Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Thilo Sarrazins neues Buch „Europa braucht den Euro nicht“ und Peer Steinbrücks Replik:
Die Abrechnung eines Machtpolitikers mit störenden Einwänden gegen ein imperialistisches Währungsprojekt

Thilo Sarrazin hat wieder ein Buch geschrieben: „Europa braucht den Euro nicht“. Damit hat er bereits im Vorfeld der Veröffentlichung so viel Aufsehen erregt, dass er zur besten Sendezeit in die ARD-Talkshow bei Günther Jauch geladen wird. Dort erwartet ihn nicht die sonst übliche Expertenrunde, sondern Peer Steinbrück, ein Alpha-Tier und potenzieller Kanzlerkandidat der SPD. Keine breit angelegte Diskussion, eine Abrechnung mit Sarrazins Thesen hält Steinbrück für dringend geboten, und die Sendeanstalt folgt ihm auf diesem Pfad mit der Einblendung einer Demonstration vor dem gläsernen Studio: „Halt’s Maul, Sarrazin!“

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Thilo Sarrazins neues Buch „Europa braucht den Euro nicht“ und Peer Steinbrücks Replik:
Die Abrechnung eines Machtpolitikers mit störenden Einwänden gegen ein imperialistisches Währungsprojekt

Thilo Sarrazin hat wieder ein Buch geschrieben: „Europa braucht den Euro nicht“. Damit hat er bereits im Vorfeld der Veröffentlichung so viel Aufsehen erregt, dass er zur besten Sendezeit in die ARD-Talkshow bei Günther Jauch geladen wird.[1] Dort erwartet ihn nicht die sonst übliche Expertenrunde, sondern Peer Steinbrück, ein Alpha-Tier und potenzieller Kanzlerkandidat der SPD. Keine breit angelegte Diskussion, eine Abrechnung mit Sarrazins Thesen hält Steinbrück für dringend geboten, und die Sendeanstalt folgt ihm auf diesem Pfad mit der Einblendung einer Demonstration vor dem gläsernen Studio: „Halt’s Maul, Sarrazin!“

Denn namhafte Vertreter aus Politik und Medien halten Sarrazins Thesen offenbar nicht einfach für kritikwürdig, sondern für brandgefährlich. Die Schuldenkrise in Europa wird in zahlreichen Euro-Staaten mit einem gigantischen Verarmungsprogramm gegen die eigene Bevölkerung angegangen, um mit dieser Art von Haushaltskonsolidierung das Vertrauen der Finanzmärkte zu erhalten. Zusätzlich zu dieser Rosskur, die auch den Bewohnern der Nordländer des Euro nicht erspart bleibt, finanzieren die vergleichsweise starken Nationen im Euro mit Billionen-Krediten klamme europäische Haushalte und Banken, um die Zahlungsunfähigkeit nennenswerter Teile der europäischen Kreditbranche, am Ende ganzer Staaten, zu unterbinden und den Euro-Raum insgesamt und das Geld, in dem dort gewirtschaftet wird, in Kraft zu halten.

Die Skepsis der Völker gegen den Euro wächst, im nördlichen wie südlichen Euro-Land, und sie gibt Parteien Auftrieb, die sich gegen die Sparpolitik zur Rettung des Euro aufstellen, wie die Syriza in Griechenland, oder gleich gegen den Euro selbst antreten. Solche Regungen in der demokratischen Parteienlandschaft, verursacht durch Volkes ärgerliche Wählerstimme, können die Regierungen der großen Gläubigerstaaten, allen voran Deutschland, überhaupt nicht ertragen, weil diese Entwicklung ihre Handlungsfreiheit bei der Bewältigung der Schuldenkrise zu Lasten der Bevölkerung in Europa und ihr Euro-Projekt insgesamt behindert, wenn nicht gefährdet. Sarrazins Buch gilt daher prominenten Vertretern der politischen Führungselite wie Steinbrück als schädlich und gefährlich, weil bereits sein Titel dazu angetan ist, die Euro-Skepsis und ihre Wirkungen im Volk zu befördern. So etwas muss also im Keim erstickt werden, zumal sich Teile der bundesdeutschen Medien durchaus wohlwollend auf die Thesen Sarrazins beziehen, statt sie in Bausch und Bogen zu verdammen, und sie per Vorabdruck unters Volk bringen.[2]

