Tschernobyl und kein Ende – Die unabhängige Ukraine ein Kontrollfall für den Westen

Der Westen wacht darüber, dass der Ukraine die Fortführung traditioneller Beziehungen zu Russland verunmöglicht wird, ohne Kredit zur Kompensierung des Energieausfalls, den die Abwendung von Russland zur Folge hat, zu gewähren. Zum Dank für die Westanbindung wird die Ukraine zur Verschrottung ihrer Atomraketen und zur Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages genötigt.

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Tschernobyl und kein Ende – Die unabhängige Ukraine ein Kontrollfall für den Westen

Im Frühjahr 1986 findet in Block 4 des Atomkraftwerks in Tschernobyl ein Unglück statt, das noch schlimmer ausfällt als der „größte anzunehmende Unfall“, auf dessen Bewältigung ein anständiges AKW ausgelegt ist: eine unkontrollierte Kettenreaktion mit Wasserdampf-Explosion, Graphitbrand und Kernschmelze – der Super-GAU. Ungehindert von jener Art Deckel, wie er nach Auskunft westlicher Kernenergie-Experten selbst im undenkbaren Fall einer Havarie die marktwirtschaftlichen Spaltprodukte für immer und ewig auf dem Betriebsgelände einschließt, gelangt einiges an radioaktivem Material und tödlicher Strahlung feinverteilt in die nähere und weitere Umwelt. Das freie Europa auf der anderen Seite des noch existierenden „eisernen Vorhangs“ gerät in Aufruhr; eine Bedrohung der Menschheit liegt vor und ein neuerliches Verbrechen des Kommunismus, dem eine geradezu kriminelle Verantwortungslosigkeit mit nuklearer Energie eigen ist. System-typisch auch, dass die Sowjetunion zwar durchaus bereit ist, demokratische GAU-Experten um Rat zu fragen – die ungefähr genau so wenig auszurichten wissen wie ihre sowjetischen Kollegen –, nicht aber dazu, die Verantwortung für ihr Atomenergie-Programm an den Westen abzutreten; sogar die Betonplatte unter dem Unglücksreaktor und die Umhüllung des strahlenden Schrotthaufens baut sie mit eigenen Leuten auf eigene Rechnung. Nach der freiwilligen Selbstliquidierung des „realen Sozialismus“ ist es dann aber so weit. Die Ukraine erklärt sich für unabhängig und beantragt sogleich Betreuung durch die Heimatländer des freiheitlichen Atomenergiegeschäfts. Endlich kann sich die von sowjetischen Spaltprodukten betroffene und daher zuständige westliche Welt der Sache annehmen.

Seitdem finden zwischen den großen Weltwirtschaftsmächten und der Ukraine Verhandlungen über Tschernobyl statt – und bis heute ist an dem berüchtigten „Sarkophag“ um den zusammengeschmolzenen Reaktor herum nicht das Geringste geschehen. Zuletzt, im Sommer 1999, werden Verhandlungen, die Kanzler Schröder im Auftrag der G7 mit der Ukraine führt, wieder einmal ergebnislos vertagt. Die einst mit allem erdenklichen Pathos vorgetragene Sorge um den Gesundheitszustand der Menschheit ist da offenkundig nicht federführend; ebenso wenig das Bemühen, im Zeichen der neuen westlich-ukrainischen Völkerfreundschaft bei der Bewältigung der Folgen des Atomunfalls endlich durchgreifend Hilfe zu leisten. Anliegen des Westens ist vielmehr von Beginn an die Klarstellung, dass die sowjetischen AKWs auf ukrainischem Boden allesamt keine gute Erbschaft sind, mit der sich etwas Nützliches, geschweige denn marktwirtschaftlich Ertragreiches anstellen ließe, sondern ein einziges Problem, ein gewaltiger Schwachpunkt in der politischen Ökonomie der frisch gebackenen Nation. Nicht bloß der unselige Block 4 in Tschernobyl fällt unter die Kategorie ‚Erblast‘, sondern im Grunde die Energiewirtschaft des Landes insgesamt und letztlich der überkommene Produktionsapparat überhaupt; alles bedarf westlicher Besichtigung, Kritik, Umgestaltung und Kontrolle: Das arbeiten die demokratischen Freunde des neuen Kiewer Staates am Fall Tschernobyl unerbittlich heraus. Jahr um Jahr mit größerem Recht stellen sie fest, was für sie schon seit der Ausgründung einer souveränen Ukraine aus dem Bestand der alten sowjetischen Union feststeht: Der Status einer zivilen Atommacht, den dieser Staat in sein neues Dasein mitbringt, ist kein Startvorteil, sondern im Gegenteil der eine Grund, weshalb er seine Karriere als unabhängige Macht sogleich als weltpolitischer Problemfall beginnt.

Der andere Grund dafür oder besser: das zweite Handicap der neu konstituierten Nation, bei dem der Westen gleich von Anfang an einhakt, ist nicht bloß physikalisch mit dem ersten eng verwandt: Dass die Ukraine aus den Beständen der aufgelösten Sowjetmacht einen Haufen Atomwaffen erbt, also mit einem strategischen Status ins Dasein tritt, den zu erringen andere, große Nationen keine Mühen und Kosten scheuen, wird von den Mächten, die etwas zu sagen haben, überhaupt nicht als Grundlage einer besonderen militärischen Bedeutung und politischen Wichtigkeit des Staates anerkannt und schlägt auch gar nicht als gewichtiges Machtmittel zu Buche, sondern wird unwidersprechlich zur Problemlage erklärt; und zwar zum Problem mehr für die ukrainische Nation selbst als für die Führungsmächte der demokratischen Welt, die sich sogleich anheischig machen, das Land von dieser überkommenen atomaren Misslichkeit zu befreien. Nukleare Bewaffnung, das ist dem Westen völlig klar und das macht er seinem neuen Partner genauso klar, ist mehr als eine Nummer zu groß und zu gewaltig für einen Staat, der, wie man an Tschernobyl sieht, noch nicht einmal seiner ererbten Rolle als zivile Atommacht gewachsen ist; der Verzicht darauf ist folglich die unerlässliche Vorbedingung des Westens für den großzügigen Akt, die Ukraine als unabhängigen Staat in der Völkerfamilie willkommen zu heißen. Als Lohn für die Preisgabe eines Status, den Kiew ohnehin nicht hätte halten und gegen den Rest der Welt hätte durchsetzen können, wird der Nation Hilfe in Wirtschafts- wie Sicherheitsfragen versprochen – und mit solchen Hilfsversprechungen wird sie Stück um Stück an die Perspektive herangeführt, sich auch in der Frage der friedlich genutzten Kernenergie und seiner Energiewirtschaft überhaupt auf die Größenordnung gesundzuschrumpfen, in der sich das politische und kommerzielle Interesse des Westens an ihr bewegt.

Dabei ist das politische Interesse der westlichen Weltmächte an einem souveränen ukrainischen Staat durchaus nicht gering, allerdings von indirekter, negativer und gewissermaßen zynischer Art: Man will ihn haben und erhalten, um zu verhindern, dass die ehedem sowjetische „Supermacht“ doch noch irgendwie, nun womöglich sogar unter bürgerlicher Führung und als kapitalistischer Konkurrent, weiterexistiert. Die Zerspaltung der sowjetischen Erbmasse in lauter überhaupt nicht funktionale, allein durch jahrzehntelang obsolete Republikgrenzen definierte Einzelteile bietet hierfür die denkbar beste Garantie; freilich nur dann, wenn diese Trümmer einstiger sowjetischer Herrlichkeit sich in nationalistischer Selbstbezogenheit gegeneinander aufstellen und rücksichtslos auch wirklich alle funktionellen Zusammenhänge kappen, die die alte realsozialistische Planwirtschaft zwischen ihnen hergestellt und auf deren Funktionieren, wie schlecht und recht auch immer, die Macht Moskaus beruht hatte. Dass sie sich so aufführen sollen, ist kein geringer Anspruch an diese neuen Staaten; denn mit einer so wahrgenommenen nationalen Unabhängigkeit legen sie nicht bloß die ehemalige Machtzentrale lahm, sondern untergraben auch die Funktionsfähigkeit alles dessen, worüber sie jetzt als ihre unabhängige „Nationalökonomie“ gebieten – die Energiewirtschaft der Ukraine, gerade auch in ihrer nukleartechnischen Abteilung, ist selber ein drastisches Beispiel dafür. Entsprechend groß ist das politische Interesse daran, die Ukraine mit Kooperationsverheißungen zu solcher politökonomischer Selbstverstümmelung, die einem wirtschaftlichen Selbstmord nahe kommt, anzuhalten und darauf festzulegen. Umgekehrt – und das macht den westlichen Zynismus so perfekt – braucht der Westen, wenn der alte übergreifende Wirtschaftszusammenhang durch nationale Verselbständigung und marktwirtschaftliche Umstellung erst einmal ruiniert ist, seinem ukrainischen Zögling und Partner materiell überhaupt nicht viel zu bieten, schon gar keine hinreichenden Mittel fürs ökonomische Überleben, um für seinen Fortbestand unentbehrlich zu sein: Die stornierte und durch nichts Gleichwertiges ersetzte Abhängigkeit der national zertrennten Überreste der sowjetischen Union voneinander garantiert deren Willfährigkeit gegenüber dem Westen, der über so eindrucksvoll funktionstüchtige ökonomische Mittel verfügt und Hilfsbereitschaft in Aussicht stellt.

Was dessen Hauptmächte tatsächlich versprechen, und erst recht, was sie davon einlösen: das hätte sein Maß in den Geschäftsinteressen, die sich auf die Ukraine richten – wenn es die denn gäbe; je länger, umso mehr tendiert das kommerzielle Interesse gegen Null. Die Verheißung hilfreicher ökonomischer Engagements und erst recht deren Realisierung richtet sich daher wiederum danach, was man im Westen für erforderlich hält, um den politischen Willen des ukrainischen Partners unter Kontrolle zu halten – wie wenig das ist, davon wird noch ausführlich die Rede sein. Einiges lässt sich allerdings auch schon dem netten Bild entnehmen, das westliche Politiker von der Ukraine malen, wenn sie ihrem steuerzahlenden Wählervolk pflichtschuldigst ihren Umgang mit einem Staat erläutern, der zwar Gott sei Dank nicht mehr kommunistisch geknechtet wird, ansonsten mittlerweile aber insgesamt nicht viel besser aussieht als sein radioaktiver Schrotthaufen in Tschernobyl und mit seinem ererbten Super-GAU jede westliche Unverschämtheit rechtfertigt. Seit den ersten stolzen Tagen Kiewer Unabhängigkeit bereits wird der ganze Staat bei Bedarf unter das schlagende Verdikt subsumiert: Trotz Tschernobyl auf Atomkurs! Jedes Wiederanfahren eines Reaktorblocks in dem dortigen AKW ruft Protest hervor, namentlich von Seiten der EU. Mit Verweis auf die einstige Katastrophe wird die Ukraine – und nicht die Atomwirtschaft – zu einem einzigen Sicherheitsrisiko stilisiert. An Anleihen bei der guten alten grünen Atom-Kritik lassen es dabei dieselben Politiker nicht fehlen, die, auf dem Gebiet nuklearer Störfälle auch nicht gerade unerfahren, in ihren Heimatländern jeglichen Protest gegen die Rücksichtslosigkeit kerntechnischer Energieerzeugung abräumen – polizeilich, wenn nötig:

„Das Höllenfeuer des Unglücksreaktors darf nie wieder zu einer Bedrohung für die Menschheit werden“ (FR, 17.10.92)

so Peter Hintze zur Wiederinbetriebnahme von Block 3 in Tschernobyl 1992. Ausgerechnet die westlichen Politiker, die die unabweisbaren Erfordernisse eines deutschen oder französischen Standorts bestens kennen, der ohne diese Sorte Energie nicht auskommen kann, wollen woanders Gefahren erkennen, die nie und nimmer zu beherrschen und zu verantworten sind. In einem quid pro quo, das sie sich als westliche Atommächte kategorisch verbitten, schließen sie vom GAU in Tschernobyl auf den staatlichen Hüter der tickenden Zeitbombe, welchem die Hoheit über seine AKWs entzogen gehört. Das übergeordnete Recht des Westens, über die Atompolitik der Ukraine zu befinden, steht dermaßen außer Frage, dass die nationalen Rechnungen der Ukraine erst gar nicht berücksichtigt werden. Wenn sie die dann dennoch anstellt, ist ein zweites Urteil fällig: Wenn dieser Staat, dem wir die Fähigkeit absprechen, diese Technik zu beherrschen, weiterhin AKWs betreiben möchte, dann muss ein böser Wille am Werk sein.

