Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Mordfall Nelly
Vom Kinderschänden zur Gen-Datei – eine Volkserfassung der neuen Art

Anlässlich eines Sexualmordes wird öffentlichkeitswirksam und exemplarisch die neue Fahndungstechnik der massenhaften Erfassung von Genmaterial eingeführt. Die Nation macht den Fortschritt des Polizeirechtsstaats konstruktiv mit.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Mordfall Nelly
Vom Kinderschänden zur Gen-Datei – eine Volkserfassung der neuen Art

  1. Ein Kinderschänder vergewaltigt ein Mädchen und bringt es dann um. Eine nicht ganz ungewöhnliche Scheußlichkeit in dieser Gesellschaft, in der sogar die Sexualität zu den Rechtsgütern gehört und ein Unding namens „sexueller Selbstverwirklichung“ zur notwendigen Ausstattung des Menschen, ohne die er irgendwie nicht fertig ist. Sexualität, Abhängigkeit voneinander und Macht übereinander liegen da ziemlich nahe zusammen. Daß für immer mehr anerkannte Typen dieser Gesellschaft die Macht über den Willen und Körper des anderen zum Höhepunkt ihrer Lust gerät, ist da kein Wunder, und auch nicht, daß sich mancher sein Recht darauf mit Gewalt befriedigt. Das ist dieser feinen Gesellschaft sogar so geläufig, daß im Recht eine eigene Abteilung für Sexualdelikte vorgesehen ist. Denn bei allem, was erlaubt ist auf diesem Gebiet – Sadomaso unterhalb der Körperverletzung mit Einwilligung z.B. –, ein Sexualmord geht entschieden zu weit.
  2. Die Polizei macht sich daran, den Täter zu fangen, doch dabei bleibt es nicht. Völlig jenseits aller fahndungstechnischen Zweckmäßigkeit wird die Nation aus erster Hand über jeden polizeilichen Schritt auf dem Laufenden gehalten, zum Volkszorn auf den Übeltäter ermuntert und mit dem süßen Bild von der polizeilichen Staatsgewalt als einem einzigen großen Kinderschutzverein versorgt. Der wohlinszenierte öffentliche Aufruhr begleitet und begründet unanfechtbar die exemplarische Durchführung einer Fahndungsmaßnahme neuen Typs: Der „genetische Fingerabdruck“ des Vergewaltigers wird nicht bloß als Beweismittel für die sichere Identifizierung des Täters aufbewahrt, sondern zum Ausgangspunkt für eine höchst fortschrittliche Rasterfahndung. Geschlagene achtzehntausend junge Männer aus der Region werden ein wenig unter Verdacht gestellt und „gebeten“, ihre Spucke abzugeben, um im Ausschlußverfahren den Missetäter einzugrenzen. Daß die Beteiligung an diesem Massentest freiwillig ist und die Aktion sich nach ihrer öffentlichen Ankündigung in die Länge zieht, beeinträchtigt selbstverständlich die Chance, auf die Art einen Schwerverbrecher zu fangen – woraus eine teilnahmsvolle Öffentlichkeit ganz von selbst den Schluß zieht, daß so eigenartige rechtsstaatliche Traditionen wie eine „Unschuldsvermutung“ und der Verzicht auf Zwangsmaßnahmen auf bloßen Verdacht hin eigentlich längst überholt sind. Die Polizei, die sich an solche Restriktionen einstweilen noch gebunden sieht, behilft sich für ihre Belange – ohne durchschlagenden Erfolg – mit dem moralischen Effekt der pauschalen Verdächtigung eines jeden, der sich der Erfassung seines genetischen Markenzeichens entzieht, nach der Logik: Wer nichts zu verbergen hat, kann sich dem Test doch problemlos stellen – wer also nicht mitmacht, kommt in die engere Wahl…
  3. Der Bevölkerung leuchtet das ein. Denn längst verdächtigt jeder jeden. Verwandte, Bekannte, Nachbarn, Freunde trauen sich wechselseitig locker die Tat zu, so gut kennen sie einander. Das wirft doch mal ein schönes Schlaglicht auf den sittlichen Zustand des deutschen Volks! Die anständigen jungen Männer der Region lassen sich daher nicht einfach nur testen – entweder in der Meinung, daß sie sich letztlich der polizeilichen Fahndungsmaßnahme ohnehin nicht entziehen könnten, oder um zu helfen, den Täter einzukreisen. Der Massentest dient jetzt auch noch dem guten Zweck, daß die Leute sich wieder in die Augen schauen können und in der Region wieder Ruhe einkehrt, nachdem durch die polizeiliche Fahndungsmaßnahme eine Massenhysterie losgetreten worden ist. Sich freiwillig genmäßig erfassen lassen als moralische Pflicht aller sauberen Leute und als Entlastungsmaßnahme im Rahmen einer allgemeinen Verdächtigungskultur – so weit ist es zehn Jahre nach den Protesten gegen die Volkszählung gekommen.
  4. Damit ist alles vorbereitet für den Auftritt des Bundesinnenministers. Der instrumentalisiert den Fall der toten Nelly zielstrebig in seinem Sinne. Die moralische Empörung über den wiederholten Fall von mörderischer Kindsschändung, in der Öffentlichkeit mit viel Liebe zum Detail aufgearbeitet, und die Bereitschaft der Leute, bei der Fahndung nach dem Mörder sich erfassen zu lassen, nutzt der Minister als Gelegenheit, um die neue Fahndungstechnologie – in den USA und Großbritannien angeblich schon ein übliches Ermittlungsverfahren – in Deutschland einzuführen, als neues Instrument für das Bundeskriminalamt. Für die rechtsmedizinischen Labors, die anfangs noch ein wenig wegen Überlastung meckern, dient der Probelauf in Niedersachsen als Anlaß, sich zu vergrößern und das nötige Qualitätsmanagement aufzubauen, so daß der massenhaften Erfassung von Genmaterial nichts mehr im Wege steht.