Sarrazins ökonomische Kritik: Der Euro bringt für Deutschland mehr Risiken als wirtschaftlichen Nutzen. Wir brauchen den Euro nicht!

Sarrazin verkennt Sinn und Zweck des vereinten Europas und seines Gemeinschaftsgeldes gründlich. Er fragt nicht, was die Staaten mit Europa und dem Euro bezwecken. Die Leitlinie seines Nachdenkens ist eine andere. Sarrazin macht sich eine Vorstellung von Europa und seinen Zielsetzungen zurecht, und für diese Vorstellung, die er sich von Europa macht, für die Erfolgsmaßstäbe und Ziele, die er diesem Europa zumisst, erscheint ihm die Gemeinschaftswährung einfach als überflüssig, am Ende sogar schädlich:

„Europa ist erfolgreich, wenn Frieden herrscht, wenn in den Ländern Europas die Demokratie stabil bleibt bzw. sich weiter festigt, wenn die Menschen ... Arbeit finden und von den Früchten ihrer Arbeit leben können. Andere Erfolgsmaßstäbe für Europa finde ich nicht. Denn die Zeit für militärische Eroberungen, den Erwerb neuer Kolonien oder andere Methoden des äußerlichen Machtzuwachses sind zum Glück vorbei. Brauchen wir für irgendeines dieser Ziele in ganz Europa oder in Teilen Europas eine gemeinsame Währung? Natürlich nicht...“ (Sarrazin-Vorabdruck im Focus 21/2012)

Europa ist erfolgreich, wenn Frieden herrscht, so Sarrazins erste Zieldefinition für Europa. Die Floskel mag noch so oft auch von politischen Führungsfiguren Europas in Umlauf gebracht werden, um den Staatenbund in ein gutes Licht zu rücken, wahr ist dieses Urteil nicht. Frieden ist der Zustand, in dem zwischen Staaten nicht Krieg geführt wird. Kein weiterer Zweck, dem Politik nachgeht, ist damit benannt. Im Frieden streben Staaten natürlich ihre diversen wirtschaftlichen und politischen Ziele und Erfolge an, aber Frieden ist nicht der angestrebte Erfolg. Frieden ist überhaupt kein Zweck, sondern ein Kompliment an alle politischen Zwecke, das ihnen ihre prinzipielle Güte bescheinigt, weil und solange die Politik, die sie verfolgt, vom Krieg Abstand nimmt. Frieden, diese Idealisierung von Politik, erhebt Sarrazin zu einem Zweck europäischer Politik und kommt so prompt zu seinem Befund: Dafür erscheint ihm eine Gemeinschaftswährung als gänzlich überflüssig. Das ist sie wohl auch.

Nicht anders verhält es sich bei dem zweiten von Sarrazin aufgerufenen Titel: Europa ist erfolgreich, wenn Demokratie herrscht. Sicher, auch das gehört zum festen Repertoire ideologischer Rechtfertigung des geeinigten Europas. Stimmen tut es nicht, weil die mit Demokratie angesprochene Herrschaftsform gar kein Ziel beinhaltet, dem sich Europa damit verschrieben hätte. Demokratie ist ein Auswahlverfahren, mit dem das Personal für die Ausübung staatlicher Macht bestimmt wird. Und sonst will diese Macht nichts? Der Erfolg, den sie anstrebt, besteht in nichts anderem als der Erhaltung und Festigung des demokratischen Verfahrens, mit dem sie sich legitimieren lässt? Erhebt man mit Sarrazin diese wunderliche zirkuläre Vorstellung zu einem Ziel Europas, so kommt auch das ohne den Euro aus.