„‚Natürlich geht Tschernobyl vom Netz‘, beteuerte Leonid Krawtschuk alle Mal… Vorige Woche brach er gleich zweimal sein Wort. Die Ukraine wird zwei Reaktoren des Atomkraftwerks, dessen Block 4 vor sieben Jahren explodierte und die bisher größte nukleare Katastrophe verursachte, weiter betreiben – obwohl sogar der Beton um den eingesargten Unglücksreaktor bröckelt.“ (Spiegel, 25.10.93)

Das Gleiche 1999:

„Die Ukraine, das ist in den Augen des Westens vor allem Tschernobyl. Das Kraftwerk ist immer noch nicht abgeschaltet, obwohl die Führung in Kiew dies unablässig seit der Unabhängigkeitserklärung vor acht Jahren versprochen hat. Nicht nur, dass alle Versprechen zu Tschernobyl nicht gehalten wurden – Kiew ist auch den Westen um Kredite für die Fertigstellung von zwei weiteren Atomkraftwerken angegangen.“ (SZ, 18.6.99).

Wortbruch ist das mindeste, was der Ukraine nachgesagt wird. Natürlich ist bekannt, dass der Staat nicht dazu imstande ist, die Folgen der Havarie zu bewältigen und auch auf Atomstrom nicht verzichten kann. Aber das hat nichts zu bedeuten. Wenn sich die Ukraine zu ihrer Not bekennt und als Gegenleistung für die Schließung der weiterhin betriebenen Reaktoren in Tschernobyl um Kredit ersucht, dann erpresst sie uns mit unserer Atomangst. Zwar hat in erster Linie dieser mittellose Staat nebst seinen Insassen und Nachbarn die Folgeschäden zu tragen – in der hiesigen Optik sind aber „wir“ die eigentlichen Opfer! Und zwar deshalb, weil die Ukraine schamlos mit ihrem Sicherheitsrisiko wuchert und dabei nur auf unser Geld aus ist. Wobei die 8 Jahre ergebnisloser Verhandlungen augenscheinlich dokumentieren, dass sich der Westen zu rein gar nichts erpressen lässt, Menschheitsbedrohung hin, Menschheitsbedrohung her.

Das Bild von der kredit- und atomgierigen Ukraine lässt an Hetze nichts zu wünschen übrig: ein ökonomischer Bankrotteur und wortbrüchiger Vertragspartner, der nicht einlöst, was er „uns“ schuldig ist. Und so rechtfertigt sich mit dem facettenarmen Schluss vom schlimmen Atom auf den schlimmen Staat jede Einmischung von westlicher Seite: Diesem Staatswesen gehört die Hoheit über solche Technologien grundsätzlich entzogen. Und nicht nur die.

Das erste Kapitel:
Die einmalige Erfolgsstory der Abrüstung einer de-facto Atommacht

Der Einstieg der USA in die Diplomatie mit dem frisch gegründeten Staatswesen richtet sich umstandslos auf dessen Ausstattung mit 176 Atomraketen und 1800 Atomsprengköpfen, für die man im State department nur eine einzige Verwendungsweise kennt: verschrotten.

Mit dem Belower Abkommen am 8.12.91 haben Russland, Kasachstan, die Ukraine und Weißrussland die Sowjetunion aufgelöst und lauter elementare Souveränitätsfragen aufgeworfen, was Territorium, Volk, Waffen, Geld und Schulden angeht. Für die westlichen Hüter der Weltordnung bedeutet der erfreuliche Umstand, dass der Hauptfeind sich ganz von alleine erledigt hat, aber alles andere als verminderte Aufmerksamkeit: Die Neuaufteilung der Macht begreifen sie postwendend als Herausforderung, dort für genehme Kräfteverhältnisse zu sorgen, und den neuen Konfliktstoff als Mittel, sich einzumischen. In diesem Programm taucht die Ukraine als eine Atommacht auf, die von der westlichen Weltordnung gar nicht bestellt worden ist, und die USA machen sich den Umstand zunutze, dass der Streit zwischen Russland und der Ukraine um das politische Eigentum an der in der Ukraine verbliebenen sowjetischen Raketenmacht schon unterwegs ist. Russland erhebt Anspruch auf den Status des exklusiven Rechtsnachfolgers der Sowjetunion, will die Anerkennung als atomare Supermacht als russisches Erbe monopolisieren und sich auf der Grundlage eindeutiger militärischer Kräfteverhältnisse in der GUS als Führungsmacht dieser Gemeinschaft in Position bringen. (Aus demselben Grund erklärt sich Russland auch für alle sowjetischen Schulden zuständig.) Die USA wiederum, für die im Prinzip jede auswärtige Atommacht eine Atommacht zu viel ist, finden es nützlich, dieses russische Interesse so weit anzuerkennen, wie es sich für die Ausdehnung ihres Non-Proliferations-Regimes auf die neue Staatenwelt funktionalisieren lässt.

Diesen Berechnungen verdankt die Ukraine ihre zwiespältige Behandlung: Als Spaltprodukt und Instrument, um der neuen russischen Macht Grenzen zu ziehen, wird sie von der Völkerfamilie zwar unentwegt zu ihrer Unabhängigkeit beglückwünscht. In ihrer anderen Eigenschaft als viert- oder gar drittgrößte Atommacht – so veranschlagen westliche Experten das auf dem Boden der Ukraine verbliebene Potential – wird sie aber unter die Kategorie eines Sicherheitsrisikos gefasst, das es „gemeinschaftlich“ zu entschärfen gilt. Und so wird der frisch gegründete Staat damit konfrontiert, dass seine Erbschaft aus den glorreichen Zeiten der Sowjetunion weder von Russland noch von den USA als seine Erbschaft anerkannt wird. Die eigentümliche Allianz dieser Atommächte definiert die Ukraine ebenso wie Weißrussland und Kasachstan als „de-facto-Besitzer“ von Atomwaffen, eine Statuszuweisung, die die internationale Anerkennung, die Rechtmäßigkeit einer nationalen Verfügung über Atomwaffen kategorisch ausschließt. Sowohl die USA als auch Russland praktizieren diesen Standpunkt, indem sie sich weigern, die Entwaffnung, die sie verlangen, überhaupt als Verhandlungsgegenstand anzuerkennen. Sie fordern die bedingungslose Verschrottung der strategischen Atomraketen, die Sprengköpfe sollen an Russland übergeben, das Start-I-Abkommen soll ratifiziert werden, und mit der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags soll sich die Ukraine ein für alle Mal mit dem völkerrechtlichen Status eines have-not einverstanden erklären. Erst nach der prinzipiellen Zustimmung zu diesem Programm, so das Ultimatum der USA, darf über die

„finanziellen Hilfen zur Demontage der Kernwaffen oder über entsprechende Sicherheitsgarantien für die Abgabe der Nuklearwaffen auch nur verhandelt werden.“ (Österreichische Militärische Zeitschrift, 1/94)

Ein Sonderfall in der Geschichte der Rüstung und Rüstungsdiplomatie: Eine Staatsgründung beginnt mit einem Abrüstungsdiktat wie nach einem verlorenen Krieg, und als etwas Ähnliches wie eine Kapitulation haben die USA das Abtreten der Sowjetunion wohl auch begriffen – mit der kleinen Besonderheit, dass sie jetzt drei der Nachfolgestaaten den Vollzug abverlangen. Ein neuer Fall von Non-Proliferation, bei dem Mächte auf Atomwaffen, die sie haben, Verzicht leisten sollen, weil die Weltaufsicht einen durch Staatsauflösung zustandegekommenen Atomwaffenbesitz als unerlaubte „Proliferation“ betrachtet. Und eine ziemliche Zumutung für die Ukraine: Als Bedingung für die Anerkennung ihrer neuen Staatsmacht soll sich die Ukraine ausgerechnet der Gerätschaften begeben, die in der vorliegenden Staatenwelt für Anerkennung der ersten Klasse sorgen. Sie soll die Mittel aufgeben, aus eigener Kraft für ihre Sicherheitsinteressen einzustehen, ausgerechnet in einer Lage, in der ihr Wille zur Unabhängigkeit mit der militärischen Fähigkeit der Selbstbehauptung steht und fällt. Einige Gegensätze der härteren Art mit Russland wie der Streit um die Schwarzmeerflotte, die Zugehörigkeit der Krim zum eigenen Staatsgebiet und der Status der russischen Bevölkerung auf ukrainischem Staatsgebiet sind schließlich schon unterwegs. Als „Gegenleistung“ wird ihr die politische Garantie der Atommächte geboten, eben jene Sicherheitsinteressen zu respektieren, für die die Ukraine selbst gar nicht mehr sorgen kann. Und damit die Ukraine die Natur der Garantie nicht missversteht, wird von Seiten der USA ausdrücklich dementiert, dass die politische Sicherheitsgarantie mit einer militärischen verbunden ist; in militärische Auseinandersetzungen, über die sie in keiner Hinsicht die Kontrolle hat, will sich die Führungsmacht nicht verwickeln lassen. Zwar bieten die USA die Aussicht auf eine wohl wollende Behandlung ukrainischer Interessen durch die NATO und Zusammenarbeit im Rahmen des NATO-Programms partnership for peace – Voraussetzung ist aber die freiwillige Selbstentmachtung der Ukraine. Der Zusammenschluss der USA und Russlands in der Frage der Raketenverschrottung führt diesem Staat mitten in seiner Gründungsphase vor, dass seine Unabhängigkeit gegen Russland genau so weit reicht, wie sie die Weltmacht Nr. 1 konzessioniert.

Die Ukraine lehnt die Entwaffnung ein paar Jahre lang ab, verlangt für ein Entgegenkommen wenigstens weitergehende Sicherheitsgarantien und weigert sich bis 94, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen. Damit zieht sie sich härtere Drohungen zu:

„Kiew ignoriert alle Warnungen vor außenpolitischer Isolierung. Die USA dulden im Atomklub keinen neuen Staat, dessen Raketen auf amerikanische Städte zielen könnten. Russland widersetzt sich kategorisch einem nuklear bestückten Nachbarstaat, der zu militärischen Drohgebärden fähig ist und geheime Atomwaffentechnologie erwirbt.“ (Spiegel, 25.10.93)

Zudem machen einige Erpressungen den neuen Staat nachdrücklich darauf aufmerksam, wie ohnmächtig er mit seiner Unabhängigkeit dasteht. Russland droht 92 mit der Einstellung der Öl- und Gaslieferungen und 93 mit der Einstellung der Lieferung von Kernbrennstoff. 93 wird kurzfristig ein Lieferstopp durchgeführt. Der amerikanische Präsident Bush warnt in Kiew das ukrainische Parlament vor „selbstmörderischem Nationalismus“, US-Außenminister Christopher droht auf der Tagung des NATO-Kooperationsrats Dezember 93 mit der Einstellung jeglicher Wirtschaftshilfe für die Ukraine, auch wenn es eine solche bis dahin faktisch gar nicht gegeben hat. In diesem Rahmen leistet dann auch der Fall Tschernobyl seine Dienste: Die 1992 begonnenen Verhandlungen über Hilfestellung wollen einfach nicht von der Stelle kommen, die USA binden nämlich jede Kreditzusage der G7 für die Schließung von Tschernobyl an die Bereitschaft zur Verschrottung der Atomwaffen und Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags. Die Ukraine zeigt angesichts solch überzeugender Argumente Einsicht und erklärt sich zur Teilverschrottung bereit, was ihr als neuerlicher übler Trick ausgelegt wird:

„Die Ukraine denke nicht daran, auf Null abzurüsten, stellte der wendige Krawtschuk vorigen Dienstag klar. Von den derzeit 176 strategischen Atomraketen werden nach Ratifizierung des Start-I Abrüstungsvertrages nur die SS-19 verschrottet. Die 46 moderneren SS-24 möchte Kiew ‚gestalterisch‘ als Verhandlungsmasse gegenüber dem Westen behalten.“ (Der Spiegel, 25.10.93)

Doch auch in dieser Phase der Teilzugeständnisse in Sachen Selbstentwaffnung bewährt sich die Allianz der Atommächte. Zu gestalten gibt es für die Ukraine auch in Richtung Westen einfach nichts.