    Und die soll wenn schon, dann gleich richtig geschehen. Also nicht bloß im Hinblick auf die paar Sexualmorde pro Jahr, sondern zur Erstellung eines totalen genmäßigen Überblicks über die kriminell auffällig gewordene und die fallweise unter Verdacht gestellte Bevölkerung. Dem Minister geht es um eine Gen-Datei, die das Fahndungsideal wahr machen soll, bei jeder als verbrecherisch eingestuften Tat den eindeutigen Schluß auf die Person des Täters rasch und sicher ziehen zu können. Am liebsten möchte er das neue Verfahren gleich als normal übliches Instrument bei jeder erkennungsdienstlichen Behandlung anwenden. Als gemäßigt und aus Sicht des Innenministers typische Inkonsequenz notorischer „Bundesbedenkenträger“ gilt der Vorschlag des Kollegen Schmidt-Jortzig, daß nur bei solchen Verbrechen die Daten gesammelt werden dürften, die mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr belegt werden. Seriendiebstahl oder wiederholte Geschwindigkeitsübertretung soll nach Auffassung des Justizministers nicht in diese Kategorie fallen. (SZ, 18.4.98) Kanther selbst schließt eine Erstellung von Persönlichkeitsprofilen anhand der erhobenen Genstruktur aus, sofern sie nicht für Zwecke der Strafverfolgung benötigt werden (ebd), was nicht bloß einmal mehr den Wahn illustriert, aus den Genen einen „verbrecherischen Charakter“ herauslesen zu können, sondern auch die Frage nahelegt, wofür eigentlich, wenn nicht bloß für Zwecke der Strafverfolgung, der genetische Identifizierungs-Code gesammelt werden soll. Insgesamt jedenfalls ein Erfassungsprogramm, das die Stasi der guten alten DDR mit ihren als Inbegriff eines grauenhaften Totalitarismus gehandelten „Duftproben“ von „Regime-Gegnern“ in Glasfläschchen wieder einmal als einen Verein von unprofessionellen Waisenknaben dastehen läßt…

  5. Kanthers „Übereifer“ finden die bekannten „Bedenkenträger“ in Deutschlands liberaler Öffentlichkeit problematisch. Freilich nur unter einem Gesichtspunkt: Er könnte der guten Sache schaden. Denn im Prinzip herrscht Einigkeit: So eine Gen-Datei muß her! Schließlich sind „die tollsten Erfolge“ damit zu erzielen, begeistert sich Der Spiegel gemeinsam mit den Kriminalern und den Rechtsmedizinern – problematisieren kann er ja immer noch, wenn einer seiner Redakteure oder Informanten mal im Raster hängenbleibt… Willig macht die Nation den rasanten Fortschritt des Polizeirechtstaats mit – in zwei Wochen vom Mord in Cloppenburg zur Massenerfassung vorläufig noch auf freiwilliger Basis (SZ,15.4.). Einziger Vorbehalt: eine solide Rechtsgrundlage müsse her, ein Gesetz nach allen Regeln der Kunst, nicht bloß ein ministerieller Erlaß oder ein Regierungsdekret.