Bleibt noch die Arbeit, von der die Menschen leben können sollen, Sarrazins dritte Aufgabenstellung für Europa. Das klingt im Unterschied zu einem Ideal wie Frieden oder einem methodischen Procedere wie Demokratie schon eher nach einem handfesten Ziel. Das ist allerdings ein Ziel, das in dieser Fassung weder Europa noch sonst irgendein kapitalistisch verfasster Staat verfolgt. Da ist das auskömmliche Leben der Menschen, die für Einkommen arbeiten, überhaupt nicht der Zweck aller wirtschaftlichen Bemühungen, ihre Arbeit vielmehr das Mittel, das Wachstum kapitalistischer Unternehmen und des ganzen staatlichen Standorts voran zu bringen. Und das gelingt umso erfolgreicher, je geringer das Einkommen ist, das die Betriebe für die Leistung ihrer Belegschaften wegzahlen müssen. Aber solche Unterschiede interessieren weder einen Sarrazin noch diejenigen, mit denen er sich auseinandersetzt. Arbeit und Lebensstandard, das ist für Sarrazin und andere nur ein Synonym für das eigentlich Gemeinte, nämlich das kapitalistische Wachstum der Nation, das mit der Wohlfahrt der Ausgenutzten schlicht identifiziert wird.

Im Hinblick auf dieses gesamtnationale Wachstum meldet Sarrazin seine größten Bedenken an, weil er mit seinem ökonomischen Sachverstand die von den Euro-Befürwortern dafür genannten Vorteile der Gemeinschaftswährung für Deutschland einfach nicht entdecken kann. Das immer wieder bemühte Argument von den gestiegenen deutschen Exporterfolgen dank Euro-Währung weist der Mann mit Verweis auf gesunkene deutsche Außenhandelserlöse in diesem Raum zurück. Dem Wachstumsversprechen, das dem Euro aus der Sicht seiner politischen Konstrukteure innewohnt, begegnet Sarrazin mit dem Einwand, Euro-Land sei nicht stärker gewachsen als die Wirtschaft der Nicht-Euro-Länder Schweden oder Großbritannien, während dagegen die Wirtschafts- und Finanzkraft der südlichen Euro-Mitglieder sogar geschwunden sei. Ein Umstand, der sich jetzt in der Finanzkrise als teures Risiko erweise, dem viel Kredit der Nordeuropäer geopfert würde.

Diese nationale Bilanz, die der ehemalige Bundesbanker Deutschland und seinen Wirtschaftsinteressen vorhält, ist ein Missgriff auch dann, wenn das Zahlenwerk stimmt. Die Vor- und Nachteile, mit denen Wirtschaft und Nation durch den Euro laut Sarrazin konfrontiert sein sollen, liegen gar nicht auf der Ebene, auf der die Konstrukteure des Gemeinschaftsgeldes seinen maßgeblichen Erfolg für die Partnerländer Europas ansiedeln und anstreben. Sicher ist mehr Export und größeres Wachstum für einen Standort besser als das Gegenteil. Aber für diesen nationalen Ertrag, jedenfalls nicht allein und auch nicht vorrangig für ihn, haben die europäischen Gründerstaaten das vereinte Europa mit Binnenmarkt und am Ende auch noch das gemeinsame Geld der vielen gar nicht auf den Weg gebracht. Die Zusammenlegung europäischer Standorte zu einem vergrößerten Wirtschaftsraum sollte und soll einen durch keine Zollschranken behinderten Aufwuchs von kapitalistischen Unternehmen zu weltweit konkurrenzfähigen Global Players ermöglichen. Die Einführung der Gemeinschaftswährung zielt darüber hinaus darauf, die dank Binnenmarkt gewachsene Masse und Konkurrenzfähigkeit kapitalistischer Akkumulation zum Hebel für die herausragende Qualität des einen, neuen Geldes, des Euro zu machen, in dem der gesamteuropäische, von allen teilnehmenden Nationen getragene Konkurrenzerfolg auf eine von allen teilnehmenden Nationen auszunutzende Weise bilanziert und repräsentiert wird. Dieses Geld soll darüber so viel internationalen Zuspruch durch die Geschäfts- und insbesondere Finanzwelt erfahren, dass es tendenziell den Dollar als Weltgeld verdrängt und für die europäischen Partner die Gleichung wahr macht, auf die alle großen kapitalistischen Mächte aus sind: Ihr nationaler Kredit möge zu einem international gültigen Zahlungs- und Geschäftsmittel aufsteigen.