„Kiew solle überdies den so genannten Nichtverbreitungsvertrag sowie das Wiener Übereinkommen über die Haftung auf dem Gebiete der Kernenergie ratifizieren und bestehende Abrüstungsvereinbarungen im nuklearen und konventionellen Bereich vollständig erfüllen.“ (HB, 27.6.94)

Um die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags zu erzwingen, erhöhen die USA ihrerseits den diplomatischen Druck und wenden dessen Bestimmungen gegen die Ukraine an:

„So lange die Ukraine nicht den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen unterzeichnet hat, darf auch kein Material zur Verbesserung der Sicherheit der ukrainischen Kraftwerke geliefert werden.“ (FAZ, 24.2.94)

Die Frage, wer hier wen mit einem atomaren Schadensfall erpresst, haben die öffentlichen Meinungsbildner bei diesem Akt guten Zuredens selbstverständlich nicht aufgeworfen.

Am 14.1.94 wird schließlich in einem trilateralen Rahmenabkommen zwischen Russland, der Ukraine und den USA die Entwaffnung der Ukraine fixiert – gegen finanzielle Kompensationen und Sicherheitsgarantien, und am 16.11.94 ratifiziert das ukrainische Parlament den Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag. Die Vernichtung der Raketen übernehmen die USA. Mit der ihnen eigenen Gründlichkeit in diesen Fragen kümmern sie sich auch um die Zerstörung der Raketensilos, der Kommandozentralen in Bunkerschächten sowie der Bodeninfrastruktur der mobilen SS-24 Interkontinentalraketen, die bis 99 durchgeführt und durch das Nunn-Lugar-Programm finanziert wird. Russland übernimmt die Atomsprengköpfe und verpflichtet sich im Gegenzug zur kostenlosen Lieferung von Brennstäben für die ukrainischen AKWs bis 99. Eine gewisse antirussische Komponente des Abkommens, in dem immerhin die USA die Unabhängigkeit der Ukraine gegen Russland politisch garantieren, bleibt Russland zwar nicht verborgen, wird aber wegen der atomaren Entwaffnung der Ukraine in Kauf genommen.

Die Ukraine verliert ihre Atomwaffen und verabschiedet sich von jeglicher Absicht, sich in Zukunft die Anerkennung als Atommacht zu verschaffen; entschädigt wird sie dafür von den USA durch ein Sonderverhältnis: Während sie bislang wegen ihres Widerstands gegen die verlangte Entwaffnung von den USA mit äußerstem Argwohn behandelt wird, darf sie sich nun dank der vertraglich protokollierten politischen Sicherheitsgarantien gegenüber Russland gewisse Hoffnungen auf eine Funktion der USA als Schutzmacht machen. Aus ihrer Sicht ist die prekäre Lage gegenüber dem übermächtigen Nachbarn durch die Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit, zu der sich Russland den USA gegenüber verpflichtet hat, etwas entschärft. Und sie lässt sich auf das Angebot des Westens ein, ihre atomare Entwaffnung nicht mehr nur negativ, als Angriff auf die eigenen Interessen zu begreifen, sondern als Mittel einer verbesserten Westintegration. Diesen Weg hält die Ukraine schließlich auch für unabdingbar, um sich mit ihrem Staatsgründungsprogramm gegen Russland behaupten zu können.

Diese Berechnungen sind freilich zweischneidig genug: Als Störquelle für das Einverständnis mit dem Westen sind die Nuklearwaffen zwar aus der Welt geschafft, ebenso aber auch als Druckmittel, um die andere Seite zur Berücksichtigung eigener Interessen zu bewegen. In den Verhandlungen mit den G7 figurieren sie fortan nur noch als schieres Bettelargument: Die Ukraine ersucht ergebenst darum, dass der Westen ihren einmaligen guten Willen nachträglich belohnt. Und an der Tonlage der Parlamentsresolution wird schon ziemlich klar, wie weit man sich nun vom guten Willen der anderen Seite abhängig weiß:

„Das Parlament in Kiew äußerte die Hoffnung, dass die internationale Gemeinschaft Verständnis für die Probleme des Landes zeige und die Forderung nach Schließung des Atomkraftwerks nicht überbetone… An die G7 -Gruppe der wichtigsten Industriestaaten der Welt richteten die Abgeordneten die Bitte, ihre Hilfe zur Beseitigung der Schäden, die die Atomkatastrophe von 1986 verursacht hat, zu verstärken. Immerhin sei die Ukraine die erste Atommacht der Welt, die ihr Nuklearwaffenarsenal verschrotte.“ (HB, 27.4.95).

Mit dem Abkommen ist der grundsätzliche Vorbehalt der USA gegen die Ukraine vom Tisch. Die zivile Nutzung der Atomenergie, die die USA bis dahin der Ukraine mit dem Titel Tschernobyl bestritten haben, wird nicht mehr nur negativ, als materielle Basis für Atomwaffen beurteilt. Das eröffnet ein neues Kapitel von Verhandlungen, bei dem nun das europäische Interesse zur Geltung kommt, sich als Kontrollmacht und Geschäftsinteressent in die osteuropäische Atomwirtschaft einzuschalten. Deutschland, das als Nichtatommacht bei der Entwaffnungsfrage nichts zu melden hat und seit 92 mit dem Antrag hausieren geht, dass sich die G7 der Atom- und Energiepolitik der Ukraine annehmen sollten, erhält dafür jetzt die Zustimmung seiner Partner.

Das zweite Kapitel:
Wir entscheiden mit über die Energiepolitik der Ukraine, und nicht nur über die

1. Das Tschernobyl-Memorandum

1995 führen dann die Verhandlungen über Tschernobyl zu einem Resultat: Das „Memorandum of understanding“ wird unterzeichnet. Die Ukraine verpflichtet sich, Tschernobyl im Einklang mit der am 20. Dezember 1995 unterzeichneten Vereinbarung und all ihren Bestimmungen spätestens im Jahre 2000 stillzulegen, während sich die G7 dazu bereit erklären, eng mit der Ukraine und den Internationalen Entwicklungsbanken zusammen zu arbeiten, um Maßnahmen zur Unterstützung des Beschlusses zu entwickeln. (Bulletin der Bundesregierung, Nr. 31, 23.4.96) Von „schneller unbürokratischer Hilfe“, zu der sich die sieben reichsten Nationen der Welt zum Zweck der Entschärfung der „Zeitbombe“ Tschernobyl aufraffen würden, kann allerdings auch nach Vereinbarung des Memorandums so wenig wie vorher die Rede sein. Seit 95 setzen sich die Verhandlungen über die Umsetzung der gemeinsamen Absichtserklärung als Streit über die entsprechenden Maßnahmen fort, ohne dass jemals nennenswerte Anteile der damals zugesagten 3,5 Mrd. DM für die angebliche gemeinsame Aufgabe locker gemacht werden, noch nicht einmal für eine Erneuerung des Sarkophags. [1]

Auch das Tschernobyl-Memorandum hat nämlich eine Neuerung in der Geschichte internationaler Vertragskunst zuwege gebracht: Unter dem Titel Unterstützung haben sich die G7 gegenüber der Ukraine zwar der Form nach auf eine Entschädigung für die komplette Abschaltung der Anlage in Tschernobyl verpflichtet – der Sache nach aber auf gar nichts. Sie haben vielmehr sich dazu ermächtigt, darüber zu entscheiden, wie diese Entschädigung aussehen soll. Die Ukraine hat sich die Zusage abhandeln lassen, nicht mehr souverän und nach eigenen nationalen Berechnungen, seien diese wirtschaftlicher oder sicherheitstechnischer Natur, über die Abschaltung von Tschernobyl zu befinden. Aber nicht nur das: Auch bei der Frage, welche Energieträger, Kernkraft, Gas, Kohle, an die Stelle Tschernobyls treten sollen, ist sie nun auf die Zustimmung der G7 angewiesen, wenn sie sich die Zusage von Kredit für „Ersatzstrom“ erhalten will. Angela Merkel präsentiert den neuen Standpunkt gegenüber dem Hilfsobjekt Ukraine, den sich die westlichen Retter der Menschheit mit dem Memorandum erarbeitet haben:

„Die Ukraine ist der Meinung, dass heute schon für alle in Rede stehenden Projekte feste Finanzierungszusagen gemacht werden müssen – wogegen die G7 sagen, dass die Projekte erst einmal spezifiziert werden müssen, bevor man über die Finanzierung redet.“ (Die Zeit, 17.7.95)

Die G7 sind sich offenkundig sicher, wie viel in diesem Staat mit ihrem Kredit steht und fällt. Daher nehmen sie sich die Freiheit heraus, mit der bloßen Zusage von Kredit die Ukraine darauf zu verpflichten, über sämtliche Fragen der nationalen Energieversorgung die G7 befinden zu lassen. Verlangt ist die Aufgabe staatlicher Hoheit, und zwar in einer Materie von ziemlich elementarer Bedeutung – dieselben G7 haben in den 70er-Jahren, als die OPEC versuchte, den Ölpreis zugunsten der Förderländer einzusetzen, erstens eine Hetze erster Klasse gegen die „Ölscheichs“ veranstaltet; zweitens haben die Europäer diese Affäre ironischerweise als vorwärts treibendes Moment für den Ausbau der Atomenergie wahrgenommen, um ihre Erpressbarkeit zu überwinden! Die Ukraine soll aber die elementare Staatsfunktion einer gesicherten Energieversorgung nicht nach ihren nationalen Gesichtspunkten und Rechnungen wahrnehmen, sondern nurmehr unter Berücksichtigung der Rechnungen der imperialistischen Weltordner.

2. Das Objekt der Betreuung

Bei der in Frage stehenden Materie, dem Energiesektor der Ukraine, den die G7 nun unter ihre Obhut genommen haben, handelt es sich um ein Objekt von besonderem imperialistischen Reiz. Nicht nur in dem Sinn, dass von diesem Grundstoff so ziemlich alles weitere Wirtschaften und das Überleben der Bevölkerung abhängt; vielmehr hat man sich dabei auch in das Kapitel der ukrainischen Krisenlagen und Beziehungen zu Russland eingeschaltet.