Den Sinn dieses Vorbehalts erläutert, vorbildlich wie immer, der bekannte Freiheitskämpfer der Süddeutschen Zeitung. In drei Schritten, wie es sich gehört, elaboriert H. Prantl die fällige Lektion in Staatsbürgerkunde:

  1. These: Ja zur Gen-Datei… (SZ 17.4.). Sie muß sein, denn der genetische Fingerabdruck ist derzeit das Wundermittel der Kriminalistik – er soll Straftäter überführen. Vom Staat wird Verbrechensbekämpfung gefordert, also sind alle Mittel dafür heilig. Als Institut zur Verbrechensbekämpfung – denn dafür ist bekanntlich die politische Herrschaft mitsamt ihrem Herrschaftsapparat recht eigentlich erfunden worden – muß der Staat erst einmal und grundsätzlich alles dürfen. Aber
  2. Antithese: … nein zu Orwells Datenbank. Bei allem Konsens mit Kanther & Co: Es muß gewarnt werden vor einer Genomanalyse, um alle Daten über diese Menschen zu gewinnen, Krankheiten und Charaktereigenschaften inklusive… Man hat dann: einen Apparat, der erfolgreich arbeitet, der sogar vorbeugend vermeintliche Risikogruppen markieren kann – und der das verkörpert, was Orwell in seinem Roman ‚1984‘ beschrieben hat: Den total kontrollierten Menschen. Die Massenerfassung, die Kanther will, ist gebilligt, bloß: Könnte es nicht zu noch ganz anderen Wirkungen kommen: durch „Charaktergenomanalyse“ zum „gläsernen Individuum“, zum „durchsichtigen Menschen“?! Da droht die dunkle Seite der Macht, „der totale Überwachungsstaat“ mit seinem „total kontrollierten Menschen“. Nicht als ob der kritische Geist irgendeinem namentlich bekannten Schreibtischtäter so finstere Absichten unterstellen wollte: Orwell – das will keiner. Aber wie man die Staatsgewalt so kennt, verselbständigt sie sich nur allzu leicht gegen ihre Inhaber und deren gute Absichten – bekanntlich hat schon „der Führer“ nicht gewußt, was in seinem Namen alles passiert ist… Weil die gute Sache deswegen aber nicht leiden darf, braucht es die
  3. Synthese: Eine Staatsgewalt, die alles darf, dabei aber selber unter Kontrolle ist. Und zwar – welche Instanz sonst könnte so gut kontrollieren! – unter ihrer eigenen: Die Gendatei wird die Strafverfolgung und forensische Analytik revolutionieren. Und diese Revolution muß von einem Gesetz begleitet und kontrolliert werden. Die Gen-Datei muß von einem Gesetz begleitet und kontrolliert werden. Die Kontrolle muß von einer Gewalt ausgehen, die rechtsstaatliche Handhabung garantiert: Staatsanwaltschaft und Justiz. Die freigesetzte Herrschaft kontrolliert sich selbst und garantiert so ihre Güte – durch ein von ihr selbst erlassenes Gesetz. Wenn das rechtlich einwandfrei den Personenkreis definiert, dem die Genomanalyse als ganz normale Ergänzung neben dem Paßfoto als Strichcode fälschungssicher in den Ausweis gedruckt werden darf, sowie den Tatbestand, der diese Rechtsfolge nach sich zieht, und die Staatsanwaltschaft darüber wacht, daß das auch passiert, dann ist die Welt in Ordnung. – Darüber, daß die Staatsagenten sich im Zweifelsfall an ihr eigenes Gesetz nicht halten, bis sie zweckmäßigere neue haben, kann man als liberaler „Bedenkenträger“ sich dann bei nächster Gelegenheit wieder aufregen, zum x-ten Mal den „Glauben an die Demokratie“ verlieren – und ihn zum x+1-ten Mal wiederfinden, wenn ein richtig schönes, rundes Gesetz die Sache wieder auf die Reihe bringt…

In der Tat, so funktioniert er, der Totalitarismus des Rechtsstaats. Praktisch und in der Ideologie seiner Liebhaber.