Das ist ein imperialistisches Projekt auf dem Feld der Währungen, mit dessen Erfolg allen Teilnehmern daran eine Macht zuwachsen soll, die keiner auf sich gestellt hätte zustande bringen können. Das Ganze ist also mehr als die Summe seiner Teile, Euro-Land mehr als die Addition der teilnehmenden nationalen Standorte und ihres Wachstums. Daran gemessen ist die Rechnung von Sarrazin und gleichgesinnten Ökonomen abwegig, die deutsche Exportziffern mit und ohne Euro vergleicht. Sie unterschlägt, dass die zur Basis eines gemeinsamen Geldes zusammengelegte Wirtschaftskraft der Euro-Länder eben dieser neu geschaffenen Währung ein weltweites Gewicht verleihen soll und damit den darin wirtschaftenden Nationen eine neue Potenz verschafft, die sie als ein allein auf sich gestellter Standort auch nicht mit größeren Wachstumsraten und Außenhandelserfolgen je erreichen könnten. Dieses Projekt ist mit viel europäischem Kredit auf den Weg gebracht worden, der nun in die Finanzkrise eingemündet ist, die neuerlichen Kredit für die Stützung überschuldeter Staatshaushalte und maroder Banken notwendig macht, soll das Euro-Projekt nicht kaputt gehen.

Das alles fasst sich in Sarrazins Optik so zusammen, dass ihm die ökonomischen Vorteile aus dem Euro als fingiert erscheinen, die Nachteile angesichts der Krise aber als manifest. Kredittransfers in Billionenhöhe werden fällig, und zwar mit der eindeutigen Ausrichtung von Nord nach Süd. Angesichts dieser seiner Bilanz kann der Mann sich nur noch darüber wundern, wie überhaupt jemals ein deutscher Politiker auf die Idee verfallen konnte, den Euro zu erfinden. Die Schuldenkrise macht ihn stutzig, aber schon die Gründungsidee ist für ihn ein Mysterium. In den Erfolgsmaßstäben europäischer Nationen, so wie sie einem Sarrazin einleuchten, kann er keinen Grund für die Einführung einer Gemeinschaftswährung finden. Die wirklichen nationalen Zwecksetzungen für die Etablierung des Euro leuchten ihm nicht ein oder sind ihm einfach nicht bekannt. Dabei hat er in seinem oben formulierten Zielkatalog für Europa eine Position kategorisch ausgeschlossen, die selbst für ihn vielleicht noch die Zusammenführung europäischer Staaten in einen Gemeinschaftsverbund hätte erklären können: Der äußerliche Machtzuwachs, für den Staaten immer zu haben waren, ist nach Sarrazins Auffassung in unserer heutigen Zeit definitiv bedeutungslos geworden. Welch ein Irrtum.

Steinbrücks politische Replik: Deutschland verdankt Europa und dem Euro seinen nationalen Wiederaufstieg zu einer Vormacht ...