Das Erbe aus Sowjetzeiten, das bei der Ukraine verblieben ist, hat seine Tauglichkeit mit der Zerlegung in Nationalstaaten und der Einführung der kapitalistischen Geldrechnung ziemlich schlagartig verloren. Was der vormaligen Sowjetrepublik an unionsweiten Ressourcen zur Verfügung stand, ist nun Eigentum anderer neuer Staaten – die Reichtumsquellen der Ukraine sind auf das zusammengeschrumpft, was auf ihrem Territorium anzutreffen ist, und der Staat findet sich in der Rolle eines Rohstoffimporteurs wieder. Alles, was vorher an Energieversorgung in der Ukraine funktionierte, kostet nun Geld, vom russischen Erdöl und Erdgas bis hin zu den russischen Brennstäben und russischer Sicherheitstechnik für die Kernkraftwerke. Was sich mit der materiellen Ausrüstung, die reichlich vorhanden ist, von Erdgaspipelines, Kraftwerken, Erdölraffinerien bis zu Produktionsstätten von Raketen und Militärflugzeugen anstellen lässt, ist nun ganz davon abhängig, wie viel an Geldmacht der ukrainische Staat aufzubringen vermag, für den Unterhalt der Produktionsanlagen wie als zahlungskräftiger Importeur. Tschernobyl wiederum mit seinen exorbitanten Kosten, das vormals als Allunionsaufgabe behandelt und unter den Bedingungen der Havarie nur provisorisch eingesargt worden war, arriviert nun zu einem Posten im Staatshaushalt von an die 15 Prozent . Der Staat seinerseits verfügt im Unterschied zu Russland mit seinen Rohstoffen über keinerlei nennenswerte Devisenquellen, von wegen Unabhängigkeit tritt er auch aus der Rubelzone aus und druckt ein Ersatzgeld, das im Folgenden schon im Inneren mit dem Rubel um den Rang von Erst- und Zweitwährung zu kämpfen hat. Finanziell betrachtet, ist die Ukraine von Beginn ihrer Unabhängigkeit an zahlungsunfähig, und materiell kann sie die nationale Energieversorgung nicht autonom garantieren, sondern ist auf Russland verwiesen, ausgerechnet auf das Land, mit dem im Namen der Unabhängigkeit lauter elementare Souveränitätsfragen auszutragen sind. Und eben diese Problemlage fordert den Westen zur Beaufsichtigung heraus: Die Bewältigung darf auf keinen Fall den Beteiligten, Russland und der Ukraine, überlassen werden.

Dementsprechend verlaufen die Tschernobyl-Verhandlungen: Während die Ukraine, die 92 unter dem Eindruck der Nuklearkatastrophe und der westlichen Reaktionen ein Atommoratorium verhängt hatte, Kredit für den Bau eines Kombi-Gaskraftwerks beantragt, damit sie Tschernobyl schnellstmöglich schließen kann, müssen ihr die G7 mitteilen, dass das auf keinen Fall geht. 95 kann es der Westen – stellvertretend für die Ukraine, die nun zu unserem Schutzbefohlenen mutiert ist – nicht ertragen, dass Russland, dessen ökonomische Macht sich nach der Auflösung der SU und der Einführung der kapitalistischen Rechnungsweise mehr oder minder auf die eines Rohstoffexporteurs zusammengekürzt hat, mit seinen Rohstoffexporten immer noch gewichtige Mittel in der Hand hat, seinen Einfluss auf die Ukraine geltend zu machen.

Und diese Mittel bestehen in Erdgas und Erdöl, die die Russen übrigens nach wie vor zu Sonderkonditionen, unterhalb der Weltmarktpreise, liefern. Diese Mittel bestehen aber auch noch in der russischen AKW-Technik: Es gibt noch zwei ukrainische Kernkraftwerke, Riwne 4 (R4) und Khmelnizki 2 (K2), die schon bis zu 80 Prozent fertig gestellt waren, als der Bau nach der Havarie in Tschernobyl unterbrochen wurde. Auf diese Objekte richtet sich nun das westliche Interesse als bevorzugte Quelle für Ersatzstrom: Denn erstens relativiert diese Sorte Stromerzeugung die Abhängigkeit von russischem Erdöl und Erdgas, zweitens will sich der Westen mit seiner Atomtechnologie in die Fertigstellung einschalten, die Russen auch auf diesem Gebiet ausmanövrieren und drittens an diesen Objekten den Einstieg in die gesamte osteuropäische Atomwirtschaft, die mit russischen Reaktoren-Typen ausgerüstet ist, erreichen. Auch hier funktioniert Tschernobyl als der Berufungstitel: Die RBMK-Reaktoren, der Tschernobyl-Typ, seien grundsätzlich nicht umzurüsten; nicht nur der Reaktor in Tschernobyl, sondern alle 15 Stück in der GUS gehörten abgeschaltet. Die Anlagen R4/K2 vom Typ WWER-1000 werden dagegen zwar als unsicher bewertet, aber gelten als geeignet, mit westlicher Sicherheitstechnik, die ja über jeden vernünftigen Zweifel erhaben ist, umgerüstet zu werden. Die russischen Mittel zur Einflussnahme lassen sich allerdings gar nicht grundsätzlich aushebeln: Ukrainische Brennstäbe werden in Smolensk aufgearbeitet, der atomare Sondermüll in Sibirien gelagert, die Sicherheitsanalysen ebenso wie die Baumateralien werden aus Russland bezogen, und schließlich ist auch in weiterer Zukunft ein Einstieg in den osteuropäischen Reaktorbau ohne eine Kombination von russischer und westlicher Technik technisch gar nicht zu machen.

Dass sich Russland nicht komplett ausmischen lässt, wird bei der westlichen Entscheidung, als Ersatz für Tschernobyl die Fertigstellung von R4/K2 zu kreditieren, auch in Rechnung gestellt, man setzt aber darauf, dass damit immerhin schon einmal ein Einstieg in den Ausstieg aus dem russischen Monopol auf Atomtechnologie im GUS-Bereich in Gang kommt und die G7 einen Schritt vorwärts gemacht haben, um die ukrainische Produktion von Atomstrom zu kontrollieren. Ein Interesse, auf das sich vor allem Frankreich und Deutschland gegenüber dem ukrainischen Vorschlag versteifen. Wie schon diese anfängliche Konstellation zeigt, sind die Interessen der Ukraine, die mit ihrem Dilemma, den Abhängigkeiten von Russland auf der einen Seite und ihren nationalen Gegensätzen zu dieser Macht auf der anderen Seite, herummanövriert, keineswegs deckungsgleich mit dem Standpunkt der selbst ernannten Protektionsmächte. Das westliche Bemühen, den Einfluss Russlands auf die Ukraine einzudämmen, indem man dessen Mittel eliminiert, bedient eben noch lange nicht ukrainische Interessen – auch und gerade dort, wo sich der Westen dieser Gegensätze annimmt, um seinen Einfluss auf die Ukraine zu etablieren.

Noch in einer weiteren Frage erklären sich die G7 zum Schutzpatron der ukrainischen „Unabhängigkeit“: Die Ukraine ist zahlungsunfähig und nicht in der Lage, ihre Schulden gegenüber Russland zu begleichen, das ebenso mit lauter Zahlungsausfällen zu kämpfen hat, so dass Gazprom bisweilen mit der Unterbindung der russischen Erdgas- und Erdölzufuhr Zahlungen erzwingt – auch darum muss sich der Westen nun kümmern. Ein Arrangement zwischen Gläubiger und Schuldner, herbeigeführt mithilfe der weltmarkt-üblichen Formen der Erpressung, darf diesen beiden Staaten nicht überlassen bleiben. Auf keinen Fall sollen die gesammelten Posten der Abhängigkeit von Russland zum Material nützlicher Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten werden. Und schon gleich nicht zu einem Ertrag für Russland, das nach allen imperialistischen Berechnungen hier leider am längeren Hebel sitzt. Deshalb kümmert sich der Westen, dem jeder Kredit für die Ukraine eigentlich zu schade ist, sogar um die russisch-ukrainischen Schulden-Verhandlungen:

„Die Frage der Verschuldung der Ukraine gilt als entscheidend für die Einflussverteilung zwischen dem Westen und Russland. Während der Westen mit seinen Kreditlinien eine gewisse Umschuldung vornimmt (westliche Gläubiger treten an die Stelle russischer Kreditoren), versucht Russland verstärkt, aus der hohen ukrainischen Verschuldung wirtschaftlich Kapital zu schlagen… Umtausch von Schuldentiteln gegen Unternehmensanteile bei der Privatisierung…“ (NZZ, 27.12.95)

Wie man Schulden in politischen Einfluss umsetzt, da kennt sich der Westen bestens aus. Schließlich soll ja das Tschernobyl-Memorandum selbst zu gar nichts anderem dienen als dazu, den Schuldner Ukraine auf die G7 statt auf Russland zu verpflichten. Wie die Interessen des Schuldners unter diesem Gläubiger-Regime dann zum Zug kommen, dokumentieren die ersprießlichen Memorandums-Verhandlungen der folgenden Jahre.

3. Ein Gesamtkunstwerk von Hilfe: Wie ein Kredit, der nie ausgezahlt wird, dennoch als Instrument funktioniert, in die Ukraine hineinzuregieren und den Staatswillen zu disziplinieren

Kaum ist der imperialistische Zugriff in Form des Tschernobyl-Memorandums institutionalisiert, wirft der Westen die Frage auf, wie viel Kredit er sich diesen Zugriff überhaupt kosten lassen will, d.h. im Klartext, wie viel ihm die Betreuung der Ukraine wert ist.

Für diese Sorte Politische Ökonomie ist die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) zuständig. Diese Bank verwaltet erstens die Interessen der G7 in Sachen Osteuropa-Beaufsichtigung, zweitens das Nuklearkonto, das die G7 für die Betreuung dieser brisanten Materie im Osten eingerichtet haben; drittens versorgt sie die Herren des Kredits mit der Antwort auf die Frage, ob der politische „Atomkredit“ denn auch gut angelegt ist und die ökonomische Form des Kredits mit Zins und Tilgung ansatzweise wahrt. Viertens fungiert die Bank als Forum, in dem die konkurrierenden Gesichtspunkte der G7 -Nationen aufeinander treffen, was die Gewichtung von „politischen“ und „wirtschaftlichen“ Aspekten des Kredits betrifft, und in dem die Kreditgeber untereinander aushandeln, was ihnen ihr Interesse am Einstieg in die Ukraine jeweils wert ist. Dazu gesellen sich dann widerstreitende Gesichtspunkte innerhalb der Osteuropabank, die von Berufs wegen sowohl die übergeordneten Interessen der G7 als auch den schlichten Gläubigerstandpunkt einnimmt.

Das Recht auf Mitentscheidung über den Energiesektor der Ukraine, das sich die G7 mit dem Memorandum erworben haben, wird nun von der Osteuropabank wahrgenommen, und das mit Hilfe von Kriterien für die Kreditvergabe, die man in das Memorandum gleich hineindiktiert hat: Wirtschaftlichkeit, Kreditwürdigkeit des ukrainischen Kreditempfängers Energoatom, Reaktorsicherheit und Umweltverträglichkeit. Die Bewältigung eines GAU und seiner Folgen hat sich nun also auch vor so erhabenen Maßstäben zu rechtfertigen wie dem, ob und wie sich das rentiert! Damit hat die Osteuropabank aber, getrennt von der übergeordneten Beschlussfassung der G7, Kriterien an der Hand und obendrein in ihrem Statut verankert, auf die sie sich bei ihrer kritisch kontrollierenden Begutachtung der Ukraine berufen kann. Das verleiht ihr eine gewisse Eigenständigkeit in der imperialistischen Arbeitsteilung und reicht alle Mal für ein paar neue Zumutungen gegenüber dem Betreuungsobjekt. Ausgesprochen praktisch aufgelegt, hat sich die Bank in den fünf Jahren Laufzeit des Memorandums außer mit der Erstellung von vielen Gutachten und Reformgeboten vor allem mit der Blockade von Kreditzuteilungen bemerkbar gemacht.

So viel stellt das Gezerre seit 95 jedenfalls klar: Die G7 wollen nichts so recht befürworten und kreditieren, ohne dass sie aber für Abbruch der Verhandlungen plädieren. Auf die Rechtsposition, in den ukrainischen Affären mitzuentscheiden, wird keineswegs verzichtet. Dabei nimmt man sich die Freiheit, während des ewigen Prüfens und Begutachtens die aktuellen Notlagen der Nation gnadenlos zu ignorieren, den kontinuierlichen Niedergang dann aber zunehmend als „Argument“ dafür in Rechnung zu stellen, dass sich letztlich gar kein Projekt lohnt bzw. rechtfertigt. Während der jahrelangen Begutachtung hat man sich zum Standpunkt vorangearbeitet, dass die Kontrolle über dieses Gebiet und seine Affären doch wohl billiger zu haben sein muss und dass man dabei auch noch auf den Schein eines materiellen Angebots ganz gut verzichten kann.

