Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Aus dem Werkzeugkasten der Demokratie:
Der Vermittlungsausschuss
Der Vermittlungsausschuss trägt zur Abstimmung der Interessen von Bund und Ländern bei, damit eine staatsförderliche Selbstkorrektur und Balance der Staatsagenturen zustande kommt. Die Parteien nutzen das Gremium für die Inszenierung eines politischen Gegensatzes, der in der Sache gar nicht besteht und dazu dient das jeweilige Führungspersonal und Programm als die erfolgversprechendere Variante nationaler Politik herauszustreichen.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Aus dem Werkzeugkasten der
Demokratie:
Der Vermittlungsausschuss
Der Vermittlungsausschuss hat seinen Auftritt, wenn es
nach dem Beschluss von Gesetzen im Bundestag, bei denen
der Bundesrat ein Mitentscheidungsrecht hat, Einwände von
dessen Seite und darüber keine Einigung gibt. Art. 77 GG
sieht dieses Gremium vor, zusammengesetzt aus Mitgliedern
beider Kammern, zur Abstimmung der Interessen der
bundesstaatlichen und der föderalen
Staatsebenen, die in einem Verhältnis
konstruktiven Konkurrierens eine insgesamt
staatsförderliche Selbstkontrolle und Balance der
nationalen Gewaltagenturen zustande bringen sollen. Gemäß
dem Konstruktionsprinzip dieses Gremiums fallen die
Differenzen zwischen Bundestag und Länderkammer beim
Gesetzgeben nicht mit Parteidifferenzen
zusammen, weshalb die Mitglieder des Ausschusses auch
nicht an Weisungen gebunden
(Art. 77 Abs. II S.3 GG) sind. Die
Mitglieder des Ausschusses, je 16 aus dem Bundestag und
dem Bundesrat, sollen vielmehr in gesamtstaatlicher
Verantwortung
für die Beschleunigung notwendiger,
aber zu langsamer, oder die Verzögerung zu forscher
Gesetzgebung Sorge tragen, oder, wie es ein
GG-Kommentator ausdrückt, bei
Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt eines Gesetzes
verhindern, dass vorschnell ein Gesetzgebungsorgan seinen
Willen einseitig durchsetzt oder die Gesetzgebung zum
Stillstand kommt
. Der Vermittlungsausschuss ist also
eine institutionelle Vorkehrung im Rahmen der
staatsinternen, real existierenden Gewaltenteilung, die
dem strukturellen Konservativismus der demokratischen
Machtwirtschaft entspricht: eine Bremse gegen erratischen
Veränderungswillen bei den Agenten der politischen
Landschaft und systemwidrigen Radikalismus, die jede
Menge Kontinuität im Wandel und den fraglosen Fortbestand
der bestehenden politischen Strukturen und ihrer
demokratisch-kapitalistischen Räson sicherstellen soll.
Ersichtlich handelt es sich bei dieser Veranstaltung um
eine Installation aus dem Innenleben der
demokratischen Herrschaft. Diejenigen, in deren Namen
strittige gesetzliche Regelungen erlassen werden, die das
dafür verteilte Geld verdienen, damit veränderte Beiträge
und Steuern bezahlen und sich ihren Lebensunterhalt unter
neuen gesetzlichen Konditionen neu einrichten, haben als
Volk, zumal als niederes, von Berufs wegen mit
der Abwicklung des schwungvollen
Schwarzhandels mit Gesetzen, Initiativen,
Absichtserklärungen und außerparlamentarischen
Nebenabreden
nichts zu schaffen, die im
Vermittlungsausschuss nach dem kennerhaften Urteil nicht
nur Hamburger Nachrichtenmagazine üblich sein und das
Gremium zu einer überaus diskreten Dunkelkammer
machen sollen. Es wird schon so sein, dass die erkennbar
von mehr Bewunderung als Kritik getragene Beschreibung
diese Verlaufsform demokratischer Selbstkontrolle
adäquat charakterisiert, die in der Tat oft genug mit der
Öffentlichkeit ihrer Verfahrensweisen nichts im Sinn hat.
