Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Streit um die Mitbestimmung
Eine neue EU-Verordnung erlaubt es in Deutschland ansässigen ausländischen Unternehmen, die Mitbestimmung nach angelsächsischem Vorbild zu reduzieren; das ermöglicht auch deutschen Unternehmen, Gleiches zu tun. Die Arbeitgeber nützen die Gelegenheit, um eine „zeitgemäße“ Reform des Mitbestimmungsgesetzes zu fordern. Die Gewerkschaften warnen davor, „das Rad der Geschichte zurückzudrehen“.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Der Streit um die Mitbestimmung
Eine neue EU-Verordnung erlaubt es in Deutschland
ansässigen ausländischen Unternehmen, die hierzulande
vorgeschriebene Besetzung des Aufsichtsrats von
Aktiengesellschaften mit Repräsentanten des „Faktors
Arbeit“ neben den Vertretern des Kapitals, die
Mitbestimmung, nach angelsächsischem Vorbild zu
reduzieren; das ermöglicht auch deutschen Unternehmen,
durch Verlagerung des Firmensitzes ins Ausland Gleiches
zu tun. Die Arbeitgeber nützen die Gelegenheit, um eine
zeitgemäße
Reform des Mitbestimmungsgesetzes zu
fordern. Die Gewerkschaften warnen davor, das Rad der
Geschichte zurückzudrehen
– und werden nicht müde,
die Anwesenheit von Gewerkschafts- und
Belegschaftsvertretern im Aufsichtsrat mit dem Hinweis zu
verteidigen, wie sehr sie der anderen Seite von Anfang an
von Nutzen war und auch gerade jetzt wieder ist.
1. Mitbestimmung – der Schein einer betrieblichen Gesamtkörperschaft von Kapital und Arbeit
Im Aufsichtsrat kontrollieren die Repräsentanten der Anteilseigner das Management des Unternehmens. Weil die Aktiengesellschaft das Eigentum von seiner kapitalistischen Verwendung trennt, gibt das Aktienrecht den Aktionären Befugnis und Gelegenheit, in Gestalt von gewählten Vertretern darüber zu wachen, dass die Leitung des Geschäfts den Bereicherungsinteressen der Eigentümer dient. Die Kontrolle der Geschäftsführung durch einen Aufsichtsrat reflektiert insoweit einen gewissen Gegensatz zwischen der berechtigten Geldgier der Anteilseigner, der das Unternehmen dienen soll, und dem Auftrag der Unternehmensleitung, ihren Betrieb durch Kapitalakkumulation in der Firma zur immer erfolgreicher funktionierenden Bereicherungsmaschine für die Eigentümer weiterzuentwickeln – einen Interessensgegensatz der dritten Art, der Einigkeit in der Hauptsache ganz selbstverständlich voraussetzt und das identische Interesse beider „Seiten“ nur verschärft: Aus der lohnabhängigen Unternehmensbelegschaft muss Profit herausgewirtschaftet werden; genügend, um sowohl alle nötigen Konkurrenzoffensiven der Firma zu finanzieren als auch die Aktionäre zufrieden zu stellen.