Dokumentiert und untermauert wird diese Sorte Befassung in so genannten Machbarkeitsstudien, für die die Bank, im Unterschied zur Sanierung irgendeiner Sorte von Energieerzeugung in der Ukraine, Kredit übrig hat. Gleichgültig, ob als Pro oder Kontra zu R4/K2 – salomonischerweise gibt es eine Pro-Studie, eine Kontra-Studie und eine unentschiedene –, auf ihre Weise ziehen die Gutachten und Stellungnahmen der Bank die Bilanz eines wirtschaftlichen Untergangs, ohne dass sie sich für dieses Fazit weiter interessieren. Vielmehr werden in aller wissenschaftlichen Sorgfaltspflicht „nur“ die Kriterien für sinnvolle Projekte an ein Land angelegt, in dem wegen des Zusammenbruchs beim besten Willen keine Voraussetzungen für eine sinnvolle, nämlich sich kapitalistisch rechnende Anlage zu entdecken sind. Das Examinierungsverfahren geht streng borniert an den Gesichtspunkten der funktionellen Einrichtung eines kapitalistischen Energiesektors entlang und landet jeweils bei der Feststellung, dass alles das in der Ukraine nicht funktioniert. Daraus leiten die westlichen Partner dann gegenüber der Ukraine lauter Gebote und Forderungen ab, die diese erst einmal zu erfüllen hätte – rücksichtslos dagegen, ob das überhaupt in ihrer Macht liegt –, bevor man ihr die Gunst von Krediten gewährt. Und was die eigenen Zusagen von früher betrifft, werden die Zweifel daran immer deutlicher: Wozu soll ein von außen gesponsorter Aufbau der Ukraine oder ein bisschen Reparatur überhaupt gut sein?

a) Wie viel Strom braucht die Ukraine überhaupt?

Nachdem die Zusage von Kredit für die Fertigstellung der Kernkraftwerke in Riwne und Khmelnizki an die Bedingung der Wirtschaftlichkeit gebunden ist, propagiert die Osteuropabank die Lesart, dass es sich dann auch um die kostengünstigste Variante von Ersatzstrom handeln muss. Schon 95 vertritt sie den Standpunkt einer Minimalkosten-Alternative mit dem schönen Argument, warum sollte die Ukraine einen weiteren Koloss bauen, den das Land sich nicht leisten kann – so der Vertreter der EBRD in Kiew Kinach (HB, 12.10.95) –, betrachtet also die Ukraine mit den Augen eines Gläubigers, der seinen Schuldner ohnehin schon weitgehend abgeschrieben hat.

Die Kontra-Studie unter Professor Surrey, Universität Sussex, bedient diesen Standpunkt mit einem vernichtenden Urteil über das K2/R4-Projekt, indem sie schlicht das Quantum des faktischen Energieverbrauchs ins Auge fasst und von allen Ursachen für den rapiden Abfall ebenso abstrahiert wie vom lebhaften nationalen Interesse, diese Ursachen zu beseitigen. Sie gelangt zu dem Ergebnis,

„dass die Elektrizitätsnachfrage in der Ukraine durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung derart gesunken sei, dass es eine große Überkapazität in der Energieerzeugung gebe.“ (FAZ, 3.3.97)

Mit Hilfe des schlagenden Arguments der gutachterlichen Bagage, dass der Stromverbrauch 97 um circa 35 Prozent unter dem Stand von 91 liegt, hat die Osteuropabank also die Frage in die Welt gesetzt, ob die Ukraine überhaupt Ersatzstrom braucht. Der mit der Einführung kapitalistischen Abrechnens erzwungene Bankrott nicht weniger Industriebetriebe, Werkstätten und landwirtschaftlicher Unternehmen wird ungerührt als Senkung des Stromverbrauchs zusammengerechnet und in das Dekret überführt, dass bei der Forderung nach Ersatzstrom ja wohl kein Bedarf der ukrainischen Wirtschaft vorliegen kann. Und mit eben diesem Argument, das den ökonomischen Zusammenbruch ganz objektiv als geschrumpften Energiebedarf bilanziert, wird gegenüber der Ukraine herumgerechtet, inwieweit ihre „landestypische Energiekrise“ überhaupt den Namen Krise verdient.

„Während Kiew alljährlich eine landestypische ‚Energiekrise‘ beklagt, stellt K2/R4 nach Meinung der EBRD-Experten eindeutig eine Überschuss-Kapazität dar. Die Ukraine hat eine installierte Leistung von etwa 54000 MW, aber die Spitzenlast lag 1997 nur bei rund 30000 MW.“ (a.a.O.)

Soll der Staat doch froh sein, wenn seine ökonomische Grundlage dahinschwindet! Dann kann er sich auch die aufwendigen Investitionen im Energiesektor sparen.

b) Wie ist es um die Finanzen des Landes und seine Kreditwürdigkeit bestellt?

Ein anderes Gutachten, das der Europäischen Investitionsbank (EIB), konzediert der Ukraine wiederum, dass das Phänomen Strommangel nicht ganz von der Hand zu weisen ist:

„Doch das liegt laut EIB-Gutachten nicht an fehlenden Kraftwerken, sondern daran, dass diese ihren Brennstoff nicht bezahlen können.“ (Die Zeit, 4.3.99)

Also wird erst recht darauf herumgeritten, dass, wenn schon alte Kraftwerke herumstehen und mangels Zahlungsfähigkeit verrotten, auf alle Fälle keine neuen Kraftwerke – egal welchen Typs – nötig sind. Und schon wird anhand des zweiten Kriteriums, nämlich der Kreditwürdigkeit des Empfängers Energoatom, negativ entschieden. Dem EIB-Gutachten zufolge ist die ukrainische Atomagentur Energoatom pleite:

„91% der Stromrechnungen in der Ukraine werden nicht in Geld gezahlt, und der Hauptschuldner ist die Regierung selbst.“
„Geld ist jedoch knapp in der Ukraine, vor allem bei Energoatom, das gegenwärtig nur circa 4,5% des Stroms, das es in seinen 13 Atomreaktoren produziert, mit Geld bezahlt bekommt. Zirka 42% des gelieferten Stroms werden überhaupt nicht bezahlt und die übrigen zirka 53% werden durch Warentausch und Schuldverschreibungen abgegolten.“ (FR, 15.3.99)

So bilanzieren die Gutachter das Kaputtgehen einer ganzen ehemals fungierenden Energieinfrastruktur! Dass in der Ukraine niemand – die Bevölkerung nicht, der privatisierte Betrieb nicht, der Staatsbetrieb auch nicht – Strom bezahlen kann, heißt aus der Warte des westlichen funktionierenden Kapitalismus eben nur, dass hier ein „Teufelskreis“ von Nichtzahlungen vorliegt, der auf keinen Fall durch westlichen Kredit „subventioniert“ werden darf. Es wird besichtigt und aufgelistet, was die Einführung der kapitalistischen Geldrechnung in diesem Land schon alles kaputt gemacht hat, um daraus zu folgern, dass noch viel zu viel an überkommener, aber zahlungsunfähiger Wirtschaft herumsteht und dass dort Reformen anzusetzen haben, die die Nichtzahler endlich aus dem Wirtschaftskreislauf eliminieren.

Zwischendurch bieten die Gutachter schon auch „Lösungen“ für die Beschaffung von Ersatzstrom an. Das EIB-Gutachten gibt sich konstruktiv und befürwortet die Modernisierung des ukrainischen Kohlebergbaus. Der Titel Modernisierung ist auch deswegen gut gewählt, weil dort haargenau der gleiche „Teufelskreis“ anzutreffen ist und dieselben westlichen Reformgebote zugange sind. Es wird kein Geld erwirtschaftet, weil die Kraftwerke, die ohnehin schon zur Hälfte stillgelegt sind, ihrerseits nicht an die Kohlegruben zahlen; maximal 10 Prozent der Kohlelieferungen werden in Geld entgolten, der Rest wird mit Tauschgeschäften abgewickelt usw. usf. Auch dieser „Teufelskreis“ gehört durchbrochen, und natürlich sind Weltbank und IWF, aber auch die EU in Rahmen des Tacis-Programms schon damit befasst und fordern die Ukraine ultimativ dazu auf, ihre „unrentablen Kohlezechen“ zu schließen – mit einem Argument, das sich die ukrainische Regierung sogar schon zu Eigen gemacht hat:

„Kein Haushalt hält unrentable Zechen aus, so ein Vertreter des Kohleministeriums in Donezk.“ (NZZ, 28./29.11.98)

So betrachtet, kann der ukrainische Staat gleich verkünden, der Staatshaushalt hält die ganze Gesellschaft nicht mehr aus. Der Standpunkt wird auch wahr gemacht; im Kohlesektor – die Produktion ist im Zeitraum von 1991 bis 1997 schon um 164 Millionen Tonnen gesunken – sollen nach einer Empfehlung der Weltbank 80 Bergwerke geschlossen werden. Derweilen mehren sich die Grubenunglücke, weil natürlich auch Sicherheit für diesen Staat nunmehr eine Frage seines „Haushalts“ ist.

All dieser Verfall und programmatische Abbau der industriellen Grundlagen ist in der Logik der westlichen Experten ausgesprochen sachgerecht, auch wenn die Ukraine, die sich Stück für Stück ihres ehemals funktionierenden Energiesektors entledigt, etwas weniger abgebrüht alljährlich über ihre landestypische Energiekrise klagt. „Überkapazität“ kontern die Experten – und lassen sich bei ihrem Urteil nicht davon stören, dass sich die allgemeine Zahlungsunfähigkeit längst als Zerstörung der materiellen Mittel und der technischen Funktionstüchtigkeit geltend macht bis hin zu Sicherheitsproblemen ganz neuen Typs, die bei den AKWs auftreten. Da die Hälfte aller Kohle- und Gas-Kraftwerke schon außer Betrieb ist, die Kernkraftwerke aber darauf angewiesen sind, dass die notwendige Spannung im Stromnetz gehalten wird, kommt es zu interessanten Störfällen: Im letzten Winter werden in mehreren Regionen Krankenhäuser, Betriebe und Wohnungen ohne Vorwarnung vom Stromnetz abgetrennt, weil die AKWs folgendes Problem zu bewältigen haben:

„Wenn eine derartige Netzüberlastung jedoch nicht innerhalb von fünf Minuten behoben wird, bedeutet dies generell, dass das gesamte Stromnetz zusammenbricht… In den Atomkraftwerken setzt eine so genannte Havarie-Automatik ein, wodurch die Blöcke heruntergefahren werden. Allerdings dürfen deren Sicherheitssysteme laut einem Atomexperten niemals gänzlich gestoppt werden, das Sicherheitssystem arbeitet mit einem Notstrom-Aggregat für drei Tage, was auch das Sicherheitssystem unterhalten muss.“ (NZZ, 3.12.98)

Infolge einer anderen Störung, eines Frequenzabfalls, schaltet sich November 98 beim AKW Zaporosche die Havarie-Automatik ein, 28 Vertreter von Wissenschaft und Industrie richten daraufhin einen dringlichen Appell an Kutschma, die Krise der Atomwirtschaft sei eine direkte Gefahr für die nationale Sicherheit… unzulässige und gefährlich niedrige Netzfrequenzen… (FAZ, 8.3.99) Im verzweifelten Kampf darum, unter diesen Bedingungen die Stromversorgung aufrechtzuerhalten, werden neue Sicherheitsrisiken durch die AKWs produziert: Im November 98 verfügt das Ministerium für Umweltschutz und Nukleare Sicherheit, dass Reaktor 3 in Tschernobyl für eine dringliche Reparatur abgeschaltet wird, was nach Einsprüchen von Energoatom und auf Druck von Kutschma zurückgenommen wird: Reaktor 3 wird für die Aufrechterhaltung der Stromspannung unbedingt gebraucht.