Das verhindert aber nicht, dass die Bund-Länder-Runde
manchmal machtvoll aus der Dunkelkammer
herausdrängt und dann wahre Sternstunden demokratischer
Publizität erlebt, wie zuletzt im Streit um die
Durchsetzung der „Agenda 2010“, zwischen Regierung und
Opposition. Immerhin liegen die Stimmen der Länder, die
laut GG am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind und ganz
überparteilich Gemeinsamkeiten und Konflikte mit
dem Bund abgleichen sollen, in der Hand föderaler oder
bundesstaatlicher Regierungsparteien. Und das
sorgt dafür, dass die staatstragenden
Auseinandersetzungen zwischen der Berliner Bundesgewalt
und ihren regionalen Dependancen um laufende
Gesetzgebungsverfahren auch im damit befassten
Vermittlungsausschuss bei aller gelegentlichen
„Diskretion“, wenn die als förderlich erachtet wird, eben
auch als öffentlicher politischer
Konkurrenzkampf zwischen diesen Parteien abgewickelt
wird. Der erfährt auch dann keine Unterbrechung, wenn
sich im Streit um „zustimmungspflichtige Gesetze“ ein
Länderchef des anderen Lagers mit so überzeugenden
Angeboten des Bundes erpressen lässt, dass er die
Verantwortung für „sein“ Land wahrnimmt und auch einmal
aus der von seiner Partei auf Länderebene organisierten
Front ausschert – erst das Land, dann die Partei!
–, um damit seine Wiederwahl im Land zu befördern und so
wiederum seiner Partei zu dienen.
Zu großer Form läuft der Vermittlungsausschuss auf, wenn
es so richtig um die Macht im Bund geht. Der
politische Stoff, anhand dessen die Machtprobe
durchgeführt wird, ist kein anderer als der, an dem sich
alle politischen Instanzen der Republik schon seit Jahren
in eifersüchtigem Wettbewerb gemeinsam zu schaffen
machen: Das Herbei-Reformieren neuen kapitalistischen
Wachstums am Standort und das Weg-Reformieren aller – vor
allem der sozialstaatlichen – Hindernisse, die solchem
Fortschritt im Wege stehen. Diesen Reformweg haben
Regierung und Opposition gemeinsam für so
schicksalhaft für die Zukunft der Nation erklärt, dass
recht eigentlich nur sie und keinesfalls die
Konkurrenz in der Lage wäre, die Not zu wenden. Nicht
ohne demonstratives Bedauern hinsichtlich der
verfassungsrechtlichen Lage, die die Behinderung ihrer
segensreichen Regierungsmacht durch den Bundesrat
erlaubt, verweist die Berliner Koalition, und nicht ohne
Verbitterung über den nur begrenzten bundespolitischen
Nutzen ihrer Bundesratsmehrheit die Opposition auf den
Zwang zur Einigung
im Vermittlungsausschuss, den
die Beteiligten aber nur anerkennen wollen, wenn ein
Kompromiss zu ihren Bedingungen
zustande kommt, er
zumindest deutlich ihre Handschrift trägt
und
deshalb auch verantwortbar
ist.
Darüber wird der Vermittlungsausschuss, der als
strukturkonservativer
Bremsklotz des
demokratischen Systems erfunden wurde, zum
Beschleuniger des bei allen Parteien bestehenden
Veränderungswillens und radikalisiert die Maßstäbe bei
der Durchsetzung des unisono für fällig erklärten
sozialpolitischen Paradigmenwechsels
. Gerade wegen
der Einigkeit der Parteien in der Sache
bekommt die von der Opposition im und mittels des
Vermittlungsausschusses aufgeworfene Machtfrage eine
eigenartige Verlaufsform: Es kommt zur Inszenierung eines
politischen Gegensatzes, der nur einen Einwand
gegen die politischen Absichten der Gegenseite kennt –
den, diese gingen nicht weit genug
, seien nicht
radikal und strukturreformerisch genug, zu zögerlich, zu
langsam und mutlos, kurz: nichts als klägliche
Reförmchen
, die Deutschland nicht voran brächten.
Auf diese Weise sind die einmütig angestrebten
politischen Umwälzungen ihrer politischen und sozialen
Substanz nach völlig unstreitig
gestellt: Die Rettung des Sozialstaats
durch seine
entschiedene Bekämpfung, die Entsorgung überflüssiger
Arbeiterqualifikation innerhalb Jahresfrist in den
Pauperismus der modernisierten Sozialhilfe, die
Installierung nach Qualität und Umfang neuer
Armutsniveaus bei Rentnern, Kranken und Arbeitslosen, die
Schaffung neuer Kapitalistenfreiheit bei Niedriglohn,
Kündigung und Arbeitszeit, einschließlich der passenden
Neuregelung der Steuer- und innerstaatlichen
Finanzordnung nebst aller sonstigen Lebensfragen der
Nation, von der Dosenmaut bis zum Autobahnpfand. All das
kommt ausführlich zur Sprache, ist aber in der heftigen
Konkurrenz zwischen Regierung und Opposition um die
mutigste Rücksichtslosigkeit und den am meisten
zukunftsweisenden Reformradikalismus als
notwendiger und sachlich
alternativloser Ausgangspunkt einer erst am
Anfang stehenden Reformpolitik unterstellt.