In dieses erlauchte Gremium dürfen dank Mitbestimmungsgesetz auch die Arbeiter ihre Vertreter entsenden. Dabei hat sich an dessen Aufgabenstellung und Funktion überhaupt nichts geändert: Es kontrolliert nach wie vor, ob das Management aus dem Unternehmen genug Gewinn herausgeholt und für zukünftige Erfolge die optimale Vorsorge getroffen hat. In dieser Erfolgskontrolle kommen die Lohnabhängigen ausschließlich in ihrer kapitalistischen Doppelnatur als Kosten- und Produktionsfaktor vor, deren eigenes Interesse an erträglichen Arbeitsbedingungen und an einträglichem Lohn also wenn überhaupt, dann als Problem für den feststehenden Unternehmenszweck. Dabei ist der Aufsichtsrat überhaupt nicht die Stelle, wo praktisch um die Lösung dieses Problems, also um Kompromisse zur Unterordnung der Lohninteressen der Belegschaft unter die Gewinnbedürfnisse des Kapitals gerungen wird. Dass alle derartigen Streitfragen in den periodischen Tarifrunden und im alltäglichen betrieblichen Kleinkrieg zwischen Management und Betriebsrat im Sinne der betrieblichen Rentabilität erledigt sind, wird vielmehr ganz selbstverständlich unterstellt, wenn der Aufsichtsrat sich seinem Thema widmet und den Erfolg überprüft, den die Unternehmensleitung bei ihren Manövern auf den Waren- und Kapitalmärkten der Welt aus der preisbewussten Anwendung der Arbeit zieht. Wenn das Mitbestimmungsgesetz dennoch die Repräsentation der Arbeitnehmer auf einer eigenen „Bank“ in dem Kontrollorgan oberhalb der Geschäftsleitung dekretiert, dann geht es also um etwas Höheres: gerade nicht um die Interessenkonflikte zwischen Kapital und Arbeit und um deren sozialfriedliche Entscheidung im Interesse des Unternehmens, sondern um den schönen Schein, letztlich und in oberster Instanz könnte von solchen Interessengegensätzen gar keine Rede sein; der kapitalistische Betrieb wäre nämlich für alle da, für die ausgebeuteten Arbeitsplatzbesitzer ebenso wie für die Eigentümer und fürs gemeine Wohl überhaupt; die Arbeiter wären nicht nur Manövriermasse, sondern irgendwie auch Teilhaber des Geschäfts. Zur Bekräftigung dieses Scheins haben die Vertreter von Kapital und Arbeit gleiches Stimmrecht; sicherheitshalber ist die Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden dann doch noch ein bisschen gleicher als die aller anderen.
Den kapitalistischen Siegermächten des 2. Weltkriegs, die
seinerzeit speziell für die Montan-Industrie derartige
Mitbestimmungsregelungen erlassen haben, ist es noch
darum gegangen, sozialistischen Enteignungsforderungen
eine marktwirtschaftskonforme Alternative
entgegenzusetzen sowie den „Missbrauch wirtschaftlicher
Macht“ zu verhindern, in dem der Antifaschismus der
Nachkriegszeit einen Hauptgrund für Deutschlands
Militarismus und Hitlers Machtergreifung sah. Diese
Beweggründe haben sich mittlerweile längst erledigt;
ebenso die Vorstellung, ein kleiner Treppenwitz zum Thema
„Räte-Demokratie“ wäre ein geeigneter Kunstgriff, um im
„Systemvergleich“ mit dem Sowjetkommunismus die
Arbeiterfreundlichkeit des „rheinischen Kapitalismus“
nachzuweisen. Umso mehr hat sich die bundesdeutsche
Gewerkschaftsbewegung auf die Vorstellung versteift, mit
der „Arbeitnehmerbank“ im Aufsichtsrat mitbestimmter
Unternehmen besäße sie eine erstklassige Machtposition
zur Gemeinwohl-dienlichen Ausgestaltung der vom
„Großkapital“ beherrschten Wirtschaftszweige: eine
riesige strategische Chance zur Gestaltung unserer
Gesellschaft
. In diesem Sinne definiert der DGB den
Betrieb als eine neutrale, nach eigenen Sachgesetzen
funktionierende Maschinerie zur Erzeugung von Vorteilen,
die alle gesellschaftlichen Interessen gleichermaßen
bedient: Den Kapitalisten verhilft sie zu angemessenem
Gewinn
, dem Staat zu Steuern, den Konsumenten zu
ökologisch wertvoller Billigware, und schließlich den
Arbeitern auch noch zu dem Glück eines Arbeitsplatzes.