Gerade wegen ihres Notstands kann die Ukraine auf ihre AKWs gar nicht mehr verzichten: Nachdem die anderen Abteilungen der Energieerzeugung zu Teilen stillgelegt worden sind oder verrotten, sind sie die einzige halbwegs verlässliche Energiequelle, und unverzichtbar sind sie auch noch in anderer Hinsicht: als eine der wenigen eigenständigen Devisenquellen. Von wegen „Überkapazität“: Während 93 noch der gesamte Tschernobyl-Strom nach Österreich exportiert wurde, um die dringend benötigten Devisen zu erwirtschaften – der Ertrag der Stromexporte beläuft sich jährlich auf ungefähr 600 Millionen US-Dollar –, kann sich die Nation seit 96 aufgrund der Stilllegung der Wärmekraftwerke den Export nicht mehr leisten. Die ukrainische Berechnung, die AKWs K2/R4 funktionstüchtig zu machen, soll, nach der leicht irreführenden Auskunft des Handelsblatts, darauf zielen, „zum führenden Atomstrom-Standort an der Ostgrenze der erweiterten EU aufzusteigen.“ (29.10.98) Die Sache ist eher die: Das Land kann seine innere Energieinfrastruktur, die ohnehin schon um 35 Prozent geschrumpft ist, ohne den Betrieb von Tschernobyl nicht mehr aufrechterhalten; um die Anlage überhaupt vom Netz nehmen zu können, ohne dass die nationale Stromversorgung zusammenbricht, ist die Fertigstellung der neuen Reaktoren unabdingbar. Und von der Genehmigung des Projekts hängt es ebenfalls ab, ob der Staat die Gelegenheit erhält, die Devisen zu verdienen, die ihm an anderer Stelle unentwegt als Nachweis seiner Kreditwürdigkeit abverlangt werden. So weit hat es die Ukraine dank ihrer Unabhängigkeit und der Einführung der kapitalistischen Rechnungsweisen inzwischen also gebracht!

Und was sagt die EBRD dazu, als Gläubiger heftig um die Kreditwürdigkeit der Ukraine besorgt? Der ist angeblich am besten gedient, wenn man keinen Kredit gibt, dann ist der Staat nämlich weniger verschuldet und umso kreditwürdiger!

„Das Projekt K2/R4 belaste nur die Kreditaufnahmekapazität des Landes und behindere die marktwirtschaftlichen Reformen im Energiesektor. Es gehe nicht an, dass die Kredite der EBRD Atomstromexport subventionieren.“ (FAZ, 3.3.97)

Und das Gleiche, nicht von Trittin, sondern aus dem Wirtschaftsministerium:

„Für heftigen Ärger hat in Bonn die Absicht der Ukraine gesorgt, billigen Strom aus Kernkraftwerken nach Deutschland zu liefern.“ (HB, 16.3.99)

Was möchte man dem Land eigentlich überhaupt noch gestatten? Während ganz Europa und die ach so sensible BRD mit dem verabscheuungswürdigen Atomstrom blendende Geschäfte machen, deren Verewigung für die nächsten Jahrzehnte in der BRD mit der billigen Heuchelei versehen wird, das sei der „Ausstieg“, wird der ukrainische Kampf um Devisenerträge mit dem Deuten auf diesen schmutzigen Strom disqualifiziert. Wofür brauchen die überhaupt einen Export?! Genauso wie beim nötigen Quantum Strom definieren wir auch bei Exporteinnahmen den nationalen Bedarf, den wir der Ukraine zugestehen mögen. Nun soll die Ukraine als Teil des Weltmarkts funktionieren, soll exportieren und Devisen verdienen, und gleichzeitig wird ihr nicht die geringste Chance dazu gelassen.[2] Es findet keinerlei Rücksichtnahme darauf statt, dass und wie diese Sorte neuer Teilnehmer dort ein Geld verdienen könnten; wo immer die Idee aufkommt, sie möchten ein Geschäft aufmachen und sich mit westlichem Geld bezahlen lassen, gilt das als schiere Unverschämtheit! Die Hetze gegen Atomstrom – das ist die für die Ukraine spezifische Form, den Antrag auf Exportgelegenheiten als die Zumutung abzufertigen, dass solche inferioren Geschöpfe des Weltmarkts glatt an uns Geld verdienen möchten, eigenmächtig, bloß für ihre Interessen, womöglich noch zu ihrer freien Disposition… Auch dafür ist Tschernobyl als Titel gut: Die Befugnis des Landes, sich um die Behebung seiner Minus-Bilanzen zu kümmern, lässt sich damit bestreiten.

Der Westen will der Ukraine deren nationale Berechnungen, wie sie die „landestypische Energiekrise“ bewältigen, Tschernobyl stilllegen, den Ausfall in der Stromerzeugung kompensieren und ein paar Devisen ergattern könnte, einfach nicht gestatten. 1996 beschließt das ukrainische Parlament eine Änderung des Tschernobylabkommens, nach der Tschernobyl weiter am Netz bleiben soll, wenn die G7 die Fertigstellung von K2/R4 nicht kreditieren. Daraufhin blockiert die Osteuropabank die Auszahlung von 140 Mio $. Außerdem buchstabiert die Bank der Ukraine vor, wie Kreditbedienung in der Welt des kapitalistischen Abrechnens auszusehen hat:

„Die Ukraine muss sich im klaren darüber sein, dass die EBRD ihre Kredite nicht in Gitarren oder in Butter zurückbezahlt haben will, sondern in Geld.“ (Projektleiter Herbelot 98, FR, 5.3.99)

Eine überdeutliche Anspielung auf die zwischenzeitlich vermehrt eingerissene Verkehrsform zwischen Russland und der Ukraine, Energie- und Getreidelieferungen nicht an der wechselseitigen Geldnot scheitern zu lassen: Nach einer im Oktober 1998 unterzeichneten Vereinbarung mit Gazprom bezahlt die Ukraine ihre Schulden in Form von Naturalien. Nur zur Erinnerung, damit die menschenfreundlichen Maßstäbe nicht durcheinander kommen: Bei der Abhängigkeit von Russland hat man es immer mit einer üblen Erpressung der armen Ukraine zu tun; bei den westlichen Rechnungsvorschriften, die auf hartem Geld bestehen, handelt es sich dagegen um reine Hilfe.

Ungerührt von den Krisenlagen der Ukraine leiten die zuständigen Experten inzwischen aus der Geldnot des Landes ab, dass die 95 ergangenen Kreditzusagen des Westens dem Bettlerhirn der Ukraine entsprungen sein müssen und einfach nicht zu rechtfertigen sind:

„Die Experten ziehen aus Effizienz- und Sicherheitsgründen eine Modernisierung bestehender ukrainischer Kernkraftwerke vor, wodurch aufgrund von besserer Zuverlässigkeit das Energieangebot ohnehin markant erhöht würde… Damit läuft die Ukraine Gefahr auf eine umfangreiche Finanzierung verzichten zu müssen.“ (FAZ, 3.3.97)

Mit diesem Standpunkt fixiert das Gutachterwesen aus der Position des Gläubigers den Endpunkt einer Statuszuweisung: Bankrott und untauglich, wie dieser Schuldnerstaat ist, hat die Ukraine auch ohne „umfangreiche Finanzierung“ in ihrer Energiepolitik das zu erledigen, was wir von ihr verlangen, auch wenn sie das nicht will. Und das ist nicht wenig.

c) Die Ukraine braucht Reformen!

„Die im Memorandum erwähnte Restrukturierung des Energiesektors indessen verlangt von der Ukraine eine Eigenleistung, nämlich die ‚finanzielle Sanierung‘ ihrer Kraftwerke und den Aufbau eines marktgerechten Preis- und Tarifsystems als Grundlage für in- und ausländische Investitionen in die Stromerzeugung, -übertragung und -verteilung.“ (NZZ, 21.12.95)
„Gleichzeitig erwarten die G7 von der Ukraine Reformen im Energiesektor. Die Schaffung von 27 Energiegesellschaften reiche nicht aus, da der Eigentümer direkt oder indirekt immer der Staat ist. Ein defizitäres Energiesystem aber berge das Risiko, dass die Ukraine den für den AKW-Ausbau nötigen Kredit im Volumen von 1,2 Mrd. $ nicht zurückzahlen kann.“ (HB, 28.4.97)

Juli 98 legt die EBRD der Ukraine eine „neue Liste von 72 Bedingungen vor, die erfüllt sein müssen, damit die EBRD das Vorhaben kreditiert“ (Nachrichten für den Außenhandel, 8.9.98), unter anderem wird die Privatisierung der Distributionsgesellschaften verlangt, was einiges an Vorleistungen einschließt.

Denn „Aufbau eines marktgerechten Preis- und Tarifsystems“, das bedeutet nichts anderes als die Forderung an den ukrainischen Staat, die Rücksichtnahme auf die Zahlungsunfähigkeit seiner Gesellschaft endlich aufzugeben und die Unternehmen dichtzumachen, die sich nicht „marktgerecht“ aufführen, und das sind so ziemlich alle. Mit der Aufforderung zur „Privatisierung“ wird verlangt, das bisschen, was in der Stromerzeugung und -verteilung noch funktioniert, zu zerschlagen, damit wiederum das zugrunde geht, was sich nicht „lohnt“ und die Restposten auf alle Fälle für „ausländische Investitionen“ offen sind. Dann bleibt zwar absehbar wenig von einem Energiesystem übrig, aber immerhin auch kein „defizitäres“. Die „Reform“ unter dem Titel „Verringerung der Stromverschwendung“ beansprucht, dass jeder, von der Industrie, der Landwirtschaft bis hin zum niederen Volk, auch nur den Strom konsumiert, den er bezahlen kann. Dafür gibt es dann auch wieder Kredite aus dem europäischen Tacis-Programm. Unter dem beschönigenden Namen „Restrukturierung“ werden die Ruhrgas und die Gaz de France an einem Programm zur Überholung der Erdgasinfrastruktur beteiligt, welches vor allem darin besteht, das illegale Abzweigen von Erdgas durch die Instandsetzung der Fernleitungen und die Einführung von Gasuhren beim Endverbraucher zu verhindern. Der Einfall ist absolut lächerlich: Ein ganzes Land kann nicht zahlen, und das westliche Reformbedürfnis möchte jedem ukrainischen „Endverbraucher“ seine private Rechnung aufdrücken können. Damit der Gerichtsvollzieher, der dann wahrscheinlich auch noch her muss, Zahlung erzwingen kann?!

Der gesammelte Reformbedarf, der bei der Ukraine in Auftrag gegeben wird, kürzt sich auf die Idee zusammen, nach der zahlungsunfähige Betriebe zu zerschlagen sind, auch wenn es so gut wie keine anderen gibt, und der Bevölkerung der Strom eben abgesperrt werden muss, wenn sie ihn nicht zahlen kann. Und dieser mit dem Namen Reform versehene nationale Kahlschlag soll dann den ukrainischen Energiesektor sanieren, so weit sogar, dass die Ukraine ihre westlichen Kredite zurückzahlen kann! Das Volk – das verlangen die imperialistischen Freunde und Förderer der Ukraine – hat die zuständige Regierung gefälligst wie eine bankrotte Belegschaft zu behandeln; es „rentiert“ sich ja in keinerlei Hinsicht! Ganz unbefangen erteilen die G7 ihre Analogie von Firmenbankrott und Staatssanierung als Auftrag an den Staatsvorstand, als wäre ein Gesundschrumpfen, bei dem sich eine Nation ihrer sämtlichen Mittel bis hin zum Volk entledigt, der erste Schritt zur Besserung.