Die Prozedur des Vermittlungsverfahrens wird so
zu einem Stück vorgezogener demokratischer
Wahlkampf, der von den dramatis personae einigen
taktischen und darstellerischen Aufwand erfordert: Der
Widerspruch zwischen dem allseitigen Willen, wenn schon
nicht anders, dann eben im Vermittlungsausschuss zu
Ergebnissen zu kommen, die Deutschland politisch
flächendeckend den Bedürfnissen des wachstumsschwachen
Kapitals gemäßer machen, und dem dringenden Wunsch, die
gleichen Ergebnisse als das Werk der eigenen Politik zu
loben und zugleich als Machenschaft der Gegenseite zu
kritisieren, wird durchgespielt. Da will von
Regierungsseite abgewogen sein, wie man die Gegenseite
schlecht aussehen lassen und ihre konkurrierenden
Führungsfiguren gegeneinander ausspielen kann; wie nötig
man überhaupt ein Vermittlungsergebnis
braucht und
wie viel von den eigenen reformerischen Markenzeichen man
dafür aufgeben muss, ohne dem Gegner dadurch allzu viel
Gestaltungshoheit
einzuräumen; ob man daran so
sehr festhält, dass die ganze Veranstaltung platzt und
woran einem mehr liegt: die Union als Blockierer
zu denunzieren, die sich an Deutschland
versündigen
(Schröder)
und deren Bestrafung durch die Wähler zu erhoffen; oder
ob einem mehr liegt an einem Reformschub
, auch
wenn er nicht so ganz exclusiv den Stempel des eigenen
Lagers trägt, und dafür auf künftige Belohnung in
kommenden Wahlen zu hoffen, wenn dann doch der Aufschwung
herbei reformiert wurde. Umgekehrt die Union, die die
Handlungsunfähigkeit
der Regierung beweisen will
und die eigene Regierungsfähigkeit
; sich aber
nicht die Verantwortung für den Stillstand der
Gesetzgebung
in den unaufschiebbaren
Reformangelegenheiten der Nation öffentlich ans Bein
binden lassen möchte, diese vielmehr voranbringen will
und dafür nicht nur einen Wettlauf um die größte
Rücksichtslosigkeit gegen soziale Rechtsansprüche mit der
Regierung, sondern gleich auch noch eine parteiinterne
Konkurrenz um den brutalstmöglichen und deshalb
karriereförderlichen Reform-Radikalismus zwischen den
Kanzlerkandidaten des eigenen Vereins abwickelt. Zu einer
Spitzenleistung demokratischer Streitkultur bringen sie
es alle gemeinsam: In der Debatte darüber, wie die
Reformen zu finanzieren seien und wie man den Aufschwung
auch steuerpolitisch unterstützen könnte, wird hin und
her gewendet, ob die „Große Steuerreform“ sofort und
ganz, nur halb oder erst einmal gar nicht kommen soll.
Dabei berufen sich alle Kombattanten gemeinsam auf die
von ihnen erfundene Figur des Steuerzahlers
, als
Auftraggeber und Nutznießer all der Zumutungen, die ihm
jede der Streitparteien mit ihrem Modell
aufzuladen gedenkt.
Dafür wird der abstrakte institutionelle Prozess
des Vermittlungsverfahrens konsequent auf die handelnden
Personen bezogen und das Verfahren, mit und
unabhängig von seinem Stoff, als Bewährungsprobe
der konkurrierenden Parteiführer und ihrer Chargen
aufbereitet. Dabei kommt alles auf den Maßstab
dieser Bewährung an, mit dessen Anwendung die
politischen Vorhaben, an denen sich die
Konkurrenten beweisen wollen, so sehr als
gebilligt behandelt werden, dass am Ende ganz
der Auftritt der Konkurrenten im Mittelpunkt der
öffentlichen Befassung steht: Wer von ihnen demonstriert
am überzeugendsten Führungskraft
?