Da schafft ein Fachmann für äußerlichen Machtzuwachs, Peer Steinbrück, gleich einmal mit einer öffentlichen Replik auf Sarrazin Abhilfe, weil die Zeiten ganz und gar nicht vorbei sind, in denen europäische Nationalstaaten sich eben um einen solchen Machtzuwachs bemühen. Sie tun es, freilich in der Hauptsache mit anderen Methoden als der militärischen Eroberung von Gelände, die Sarrazin als Relikt imperialistischer Vergangenheit in Erinnerung bringt:

„Aus den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges von 1914 bis 1945 entsprang das Ursprungsmotiv der europäischen Integration: die Einbindung Deutschlands in eine westliche Staatengemeinschaft, um den Fehler des Versailler Vertrags mit einer gefährlichen Isolierung Deutschlands nicht zu wiederholen und um ein zusätzliches Bollwerk gegen die expansiven Gelüste der Sowjetunion zu haben. Nach der deutschen Wiedervereinigung trat das Motiv hinzu, die starke D-Mark des politisch, ökonomisch, finanziell und bevölkerungsmäßig wiedererstarkten Klotzes im Zentrum der europäischen Geographie (neun direkte Nachbarn, die nicht durchgängig gute Erfahrungen mit uns gemacht haben) einzubinden... Deutschlands Wiederaufstieg nach der Katastrophe von 1933 bis 1945 war nur in und mit Europa möglich. Dieser Einbettung in die europäische Völkergemeinschaft ... verdanken wir letztlich auch den Glücksfall unserer Wiedervereinigung.“ (Steinbrück, „Unpolitisch aufs Scheitern fixiert“, FAZ, 24.5.2012)

So also muss sich der anlässlich der Integrationsdebatte als nationalistischer Scharfmacher in weiten Teilen der Republik geächtete Sarrazin von einer Führungsfigur aus dem engeren Machtzirkel der Nation belehren lassen: Wer sich mit ökonomischen Vor- und Nachteilen der Gemeinschaftswährung aufhält, ist eine Krämerseele, die die politische Bedeutung Europas und des Euro für Deutschland und seinen nationalen Machtzuwachs verkennt. Die so genannte Einbindung ist eben gar nicht, was der euphemistische Beiklang nahe legen soll, nämlich eine Entschärfung und Bremsung deutscher Macht, deren gefürchteter Alleingang, der in gleich zwei Weltkriege gemündet ist, diesmal ausgeschlossen sein soll. Das mag eine der Berechnungen der europäischen Partner sein; die deutsche Berechnung läuft auf das gerade Gegenteil hinaus. Deutschlands Hinwendung zur westlichen Staatengemeinschaft im Allgemeinen sowie seine europäische Integration im Besonderen sind laut Steinbrück nicht die Bremse, sondern das Mittel für den Machtzuwachs Deutschlands. Und zugleich das Instrument, den Zuspruch der dadurch in ihrem Gewicht zurück gesetzten Partnerländer einzufahren. Der Kriegsverlierer ist darüber zum wiedererstarkten Klotz im Zentrum Europas geworden und hat sich seine durch die Kriegsniederlage verspielte Hälfte zurück geholt. Was dieses Deutschland aus Volk und Territorium an Kapital heraus geschlagen hat, macht es dank überlegener Konkurrenzfähigkeit und Größe seiner Unternehmen zum Hauptnutznießer des europäischen Binnenmarktes. Deutschland ist auf diesem Weg in Europa und durch Europa reicher und mächtiger geworden. Reicher und mächtiger jedenfalls als die europäischen Partner, die sich ihrerseits eine Stärkung an den wirtschaftlichen Potenzen des eingebundenen großen Deutschlands ausgerechnet haben. Die Krise zeigt es drastisch: Berlin ist das Hauptquartier einer überlegenen Gläubigernation, die den auf ihren Kredit angewiesenen Schuldnerländern die fällige Krisenpolitik diktiert oder sie vom Kredit abschneidet. Ein Diktat nicht nur zum Schaden der jeweiligen Bevölkerung, die verarmt wird, sondern im Urteil nationaler Führer nicht selten auch zum Nachteil der jeweiligen Nation, die ihre wirtschaftlichen Grundlagen auf deutsches Geheiß „kaputtsparen“ muss.