Und dann melden sich auch noch die Knallköpfe von greenpeace und haben nichts Besseres zu tun, als dieser imperialistischen Zumutung ihre grünen Weihen zu verpassen:

„Ein Energiebewusstsein gebe es in der Bevölkerung nicht, weil sie aus Sowjetzeiten gewohnt sei, Strom, Gas und Wärme zu Schleuderpreisen zu beziehen. Außerdem sei ihr der Energieverbrauch egal, weil sie die Rechnungen gar nicht erst bezahle. Wem der Staat schon seit Monaten Löhne schulde, der fühle sich zu solchem Verhalten berechtigt, so greenpeace Kiew.“ („www.greenpeace.de/users/Dok_Root/Archiv/Homepage/A990706.htm“ am 25.7.99)

Vor lauter Hetze gegen ein mangelndes „Energiebewusstsein“ bemerken die Aktivisten von greenpeace noch nicht einmal, welches Urteil sie über den Reichtum im ehemaligen Völkergefängnis der UdSSR abliefern: Dort hatte der Preis offenbar nicht die Funktion, der Bevölkerung die Heizung abzuschalten; dort herrschte immerhin so viel Überfluss, dass die Massen die Energie nichtsnutzig nach ihren Bedürfnissen verbraucht haben. Strom und Wärme haben nichts und niemanden etwas gekostet, noch nicht einmal eine von russischen Lieferungen abhängige Ukraine…

d) „Reaktorsicherheit“ bzw. welches Sicherheitsrisiko ist die Ukraine?

Der Aspekt Sicherheit, der im Kapitel Finanzlage und Kreditwürdigkeit keine Rolle spielen durfte, kommt getrennt davon zu seinem Recht. Und wieder fließt Kredit in Gutachten, welche wiederum den Staatsnotstand der Ukraine bilanzieren. Gutachter von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) haben mit enormem Scharfblick ermittelt, dass sich die Sicherheitsproblematik in der Ukraine nicht auf die AKW-Ausrüstung beschränkt und folglich mit der Implementierung westlicher Sicherheitstechnik nicht behoben wird. Problematisch sei die Tatsache,

„dass die staatlichen Strukturen die Kontrolle über die Situation in der Produktion und bei der Verteilung der elektrischen Energie mehr und mehr verlieren.“ (FAZ, 15.6.99)
„Wie brisant die Lage ist, zeigen die Reparaturarbeiten in Tschernobyl, die im Dezember begonnen wurden. Unter anderem ging man an die Untersuchung von Schweißnähten, die eigentlich schon während des Stillstands im Frühjahr 1998 zur Prüfung angestanden hätten. Der Energiemangel im Land führt aber immer wieder dazu, dass notwendige Arbeiten verschoben werden… Soweit die Ukraine nicht von russischen Ersatzteilen abhängig ist, bildet die schlechte wirtschaftliche Lage ein ständiges Gefährdungspotential. Das beginnt nach Befürchtungen der GRS-Experten schon damit, dass die Werkstoff-Qualität auch bei einfachen Produkten nicht mehr gewährleistet wird. Und es endet bei der Motivation der Mitarbeiter, die auf ihre Löhne warten.“ (SZ 8.9.99)

Ausgerechnet die Naturwissenschaftler vermissen die Staatsgewalt. Vermutlich haben sie keine Ahnung davon, dass der Verlust der staatlichen Hoheit über diesen Sektor nichts als das Resultat des westlichen Reformgebots in Sachen Entstaatlichung und Privatisierung ist. Ausgerechnet sie vermissen einen stabilen Reichtum der Nation und geben damit bekannt, um was für eine segensreiche Technologie es sich bei der Atomkraft handelt: Ziemlich viel funktionelle Gewalt und Reichtum ist offenbar unabdingbar, um mit dieser risikoträchtigen Energieerzeugung halbwegs zu Rande zu kommen.

Dabei gerät sogar die Lage der arbeitenden Klasse einmal ins Blickfeld. Der bankrotte Staat mutet seiner Bevölkerung jede Menge Schäden zu. Er zahlt keinen Lohn an die AKW-Arbeiter, er zahlt keine Invalidenrenten für 1,5 Mio Strahlenverseuchte, er erklärt sich für unfähig, was die weiteren Notwendigkeiten der Schadensbewältigung angeht wie „die Abschottung des Grundwassers vor radioaktiven Partikeln, die Rodung strahlenverseuchter Wälder oder verstärkte Ausbesserungsarbeiten am Sarkophag“. Im März 99 demonstrieren 12000 Arbeiter der fünf ukrainischen AKWs, die seit fünf bis sechs Monaten keinen Lohn mehr bekommen haben, drohen mit Streik und dem Herunterfahren der Reaktorblöcke. Was folgt daraus für den westlichen Gutachterverstand? Die Verarmung der Bevölkerung, die von Löhnen leben soll, die nicht gezahlt werden, die fortschreitende Kündigung jeder Möglichkeit einer Reproduktion wird ausgiebig besichtigt und eingeordnet: als Sicherheitsrisiko für eine funktionierende Atomtechnologie. Und wieder wird nachgezählt, diesmal die Störfälle, die jährlich um 50 Prozent zunehmen. Es wird nach Sicherheitsrisiken geforscht, und massenhaft werden welche gefunden – wie z.B. auch „Diebstahl von sicherheitsrelevanten Gegenständen vom Gelände des AKW“. Zusammenfassend der Vorsitzende der deutschen Reaktorsicherheitskommission Birkhofer bereits 1993:

„Eigentlich dürfte man in einem solchen Land gar keine Atomenergie einsetzen.“ (FAZ, 24.2.93)

Das sind sie also, die Erkenntnisse: Ein bankrotter Staat ist „unfähig“, AKWs zu verwalten, das ganze Land ist ein einziges „Sicherheitsrisiko“, und das nach ein paar Jahren Entlassung in die Unabhängigkeit und Einführung der segensreichen Marktwirtschaft. Die banale Einsicht, dass sich die Ukraine aus genau diesen beiden Gründen ruiniert hat, ist von den westlichen Gutachtern, die den Ruin bilanzieren, allerdings nicht zu haben. Früher haben sie sich bestens ausgekannt und die europäische Empörung über Tschernobyl informiert: Die Schuld liegt beim System und seinem grundsätzlich nicht beherrschbaren Reaktortyp! Heute herrscht nur noch ein System, und es will partout niemandem von der Zunft auffallen, was die Ausdehnung der kapitalistischen Rechnungsarten auf den Osten anrichtet. Und noch nicht einmal den kleinen Unterschied notieren die Statistiker des Staatsverfalls, wie der GAU 1986 in den ersten fünf Jahren im Rahmen des Völkergefängnisses, mit den Direktiven, dem Rechengeld und den Ressourcen der SU, und wie er während der 5 Jahre Tschernobyl-Memorandum unter der Obhut des Westens (nicht) behandelt worden ist.

Das letzte Kapitel:
Die G7 wollen sich nicht mehr an ihre Verpflichtung im Memorandum gebunden sehen. Verbleiben nurmehr ein paar Rücksichtnahmen, was die Linientreue und Berechenbarkeit des ruinierten Vertragspartners betrifft.

1999 besteht die Ukraine auf der Fertigstellung von R4/K2, wozu man sie 1995 noch nötigen wollte. Sie beharrt darauf, dass die Kreditzusagen endlich wahr gemacht werden, andernfalls will sie Tschernobyl nicht vom Netz nehmen. Die Gründe hierfür sind den westlichen Vertragspartnern bestens bekannt und von der Osteuropabank als unberechtigte und unvernünftige Kalkulationen mehr oder minder offiziell zurückgewiesen. Der Westen steht nach fünf Jahren Hinhaltepolitik und tatkräftig gefördertem Staatsruin vor der Frage, ob und in welcher Form er sich die formelle Kündigung des Tschernobyl-Memorandums leisten will.

Da trifft es sich gut, dass zum Erfüllungstermin des Memorandums Deutschland mit seiner neuen rot-grünen Regierung in Form eines innenpolitischen Streits um die Atomenergie die im Memorandum enthaltene eigene Verpflichtung offiziell in Zweifel zieht. Trittin will die Zusage zur Kreditierung der Atomkraftwerke K2/R4 aus dem Verkehr ziehen und präferiert ein Kombi-Gaskraftwerk. Schröder will, bei aller offiziell auch gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Kutschma geäußerten Distanz zur grünen Position, „mit Kiew über Kredit verhandeln“. (HB, 21.6.99) Und während die deutschen Zeitungen von FAZ bis SZ ihre Hetze ganz auf Trittin konzentrieren, der mit seinem grünen Fundamentalismus glaubt, „Verträge“ nicht „einhalten“ zu müssen, warnt das deutsche Finanzkapital ausdrücklich vor einer Einlösung des Memorandums:

„Zum einen sollen Finanz- und Wirtschaftsministerium die Hermes-Bürgschaften gewähren, zugleich hat aber die Kreditanstalt für Wiederaufbau im vergangenen Monat auf Veranlassung dieser beiden Ministerien die Vergabe von Hermeskrediten für die Ukraine ausgesetzt. Denn das krisengeschüttelte Land ist gegenwärtig nicht einmal in der Lage, selbst durch Hermes abgesicherte Kredite zurückzuzahlen.“ (FAZ, 30.3.99)
„Mit großer Besorgnis haben westliche Bankenvertreter in Kiew vor der undurchsichtigen Finanzpolitik und schwindenden Kreditwürdigkeit der Ukraine gewarnt.“ (HB 15.6.)

In der unmissverständlichen Sprache der deutschen Banken:

„Der Kanzler schlittere mit seinen Kreditzusagen in ein Loch ohne Boden.“ (HB 16.6.)

Was die Vertragstreue angeht, so erteilen die G7 hochoffiziell auf ihrem Gipfel in Köln Schröder „ein Mandat für Neuverhandlungen“. (HB, 8.7.99) Damit kündigen sie nunmehr ziemlich einseitig die gesamte politische Verbindlichkeit des Memorandums, nämlich auch noch das letzte verbindliche Element, die Frist, innerhalb derer über die Schließung von Tschernobyl und die Unterstützungsmaßnahmen von westlicher Seite entschieden sein sollte. Schröder und Trittin werden also nach Kiew geschickt, um dort den westlichen Vertragsbruch zu vermitteln. Registriert hat den, wie könnte das auch anders sein, allein die ukrainische Seite. Dort spricht man von einer „schwer zu begreifenden Logik“, derzufolge

„von der Ukraine die bedingungslose Erfüllung ihrer Verpflichtungen erwartet werde, während Deutschland auf die Erfüllung eigener Verpflichtungen aus innenpolitischen Gründen verzichtet.“ (HB, 21.6.99)

Letzteres wird postwendend dementiert. Auch Schröder beherrscht das Verfahren, die Lage so darzustellen, als verhinderte nicht die Hinhaltetaktik der G7 und ihrer Osteuropabank die Einlösung des Memorandums, sondern vielmehr die ukrainische Verhandlungsposition. Damit ist Deutschland als die absagende Instanz aus der Schusslinie. Erstens sei noch alles offen, so Schröder nach seinem Kiew-Besuch, und zweitens „müsse letzlich die EBRD über die Kreditwürdigkeit des Atomprojektes entscheiden“. (HB, 12.7.99) Die ganze Rücksichtnahme auf die andere Vertragspartei besteht darin, dass die deutschen Übermittler die Absage nicht als Absage aussprechen und den ukrainischen Präsidenten Kutschma nicht öffentlich bloßstellen, indem sie die endgültige Ablehnung aller ukrainischen Anträge bekannt geben. Immerhin pflegt Kutschma immer noch den Schein einer irgendwie souveränen Entscheidung seiner Nation, wenn auch nurmehr in der eigentümlichen Form, dem Westen mit einer Wendung zu Russland zu drohen, die doch niemand wollen kann – laut dem wirtschaftspolitischen Berater Schröders, Gretschmann, wolle

„die Ukraine kein Erdgas, um von Russland unabhängig zu bleiben. Falls der Westen die Kernkraftwerke nicht finanziere, wolle Kutschma eine Lösung mit Russland suchen.“ (FAZ, 17.6.99)

Ein bisschen Pflege der Beziehungen muss also sein. Die Aussicht auf Kreditverhandlungen wird von Schröder aufrechterhalten, allerdings ganz getrennt von der Vertragsmaterie des Memorandums.

Für weitere Kreditversprechen gibt es Gründe – und die haben endgültig nichts mehr mit dem Berufungstitel Tschernobyl zu tun. Das Staatsprojekt Ukraine, für dessen Kreditunwürdigkeit der Westen einiges getan hat, steht nach allen Rechnungen der Gläubiger vor seinem Ruin, und gleichzeitig findet ein Wahlkampf statt.

