt – oder eher Zufriedenheit mit der Obrigkeit für angebracht hält – gerne nach dem Muster: das Geldverdienen klappt doch einigermaßen –; b) ob die jeweilige Figur als Repräsentant der Abstraktion, unter der sie auftritt, eine gute Figur macht, i.e. so auftritt, dass man sich für die Zustimmung zu ihr keine Extra-Argumente ausdenken und sich schon gar nicht vor dem eigenen meinungsstarken Umfeld genieren muss. Ein paar Frühlingswochen lang wäre dieser CDU-interne Machtkampf dahingegangen; die relative Größe der mobilisierbaren Gefolgschaft, in der Partei und in der meinungsumfragten Öffentlichkeit insgesamt, hätte eine Konjunkturkurve der Erfolgsaussichten ergeben, die dem Parteitag am Ende eine Entscheidung leicht oder schwer gemacht hätte. Der Zirkel des Erfolg begründenden Erfolgs hätte mit dem Machtkampf der Personen Fragen wie die entschieden, ob die Union dem Volk mehr mit dem Fernhalten ausländischen Elends zu Diensten sein soll oder mehr mit dem Beweis, dass sie auch dabei immer schon „Maß und Mitte“ getroffen hat. Und der Sieger hätte anschließend – noch nicht einmal zu Unrecht – versichert, dass der parteiinterne Flügelkampf erstens keiner war und zweitens unter seiner Führung aufs Friedlichste beigelegt wird, was der Verlierer entweder durch Rückzug bestätigt oder zur Freude des politisch aufgeweckten Publikums per Organisation einer doch nicht totzukriegenden innerparteilichen Opposition sabotiert hätte...
Alles erst einmal abgesagt, zumindest aufgeschoben; wer weiß, für wie lange. Denn mit „Corona“ herrschen nicht bloß im Alltagsleben der Nation andere Prioritäten. Unter Seuchenbedingungen lebt die parteipolitische Konkurrenz ganz kräftig auf, aber nach einem etwas anderen Muster. Da sonnen sich amtierende Machthaber im Glanz der Bedeutung, die der Zipfel politischer Macht, den sie in Händen halten, ihnen ganz persönlich verleiht. Das funktioniert nach einer zweistufigen Logik:
Erstens geben Krisen und Katastrophen Gelegenheit zu einer ebenso verlogenen wie anschaulichen Antwort auf die Frage, warum und wozu es in der zivilen Bürger- resp. bürgerlichen Zivilgesellschaft eigentlich eine flächendeckend präsente, effektiv durchgreifende öffentliche Gewalt braucht. Wenn „Not am Mann“ ist, dann ist es – vorübergehend – aus mit den heiligen Prinzipien der freien Konkurrenz ums Geld, mit Recht und Macht des Eigentums und den Sitten seiner geschäftlichen Vermehrung. Also mit genau der bürgerlich-marktwirtschaftlichen Realität, für deren Allgemein- und Alleingültigkeit die „Herrschaft des Rechts“ wirklich sorgt und für die die rechtlich kodifizierte Staatsgewalt auch in der Tat unverzichtbar ist, weil kapitalistisches Eigentum und kapitalistische wie die davon abgeleitete proletarische Konkurrenz eine ganze Welt von fundamentalen, bis ins gesellschaftliche Detail sich auswirkenden Interessengegensätzen begründen, die nur durch ein auf allgegenwärtiger Abschreckung beruhendes Ordnungsregime haltbar wird. Genau die Gewalt, die diese Interessengegensätze zum Inhalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses und zur herrschenden Verkehrsform macht, ist und findet sich als maßgebliche Instanz herausgefordert, genau dieses gesellschaftliche Leben – nicht prinzipiell, vielmehr der Notlage gemäß – außer Kraft zu setzen, Momente planwirtschaftlicher Vernunft und zweckmäßiger Rücksichtnahme zu dekretieren, wenn die gewohnten Gebote und Gepflogenheiten herrschaftsgemäßen Konkurrierens nur mehr kontraproduktiv wirken würden – kontraproduktiv, versteht sich, für die Rettung und alsbaldige Wiederaufnahme des im Normalfall herrschenden Konkurrenzbetriebs. Tatsächlich ist es zwar ein Hohn; aber weil die öffentliche Gewalt als Urheber und Garant eben dieses Betriebs weit und breit die einzige Instanz ist, die dessen Geltung wirksam suspendieren und Abweichendes verordnen und durchsetzen kann, erwirbt sie sich in Not- und Katastrophenlagen den Anschein einer Sachwalterin der Vernunft jenseits all der Nöte und Gemeinheiten der Konkurrenz, für deren Herrschaft sie im herrschenden Normalfall mit ihren bürgerlichen Gesetzbüchern und nach Maßgabe ihrer eigenen gesamtnationalen Konkurrenzanliegen einsteht.