Jedenfalls dann, wenn die Gewerkschaft im Aufsichtsrat
dafür sorgen darf, dass sich das Management an
nachhaltiger Unternehmenspolitik
und nicht am
kurzfristigen Profit
orientiert. Ohne
Mitbestimmung herrscht nämlich Raubtier-
und
Casinokapitalismus
, mit Mitbestimmung
herrschen Gemeinschaftsgeist und Bürgersinn:
„Kurzfristiger Profit und Gewinnmaximierung sind keine brauchbaren Unternehmensziele. Mitbestimmung ermöglicht es, Unternehmen im Sinne guter Unternehmensführung zu beaufsichtigen und zu beraten. Geschäftspartner, Kunden, Kommunen und Regierungen – und besonders Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – alle haben ein vitales Interesse an guter, nachhaltiger Unternehmenspolitik. Sie sichert Arbeitsplätze, dient dem Gemeinwohl und führt zu nachhaltigem Wertzuwachs für die Shareholder.“ (Teilhaben und Gestalten – Beschluss des DGB-Bundesvorstand zur Mitbestimmung, 3.2.04)
Alles perfekt – wären da nicht die internationalen
Unternehmen
. Denen und deren schlechtem Einfluss
traut die Gewerkschaft nämlich zu, die Idylle der
nationalen Gemeinschaft zu stören. Gerade diese Bedrohung
unterstreicht die Bedeutung der Mitbestimmung umso mehr:
„Eine wichtige Funktion der Mitbestimmung liegt in der demokratischen Legitimation und Kontrolle wirtschaftlicher Macht. Bei internationalen, globalen Unternehmen wird dies in ganz Europa täglich bedeutsamer. In diesen Unternehmen gewinnen immer stärker institutionelle, anonyme Kapitalanleger Einfluss. Sie sind nicht mehr Bürger des Gemeinwesens und entziehen sich ihren Verpflichtungen.“
Solange sich die Unternehmen den Verpflichtungen des
Gemeinwesens nicht entziehen, ist alles in bester
Ordnung: Der feine Unterschied zwischen einem
mitbestimmten Unternehmen, das sich in seiner Philosophie
dem Erhalt von Arbeitsplätzen verpflichtet weiß – deren
Rentabilität natürlich außer Frage stehen muss! –, und
einem internationalen Konzern, der die Arbeitsplätze
nur
nach den Erwartungen anonymer
Anteilseigner
kalkuliert, liegt dem DGB schwer am
Herzen. Er wird nicht müde, die fundamentale Bedeutung
dieses Unterschiedes zu beschwören – wenn er nicht gerade
damit befasst ist, vor Staat und Kapital diesen
Unterschied zu dementieren. Dann weist er
verständnisheischend darauf hin, dass die Mitbestimmung
noch in keinem Unternehmen zu einer Minimierung des
Gewinns geführt hätte, einer erfolgreichen Performance an
den Börsen nicht im Wege stünde und auch in den Augen der
internationalen Kapitalgesellschaften die Attraktivität
des deutschen Standorts keinesfalls schmälern würde.
So unterschreibt und bezeugt die Gewerkschaft in letzter Instanz, dass alle kapitalistischen Gegensätze, allen voran der von Kapital und Arbeit, geheilt und überwunden sind. Dabei ist die Beteiligung der Gewerkschaft an der Verwaltung dieser Gegensätze der wichtigste Indikator, die machtvolle Garantie – und auch schon der ganze Gehalt dieser Versöhnung. Die Anwesenheit der Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat ist der lebendige Beweis dafür, dass das Unternehmen ein Lebensmittel für die Arbeiter ist und alle Maßnahmen, die seine Rentabilität steigern und das Bereicherungsinteresse der Eigentümer bedienen, nichts als eine Ansammlung neutraler Sachzwänge sind, denen die Arbeitnehmer im wohlverstandenem Eigeninteresse Rechnung zu tragen haben. Als kleines Dankeschön dafür dürfen sich die Gewerkschaften von der Öffentlichkeit die Mit-Verantwortung für alle gescheiterten Unternehmensstrategien zurechnen lassen, und die betroffenen Arbeiter brauchen sich über deren Konsequenzen nicht zu beklagen, sondern können sich bei ihren eigenen Vertretern dafür bedanken.
2. „Die Mitbestimmung auf dem Prüfstand“
Zum ideologischen Selbstbild der alten BRD als „soziale
Marktwirtschaft“ ohne unerledigte Klassengegensätze hat
die Mitbestimmung einiges beigetragen – auch wenn die
Kapitalisten-Lobby sich immer gegen die in ihren Augen
unheilbare Absurdität gewehrt hat, das Gelingen
kapitalistischer Ausbeutung im Namen ihrer Opfer von
Gewerkschafts- und Belegschaftsvertretern
mit-kontrollieren zu lassen. Inzwischen ist es jedoch
damit vorbei, dass das „Modell Deutschland“ sich mit
offizieller Anerkennung von Lohnarbeiterinteressen und
dem Schein ihrer gleichberechtigten Vertretung und
Berücksichtigung schmücken möchte. Heute, im Zeichen
verschärfter Konkurrenz der Kapitalisten und eines
gewaltigen Arbeitslosenheeres, das die härtesten
Konsequenzen dieses „Wettbewerbs“ auszubaden hat,
verlangt und bekommt das Kapital Beifall dafür, dass es
kein anderes Interesse neben sich gelten lässt und
demonstrative Rücksichtslosigkeit gegen seine
Lohnabhängigen praktiziert. Der scheidende BDI-Präsident
Rogowski nutzt die Gunst der Stunde und plädiert dafür,
die Mitbestimmung im Aufsichtsrat ersatzlos zu streichen:
Wir haben eine Mitbestimmung durch den Betriebsrat,
weg mit der durch den Aufsichtsrat!