„Längst geht es nicht mehr um einen Ersatz für die Abschaltung Tschernobyls, sondern um das Risiko eines generellen Finanzkollaps der Ukraine und einer drohenden Kurswende der prowestlichen Außenpolitik nach den Präsidentschaftswahlen im Herbst.“ (HB, 14.6.99) „Gebot der Stunde muss es also sein, die westlich orientierte Führung in Kiew um Präsident Leonid Kutschma zu unterstützen. Denn auch in der Ukraine finden Präsidentenwahlen statt, schon in diesem Herbst. Sämtliche aussichtsreichen Gegenkandidaten Kutschmas haben in ihrem Programm die Festigung der Bande zu Moskau…“ (SZ, 18.6.99)

Das sind also die Probleme, die die imperialistischen Betreuer bei der kritischen Verfassung ihres Zugriffsobjekts zu lösen haben: wie die westlichen Zumutungen zu dosieren sind. Ein Finanzkollaps vor der Wahl geht auf keinen Fall. Eine diplomatische Desavouierung Kutschmas bezogen auf das bevorstehende Verfallsdatum des Memorandums mitten im Wahlkampf ist auch nicht angeraten, da Kutschma die einzig verlässliche Adresse in der Ukraine ist. Zumal sich abzeichnet, dass dessen Kontrahenten mit nichts anderem Wahlkampf machen als mit der Enttäuschung über den Ruin, den der Kurs der Unabhängigkeit, d.h. vor allem die von Kutschma fortgesetzte Westorientierung der Ukraine, beschert hat.

Da die Abhängigkeit von westlichem Kredit außer der Akkumulation von Schulden nichts zu Stande bringt, ist die prowestliche, d.h. antirussische Ausrichtung der Staatslinie seit jeher umstritten, auch und gerade in der Energiefrage. So weigert sich 1996 das Parlament, die Sicherheitskonvention der Internationalen Atomenergie-Agentur zu ratifizieren, da die eingegangenen Verpflichtungen zwangsweise nur mit westlicher Technologie zu realisieren seien. Und die Frage kommt natürlich auf, ob sich die ohnehin bankrotte Nation die westlichen Kredite leisten kann und will. Moros, Vorsitzender der Sozialisten:

„Das Memorandum verstoße gegen die nationalen Interessen der Ukraine. Es sei unzulässig, dass die Ukraine noch 50 bis 100 Jahre nach der Schließung Kredite tilgen müsse.“ (NZZ, 20.1.96).

Nach der Russlandkrise, die den Handel mit Russland noch einmal drastisch reduziert und einen weiteren Verfall der ukrainischen Währung befördert, macht sich nicht nur die Schattenwirtschaft klar, dass das, was in der Ukraine überhaupt noch funktioniert, nur noch deshalb funktioniert, weil und sofern die Russen den vom Westen gegeißelten Bartertausch fortsetzen und die beiderseitige Zahlungsunfähigkeit auf diese Weise umgangen wird. Demgemäß die Bilanz von Parlamentspräsident Tkatschenko, Hauptkonkurrent von Kutschma:

„Es gehe nicht an, dass die Wirtschaftspolitik nach Osten strebe, die Außenpolitik nach Westen. Die Unabhängigkeit hat der Ukraine nur den Niedergang des Lebensstandards, eine Wirtschaftsrezession und die Verminderung der Verteidigungsbereitschaft gebracht.“ (HB, 23.6.99)

Und dann ist da noch der Kosovo-Krieg der Nato. Kutschma wird wegen seiner Pro-Nato-Linie in der Ukraine massiv kritisiert, vor allem deshalb, weil weder EU noch NATO dies durch irgendwelche Signale einer Westintegration honorieren. Dem Westen, welcher das Wohlverhalten der Ukraine im Balkan-Krieg praktisch einfordert, scheint es daher angeraten, den Vertragsbruch in Sachen Tschernobyl als Angebot von Neuverhandlungen zu „vermitteln“. Selbst Michaele Hustedt, Grünen-Abgeordnete und AKW-Kritikerin hat kapiert, wie imperialistische Diplomatie funktioniert und welche interessanten Tauschgeschäfte auf diesem Gebiet manchmal sein müssen:

„Diplomatisch schwierig ist eine Entscheidung gegen K2/R4 allerdings auch wegen der laufenden Friedensverhandlungen im Kosovo.“ (TAZ, 9.6.99)

So sieht sie aus, die Betreuung, welche der Westen seinem Schutzobjekt bei dessen Ruin angedeihen lässt: ein bisschen diplomatische Rücksichtnahme auf den Präsidenten, der gerade einen Wahlkampf zu bestehen hat, damit der weiterhin als Adresse zur Verfügung steht. Die seit Sommer prophezeite offizielle Zahlungsunfähigkeit der Ukraine wird durch einen Weltbankkredit Anfang September noch einmal aufgeschoben, während der IWF die Auszahlung einer zugesagten Kredittranche erst einmal stoppt, bis der Ausgang der Präsidentenwahl feststeht.

*

Das unter dem Titel Tschernobyl absolvierte Kapitel Diplomatie, das sich von der erfolgreichen Entwaffnung, von den anfänglichen strategischen Berechnungen und auch ökonomischen Spekulationen, was man dort an Atomgeschäft an sich ziehen möchte, bis zum heutigen Standpunkt vorangearbeitet hat, nach dem gar kein Kredit für die Ukraine sinnvoll und nötig ist, präsentiert auch eine Bilanz, was das weitergehende Ordnungsprogramm für den ehemals sowjetischen Osten angeht. Kaum ein Kommentar zur Ukraine mag auf den Hinweis auf deren geopolitische Bedeutung verzichten. Stellvertretend für alle der amerikanische Vordenker Brzezinski:

„Man kann es gar nicht genug betonen, dass Russland ohne die Ukraine aufhört, ein Imperium zu sein, mit einer untergeordneten und schließlich unterworfenen Ukraine aber automatisch ein Imperium wird.“ (NZZ, 29.10.99)

Die Aufmerksamkeit gegenüber der Ukraine gilt und hat immer ihrer Eigenschaft als NUS, als „neuer unabhängiger Staat“ gegolten – das ist der amerikanische Namen, der der GUS den Status einer von Russland angeführten Gemeinschaft schon auf dem Gebiet der diplomatischen Sprachregelungen bestreitet. Die Unabhängigkeit, das ist die Eigenschaft, die die freie Welt an der Ukraine schätzt und unbedingt pflegen möchte und die sich ganz in die Funktion auflöst, das russische Programm einer eigenen Einflusssphäre zu konterkarieren, die Fortführung traditioneller Beziehungen als Mittel einer neuen russischen Größe zu verunmöglichen und bedingungslose Unterwerfung unter westliche Vorstellungen an deren Stelle zu setzen. Deswegen ist bei aller Sorge um die Haltbarkeit einer selbständigen Ukraine irgendeine Unterstützung, die Ausstattung mit Mitteln für ein unabhängiges Staatsmachen nie zustandegekommen. Als Instrument zur Beschränkung russischer Macht hat die Nation offenkundig auch ohne das ihre Dienste getan.

Wenn ihre geopolitischen Rechnungen den US-Strategen und ihren europäischen Mitmachern mittlerweile keinerlei Rücksichtnahme auf die Krisenlage der Ukraine abnötigen und die G7 beschließen, sich von ihren vertraglichen Verpflichtungen zu verabschieden, dann ist das auch eine Auskunft darüber, wie sie ihre in diesem imperialistischen Dreiecksverhältnis zwischenzeitlich erzielten Erfolge bewerten: Angesichts der fortgeschrittenen Zersetzung der russischen Staatsmacht wird auch für ein „Gegengewicht“ in der GUS kaum noch besonderer Pflegebedarf veranschlagt. Je mehr bei diesem Programm die Schwächung der beiden bedeutsamsten Staaten der GUS vorangekommen ist, umso weniger ist auch erforderlich, um den Schein einer besonderen Betreuung und Zuwendung für das Gegengewicht glaubwürdig aufrechtzuerhalten. Was nicht bedeutet, dass die Ukraine aus der strategischen Funktionszuweisung entlassen würde, die ihr der Westen als Staatsperspektive eröffnet. Der bayerische Ministerpräsident, auf Staatsbesuch in Kiew, ist offensichtlich davon überzeugt, dass er mit seinem Kompliment an den Staat, „nach der Osterweiterung ein wichtiger Puffer“ (Die Welt, 7.5.99) zu sein, seinen Gastgebern genau die richtige und genügende Ehre erweist und diese sich glücklich zu schätzen haben.

In der anderen Richtung ist das ein reichlich anspruchsvolles Programm: Der Ukraine wird zuverlässiges Regieren abverlangt. Der Staat soll weiterhin und „unumkehrbar“ auf Reformpolitik setzen und sich den entsprechenden Agenturen von IWF bis Osteuropabank unterstellen, seinen Niedergang also als seine Perspektive akzeptieren. Der Staat soll in allen außenpolitischen Fragen auf prowestlicher Linie bleiben, die NATO-Osterweiterung tolerieren, die ihn in die erfreuliche Position eines Pufferstaats versetzt. Er soll den Kosovo-Krieg billigen, auch wenn er dabei ein paar ökonomische Kollateralschäden davonträgt und auf allen Handel, den er über die Donau abgewickelt hat, fürs Erste verzichten muss. Der Staat soll auf seinem unabhängigen, anti-russischen Kurs bleiben und sich nicht darum scheren, dass er mit dieser Linie ziemlich lebenswichtige Lieferverhältnisse, ohne die er seine Wirtschaft gleich ganz zumachen könnte, aufs Spiel setzt.

Und all dies soll sich die Ukraine zum Anliegen machen – ohne dass es der Westen ökonomisch und politisch honoriert und ihr in irgendeinem ihrer Notstände von Tschernobyl bis hin zum Schuldendienst behilflich wäre. Die strategische Funktionszuweisung als Pufferstaat, der gar keine eigenen innen- und außenpolitischen Interessen und Notwendigkeiten zu kennen hat, operiert ausschließlich und rein negativ mit dem Kreditbedarf der Nation, der die Ukraine ja wohl alternativlos auf diese Linie verpflichtet und den der Westen ultimativ in die Entmachtung der Nation überführt. Die Konstruktion eines Pufferstaats ist offenkundig, nach den heute gültigen imperialistischen Kalkulationen, nur in dieser Form zu haben. Im Vergleich damit nimmt sich Hitlers Funktionszuweisung an die Ukraine als „Kornkammer“ des Dritten Reiches geradezu wie ein positives Staatsprogramm aus.

[1] Das einzige, was dort in Gang gekommen ist, ist die Benützung des „Unglücksreaktors“ und seines verseuchten Umfelds als internationales Forschungsobjekt – unter Ausschluß der Ukraine, die sich gelegentlich darüber beschwert, dass ihr nicht einmal Zugang zu den Forschungsergebnissen gewährt wird.

[2] Die anderen Exportartikel, über die die Ukraine noch gebietet, rufen ähnliche Streitigkeiten hervor: Zulieferungen zum AKW-Bau, die der Staat mit dem Iran vereinbart hatte, sind einem US-Veto von wegen „Schurkenstaat“ zum Opfer gefallen. An die EU werden in der Hauptsache Sonnenblumenkerne geliefert. Aber auch bei einem so bescheidenen Produkt ist Mißbrauch nicht auszuschließen: Die ukrainische Regierung hat den Versuch gestartet, streng marktwirtschaftlich mit einer Exportsteuer auf die Kerne ein bisschen mehr Geschäft mit der Verarbeitung zu Öl in den eigenen Grenzen zu fördern – was ihr der IWF als Verstoß gegen den Freihandel verübelt und mit Kreditverweigerung bestraft. Erlaubt und willkommen ist eigentlich nur der Export von Schrott, der in der Ukraine nach der Stillegung vieler Kombinate überreichlich anfällt und den die westlichen Stahlproduzenten gerne abnehmen.