Zweitens bietet dieser notlagebedingte Anschein für die berufenen Inhaber dieser Gewalt die optimale Gelegenheit, sich als Sachwalter der reinen Vernunft ordnender Gewalt in Szene zu setzen. Umsturzverdächtig machen sie sich damit nicht: Es ist ja wirklich nicht ein Übergang zu planender gesellschaftlicher Vernunft, den sie dekretieren. Die Mittel, die sie anwenden, sind die gewohnten: ihre rechtsförmige Gewalt und die Macht des Geldes, über die sie verfügen. Ihr Zweck ist ohnehin die Rettung und Restaurierung des Systems der Herrschaft des Geldes und ihrer eigenen. Dass das im Katastrophenfall mit der Behütung des Volkes – im gegebenen Fall: seiner Gesundheit – zusammenfällt, zeugt tatsächlich allein davon, wie vollständig das auf gewaltsame Betreuung angewiesene Volk unter seine Bestimmung subsumiert ist, als Basis eben dieses Systems gefälligst zu funktionieren. Wenn aber die Ausnahmesituation die Politik dazu nötigt, erklärtermaßen und in expliziter Abweichung von der gewöhnlichen Logik des kapitalistischen Geschäftsbetriebs rationalen Gesichtspunkten zu folgen, dann hätte jeder Politiker seinen Job verfehlt, der das nicht als Chance nutzen würde, als tatkräftiger Anwalt einer gar nicht alltäglichen, dabei über jeden Zweifel erhabenen Rationalität überhaupt aufzutreten. Den praktischen Beweis dafür, dass die etablierte Ordnungsmacht ausnahmsweise einer „höheren“ Vernunft als derjenigen marktwirtschaftlicher Konkurrenz zu folgen und zur Durchsetzung zu verhelfen vermag, hat zwar die dienstbare, auch in solcher Ausnahmesituation mit schlechter Bezahlung, ausnahmsweise mit warmen Dankesworten abgespeiste Bürokratie zu erledigen. Deren Leistung weiß ihr Chef aber allemal sich zuzuschreiben. Denn ausgerechnet der Umstand, dass in der staatlich garantierten Zivilgesellschaft nichts, schon gar kein Stück vernünftiger Ordnung ohne Gewalt zu haben ist, qualifiziert den Chef zum Führer, an dem das bürgerliche Gemüt die Quintessenz bürgerlicher Vernunft zu schätzen weiß: die Disziplin, die der oberste Befehlshaber seinem Fußvolk aufzwingt.
Die Konkurrenz unter unbedingt regierungswilligen Demokraten ändert sich dadurch ein wenig, und zwar ganz im Sinne des Kriteriums, an dem sie sich zu ihrem Vorteil messen lassen wollen: eben der verlogenen Gleichung von rationaler Ordnung und durchgreifender Gewalt. Die Inhaber eines Stücks Exekutive, die sich sonst schon mal vom wahlberechtigten Volk beschwerliche Lebensverhältnisse, vor allem aber von ihrer Partei die wirkliche oder auch eine unterstellte Unzufriedenheit des Wahlvolks ankreiden lassen müssen, sind gegenüber konkurrierenden Besserwissern ohne exekutive Macht weit im Vorteil. So weit, dass sie aufpassen müssen, mit ihrem Bemühen um die Sichtbarkeit ihrer Führerqualitäten nicht als das aufzufallen, was sie so exemplarisch sind: ewig unbefriedigte Machtmenschen, die von der rechtlich und bürokratisch durchorganisierten Kommandogewalt über das Volk und sein Verhalten ganz persönlich umso mehr haben wollen, je mehr sie davon schon haben.
Was auf diese Weise im demokratischen Heimatland, im föderativen System der BRD mit seinen 16 Unter-Chefs schon gleich, die demokratische Konkurrenz so nachhaltig beflügelt, das nimmt sich in fremden Ländern, je nach Sympathie des Betrachters mit der anderen Nation und deren Führung, deutlich anders aus. Die Gleichung von Herrschaft und Ratio, die im Notstandsfall dem Image anerkannter eigener Amtsträger so gut bekommt, erlaubt anderswo, gebietet gegebenenfalls sogar die umgekehrte Lesart, die der Wahrheit ziemlich nahe kommt; dann nämlich, wenn es ohnehin fragwürdige Herrschaften sind, die die Zwänge des Ausnahmefalls für den guten Ruf oder sogar für den rechtlichen Ausbau ihrer persönlichen Herrschaft nutzen. Machthaber, die sich ihrer Kompetenzen zum effektiven Durchregieren nicht wirklich sicher sind, ergreifen tatsächlich gerne die Gelegenheit, die Organisation der staatlichen Gewalt zugunsten ihrer persönlichen Entscheidungsmacht zu korrigieren. Herrscher, die ohnehin in ein national anerkanntes Feindbild eingepasst sind, stehen automatisch, auch ohne Nachweis entsprechender Machenschaften, unter Verdacht, eine Notstandsdiktatur anzustreben. Auf jeden Fall ist schön zu sehen, wie ungeachtet aller wirklichen Notlagen die bürgerliche Freiheit fremder Völker bei solcher Gelegenheit zum Sorgeobjekt einer demokratischen Öffentlichkeit avanciert, die die wirklichen Opfer fremder staatlicher Gewalt auf gar keinen Fall bei sich sehen will...