Zwecks Beantwortung dieser Frage machen die Parteien mit
Hilfe ihrer Öffentlichkeit das Vermittlungsverfahren zu
einer groß angelegten Werbeveranstaltung für ihre
konkurrierenden Konzepte
und die Führungsfiguren
der Parteien, die diese Konzepte verkörpern. Das tun sie
so gründlich, dass man über den Streit in der Sache gar
nichts zu wissen braucht. Es ist vielmehr völlig
ausreichend, sich eine Meinung zur persönlichen
Führungsstärke, Entschlossenheit, staatsmännischen
Verantwortlichkeit und zum Weitblick der Häuptlinge
zu bilden. Am Ende ist das ganze
Vermittlungsverfahren nichts anderes als der Vollzug
ihres persönlichen konzeptionellen Willens als (künftige)
Führer der Nation, wenn sie, die entscheidenden Figuren,
mit dem letzten Wort das Patt der Unterhändler –
möglichst gegen vier Uhr morgens – auflösen und den
gordischen Knoten vom Eis bringen… Alle im
Umlauf befindlichen Urteile zu den politischen
Streitpunkten, an denen gespannt verfolgt wird,
wieweit die Kontrahenten noch auseinander
sind,
dienen dabei der Belebung des öffentlichen Wettbewerbs
zwischen den demokratischen Thronprätendenten: Die wollen
die Nation von ihrer Alternative des
alternativlosen Reformweges und damit von sich
überzeugen. Dafür erklären sie das Vermittlungsverfahren
zum Testfeld ihrer Skrupellosigkeit, auf dem
sie, nervenstark wie die Teilnehmer im chicken
race, zunächst die frontale Konfrontation suchen,
erst möglichst spät vor dem politischen crash –
einem Scheitern der Vermittlung – ausweichen und sowohl
für ihre Kaltblütigkeit als auch für ihre
staatsmännische Verantwortung gegenüber den politischen
Erfordernissen der reformorientierten Staatsräson Lob,
Bewunderung und – am Ende – Stimmen einfahren wollen.
So kommt es dazu, dass der Vermittlungsausschuss, als internes Werkzeug zur Abgleichung von staatlichen Machtinteressen und ihrer parteilich konkurrierenden Agenten in den Gewalthaushalt der Nation eingeführt, doch ganz ins demokratisch-staatsbürgerliche Leben heim geholt wird:
Er liefert mit seinem Verfahren und seinen
Ergebnissen, versehen mit sachdienlichen
Deutungshilfen seitens der Parteien, viel Stoff für
Publikumsfragen und –zweifel, die sich
fast ausnahmslos damit befassen, ob denn das Erreichte
wirklich genüge und nicht eigentlich viel zu
wenig angesichts des Notwendigen sei. Derlei
Bedenklichkeiten und Unzufriedenheit wollen die Politiker
keineswegs beschwichtigen, sondern viel eher
anstacheln und die provozierte Aufregung für die
eigene Partei nutzbar machen: Organisatorische
Pannen beim Abkassieren von Kassenpatienten oder
Millionenverträge für Leute, die das Arbeitsamt
beim Drangsalieren von Arbeitslosen beraten, werden dabei
zu Beweisstücken für die Unfähigkeit der
Abkassierer und Drangsalierer und dafür, dass mit solchen
Versagern einfach nicht genug Reform ins Land
kommt. Auf die dem Publikum nahe gelegte Frage, wer sich
von den zur Auswahl stehenden demokratischen Führern am
mutigsten der Verantwortung stelle, Deutschland
zukunftsfähig
zu machen, gilt es, sich
entschlossen und überzeugend zu melden und für die
skrupellosesten Beiträge im Wettstreit der Radikalen den
verdienten Bonus einzufordern. So kann man, auch wenn die
Unvereinbarkeit kapitalistischer Wachstumspolitik mit dem
Lebensunterhalt der sehr geehrten Massen immer wüstere
gesetzliche Formen annimmt, guten Mutes damit für sich
werben, dass man, im Vergleich zur Konkurrenz,
bereit wäre, das höhere Reformtempo
anzuschlagen,
und dass man sich zu einem Vermittlungsergebnis, das
sowieso noch nicht weit genug ging, nur deswegen bereit
gefunden habe, um die Hoffnungen des Volkes
nicht zu enttäuschen, das doch zweifellos höchstselbst
seine eigene Schädigung als Eilauftrag an die Politik
vergeben habe, damit es
endlich aufwärts ginge.
Und wenn einem der Souverän nur die ausreichenden
Mehrheiten in Bund und Land verschaffen möchte:
Dann würde man sich damit bedanken, endlich – und ganz
ohne Vermittlungsausschuss – richtig und ganz
grundlegend mit dem notwendigen Umbau von Staat und
Gesellschaft los zu legen. Versprochen!