Das ist eine Machtfülle Deutschlands in und durch Europa, die sich ein Sarrazin hinter die Ohren schreiben soll, bevor er die Verantwortungsträger dieses imperialen Aufstiegs mit seinen kleinkrämerischen Rechnungen behelligt. Das ist Steinbrücks erste und wichtigste Grußbotschaft an den Ex-Bundesbanker, dem er das Maul stopfen will, bevor er die eigene Bevölkerung gegen den deutschen Erfolgsweg aufbringt.

Hier bricht die beeindruckende Bilanz des glühenden Europa-Politikers Steinbrück allerdings vorzeitig ab. Die Etablierung der Gemeinschaftswährung selbst will er nur als verstärkenden Zusatz zur Idee einer europäischen Integration zur Kenntnis bringen, als ökonomisches Vehikel mit politischer Wirkkraft, die den fortdauernden Willen zu einem vereinten Europa nicht nur symbolisiert, sondern am Leben hält. Es mag dahin gestellt bleiben, wie viel vom politischen Zugewinn aus einem vereinten Europa für Deutschland und seine Partner auch ohne die Einführung einer Gemeinschaftswährung zu haben gewesen wäre. Der eine, maßgebliche Vorteil aber, auf den die Etablierung des Euro zielt, ist nur mit diesem Geld und durch es anzustreben: die Schaffung einer europäischen Währung, die an Schlagkraft das Weltgeld Dollar einholt und ablöst. Dazu muss es dann den Euro als Geldeinheit schon geben.

Solche Töne hat Steinbrück selbst zu Beginn der Finanzkrise noch angeschlagen, mit dem Hinweis nämlich, dass diese Krise in der Hauptsache eine des Dollars und des darin arbeitenden US-Finanzgewerbes mit seinen windigen Hypothekenverbriefungen sei. Der stabile Euro mit seiner gesunden wirtschaftlichen Basis könne angesichts dessen nur als Sieger aus dem internationalen Währungsvergleich hervorgehen. Die Finanzkrise hat sich zu einem globalen Großereignis ausgewachsen und Europa längst eingeholt, so dass diese Töne verstummt sind, die den Wunsch für die Wirklichkeit genommen haben. Darin mag der Grund dafür liegen, dass Steinbrück sein Gegenüber nicht mit diesem eigentlich angepeilten Erfolg in Währungsdingen behelligt, weil gerade der angesichts der Finanz- und Staatsschuldenkrise auch in Europa nicht auf der Tagesordnung steht. Mit dem Bankrott Griechenlands und den daraus womöglich folgenden Weiterungen steht sogar die Existenz des Euro in Frage.

... und kommt mit seinem Bekenntnis zu Europa und Euro seiner Verantwortung für zwei Weltkriege und den Holocaust nach!

Deshalb wirbt der SPD-Mann für den Euro lieber mit den Folgen, die es hätte, käme es zu einem Auseinanderbrechen der gemeinsamen Währungszone in Europa: Scheitert der Euro, scheitert Europa! Dieser Satz Merkels ist das Glaubensbekenntnis von Steinbrück, dessen ganzes Gewicht in einer anderen, ebenfalls von Merkel in Umlauf gebrachten Variation aufscheint: Ohne Europa gibt es keinen Frieden! Eine aufschlussreiche Warnung, die weniger auf den damit kritisierten Sarrazin als auf ihre Urheber ein schlechtes Licht wirft. Wenn der Machtzuwachs, den jede Nation im europäischen Verbund anstrebt, von jedem Staat auf sich gestellt verfolgt wird, sind die Gegensätze der Interessen von einer Härte, dass ihnen jeder verantwortungsbewusste Politiker jederzeit den Übergang in den Waffengang zutraut. Ausgerechnet die Instanzen und ihr politisches Personal, die als einzig denkbare Agenturen für den Einsatz zwischenstaatlicher Gewalt in Frage kommen, gerieren sich als Warner davor.