(Stern, 13.10.04) Für diese Forderung
spielt es keine Rolle, ob die Fälle, die Rogowski zu
kennen glaubt – Ich kenne Fälle, da werden
Entscheidungen eindeutig verzögert!
– tatsächlich
existieren und ob es in der Geschichte der Mitbestimmung
jemals zu einem Zeitverlust oder womöglich gar zu einem
Kompromiss im Aufsichtsrat gekommen ist, der die
Kapitalseite echte Zugeständnisse gekostet hätte; die
Gewerkschaft bestreitet dies jedenfalls vehement. Doch
sie mag noch so inständig beteuern, dass sie das
Arbeiterinteresse stets dem Gesichtspunkt der
Rentabilität untergeordnet hat: Allein die formalisierte
Anerkennung, dass es in einem und an einem Betrieb auch
noch ein anderes Interesse als das des Kapitals an
gesicherter größtmöglicher Rendite gibt, beweist Rogowski
schon zur Genüge, dass die Mitbestimmung nicht tragbar
ist. Als Berufungsinstanz holt er das Ausland her: Für
Ausländer ist es völlig unvorstellbar, dass
Gewerkschaftler über die Unternehmensentwicklung
mitentscheiden.
Rogowskis Standpunkt: Die Mitbestimmung ist ein Irrtum
der Geschichte!
bleibt nicht unwidersprochen. Andere
namhafte Industriekapitäne – allen voran der
Daimler-Chrysler-Chef Schrempp – melden sich zu Wort und
berichten der Öffentlichkeit von den guten
Erfahrungen
, die sie mit der Mitbestimmung gemacht
haben. Sie alle sind sich mit Rogowski im Standpunkt der
bedingungslosen Unterordnung der Arbeiter einig – und
wollen gerade deshalb auf deren Repräsentation
im Aufsichtsrat nicht verzichten. In diesem Sinn bricht
auch Kanzler Schröder auf der Jahresversammlung deutscher
Kapitalisten eine Lanze für die Mitbestimmung und fordert
mit viel sagendem Blick in die Runde: Man muss die
Menschen teilhaben lassen an den Reformen
(SZ, 17.11.); sein Gastgeber
stimmt ihm zu mit dem Argument: Die Arbeitnehmer
müssen in diesen Zeiten so viel schultern, wie nie
zuvor.
(BDA-Präsident
Hundt)
Die Verbandspräsidenten der Kapitalisten streiten sich
darüber, ob Unverschämtheit oder Heuchelei die passende
Begleitmusik zur Verarmung der Arbeiter ist. Die
Gewerkschaft lässt sich dadurch bereitwillig den Maßstab
vorgeben, an dem sie selber die Mitbestimmung
misst, also sich beim Gebrauch ihrer
Mitbestimmungsrechte gemessen sehen und bewähren will,
und sie stellt sich ein hervorragendes Zeugnis aus:
Die Erfahrungen zeigen: Wo gespart, rationalisiert und
Personal abgebaut werden muss und dieses ‚von oben‘
transparent gemacht werden kann, geht es friedlich(er)
und sozial verträglicher zu … Der entscheidende Vorteil
der Mitbestimmung drückt sich über ein hohes Maß an
Arbeitsfrieden aus, das seinesgleichen sucht … In über 50
Jahren hat sich die Mitbestimmung gerade bei
Strukturumbrüchen sehr bewährt und zum kontinuierlichen
Arbeitsfrieden beigetragen.
(Dietmar Hexel, Mitglied des geschäftsführenden
Bundesvorstand des DGB, in: Gewerkschaftliche Monatshefte
2004, S.206).
Aufgrund dieser Erfolgsbilanz erwägt auch die SPD
(Mitbestimmung – heute wertvoller denn je!
), sich
auf europäischer Ebene für eine Harmonisierung der
Mitbestimmung nach deutschem Vorbild einzusetzen. So
bleibt den Arbeitnehmern vielleicht doch die Ehre
erhalten, dem Kapital im Aufsichtsrat auf gleicher
Augenhöhe gegenüberzustehen
.