Natürlich will kein national verantwortlicher Politiker zu diesem Zustand zurück. Zu wertvoll ist ihnen ja der von Steinbrück wortreich ausgebreitete europäische Königsweg für den weiteren deutschen Aufstieg. Wegen seines nationalen Interesses bekennt sich Deutschland zu Europa, aber es tut dies immer auch im Namen viel höher stehender moralischer Werte, die dazu angetan sein sollen, bei den Partnerländern Zustimmung statt Argwohn gegenüber deutscher Machtentfaltung zu wecken:

„Hinzu kommt unabweisbar die moralische Hypothek aus den beiden Weltkriegen und dem Holocaust, die keine deutsche Regierung ignorieren kann und die sich nicht nonchalant wegdefinieren lässt. ‚Wer dies nicht verstanden hat, dem fehlt eine unverzichtbare Voraussetzung für die Lösung der gegenwärtig höchst prekären Krise Europas‘, sagt Helmut Schmidt.“ (Steinbrück, a.a.O.)

So ist das also immer noch, fast siebzig Jahre nach Hitler: Das Bekenntnis Deutschlands, der größte Verbrecher der Weltgeschichte zu sein, will diese Nation honoriert haben. Die Partner sollen an dieser demonstrativen Bußfertigkeit die Kompetenz der Vormacht in Europa ablesen, als Führungsmacht zu agieren und dabei von jedem Verdacht auf hegemoniale Bestrebungen frei zu sein. So dürfen sich die Partner dann alle von deutscher Seite zugemuteten und auferlegten Härten als Ausfluss einer grundguten, von allem Bösen geläuterten Vormacht einleuchten und damit gefallen lassen.

Das bringt einen Sarrazin zu seiner zweiten, grundsätzlichen Kritik. Nicht, weil er Absicht und Heuchelei dieser Methode diplomatischer Einwirkung durchschaut hätte, sondern weil er sie auf seine Weise gründlich missversteht und darin einen untragbaren Anschlag auf Deutschland und sein Geld entdeckt.

Sarrazins politische Kritik: Deutschland übernimmt Europas Schulden wegen seiner eigenen Schuld am Holocaust – eine ruinöse Fiskalpolitik im Geiste des Ablasshandels!

Den wirklichen imperialistischen Gehalt des Euro-Projektes, den Steinbrück ihm wenigstens in Teilen vorbuchstabiert, nimmt Sarrazin einfach nicht ernst oder erst gar nicht zur Kenntnis. Die verlogene Rechtfertigung dieses Projektes aus dem Geiste der Völkerfreundschaft und der Bewältigung deutscher Vergangenheit, die der SPD-Mann zusätzlich ausbreitet, nimmt der Ex-Bundesbanker dagegen für bare Münze und für den eigentlichen Antrieb, der dem europäischen Projekt zugrunde liegen soll. Und damit gewinnt er überhaupt erst seinen vermeintlich stärksten Einwand gegen den Euro und die aktuelle Krisenpolitik zu seiner Rettung. Aus diesem Blickwinkel erscheinen ihm aktuelle deutsche Stützungskredite für Südeuropa als tätige Buße für den Holocaust, als eine Form von Ablasshandel, auf den nur eine Nation verfällt, die mit ihrer Geschichte und dem ewig schlechten Gewissen immer noch nicht abgeschlossen hat. Den Euro-Fanatikern

„kommt man allerdings mit Logik und Empirie nicht bei. Sie verstehen nämlich unter Europa nicht die konkrete gewachsene Völkergemeinschaft auf diesem Kontinent... Sie verstehen unter Europa vielmehr einen historischen Prozess, der mit Robert Schumann und Konrad Adenauer begann und aus ihrer Sicht zu einem bestimmten Ziel führen soll, nämlich den Vereinigten Staaten von Europa. Alles, was die europäische Entwicklung diesem Ziel näherzubringen scheint, ist gut. Darum ist der Euro gut... Darum ist aber auch alles, was den Euro gefährdet, schlecht... Die pauschale Letztbegründung dieser Ideologie lautet: ‚Nie wieder Krieg!‘ Alle Ideologien haben eines gemeinsam: Sie haben sich durch den Kranz ihrer Definitionen und Setzungen mit Erfolg gegen Einwände aus der Wirklichkeit abgesichert. Sie spielen die Rolle einer Religion oder eines Religionsersatzes.“ Deswegen sind die (Finanz-)Politiker quer durch alle Parteien „getrieben von jenem sehr deutschen Reflex, wonach die Buße für Holocaust und Weltkrieg erst endgültig getan ist, wenn wir alle unsere Belange, auch unser Geld, in europäische Hände gelegt haben.“ (Sarrazin-Vorabdruck a.a.O.)

Jetzt endlich hat Sarrazin die Lösung gefunden für sein von ihm selbst aufgebautes Rätsel, warum Deutschlands Euro-Politiker an einer Gemeinschaftswährung festhalten, für die ökonomische Vorteile aus seiner Sicht einfach nicht vorliegen können, die im Gegenteil in der eingetretenen Krise mit Milliardenkrediten den deutschen Haushalt belastet: Deutschland überschüttet wegen seines unverarbeiteten Holocaust-Traumas Gott und die Welt mit seinen Bußgeldern! Warum Billionen von Euro-Kredit nun gerade in Banken und Staatshaushalte der Euro-Zone und nicht in Holocaust-Denkmäler oder den Klingelbeutel jüdischer Gemeinden fließen, bleibt das Geheimnis des Autors.

*

Solche Verirrungen in der Debatte zwischen Sarrazin und Kontrahenten wie Steinbrück können nicht ausbleiben, weil beide Seiten komplementär zueinander die polit-ökonomischen Zwecke mit ihrer schönfärberischen ideologischen Rechtfertigung verwechseln, wo es der eigenen Beweisführung dient, auch absichtsvoll und berechnend. Unter dem Strich bekommt Sarrazins Schelte des Euro mit Blick auf das patriotisch gesinnte Publikum dadurch allerdings eine doppelte Sprengkraft. Nicht nur, dass Deutschland mit seinem Kredit und dem Fleiß seines Volkes die Faulenzer und Versager der maroden Staaten durchfüttert. Die Nation tut so etwas Sittenwidriges auch noch aus dem längst überholten Geist nationaler Selbstbezichtigung, die ausgerechnet das heute so anständige und erfolgreiche Volk der Deutschen immer noch für die Verbrechen seiner Nazi-Herrschaft an den Pranger stellt und ihm dafür die Unterstützung abgewirtschafteter, korrupter südeuropäischer Pleitekandidaten und ihres Fußvolkes als Buße auferlegt.

Das ist ein geistiger Anschlag auf den europäisch geläuterten Imperialismus des Rechtsnachfolgers, den seine Führungselite nicht auf sich und ihrem Euro-Projekt sitzen lässt. Also wird das Volk geistig bearbeitet, um es gegen unbotmäßige Einwände von Typen wie Sarrazin zu immunisieren.

[1] So geschehen am 20.5.2012. Daraus die sinngemäß zitierten Argumente beider Seiten, soweit nicht andere Quellen zitiert werden. Ein Vorabdruck von Sarrazins Buch findet sich im Focus 21/2012, Steinbrücks Replik „Unpolitisch aufs Scheitern fixiert“ ist in der FAZ vom 24.5.2012 erschienen.

[2] Anliegen Steinbrücks war es dem Vernehmen nach, Sarrazins Thesen möglichst schnell und öffentlich zu widersprechen, damit sich Euro-Skeptiker in der Bevölkerung nicht ermutigt sähen. (SZ, 22.5.2012)