Verteidigungspolitiker kämpfen um den nächsten Fortschritt der deutschen Kriegsmoral


Von der Selbstgerechtigkeit des Nothelfers zum kriegerischen Ernstfall

Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, ist – und will sein – die Frontfrau der Zeitenwende. In Talkshows und Interviews betätigt sie sich als „unbequeme“ Scharfmacherin und fordert unablässig mehr Entschlossenheit bei der Eskalation der deutschen Beteiligung am Ukraine-Krieg. Boris Pistorius, der neue Verteidigungsminister, kämpft, dem Amt entsprechend mehr praktisch, an derselben Front.

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Verteidigungspolitiker kämpfen um den nächsten Fortschritt der deutschen Kriegsmoral
Von der Selbstgerechtigkeit des Nothelfers zum kriegerischen Ernstfall 

Marie-Agnes Strack-Zimmermann

Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag ist – und will sein – die Frontfrau der Zeitenwende. In Talkshows und Interviews betätigt sie sich als „unbequeme“ Scharfmacherin und fordert unablässig mehr Entschlossenheit bei der Eskalation der deutschen Beteiligung am Ukraine-Krieg. Sie kokettiert damit, dass sie sich als „Nervensäge der Nation“ mit einer Stimmung im Land anlegt und anlegen muss, die zur Lage nicht passt. Dabei ist der Gegensatz, den sie gegen Volk und Führung austrägt, ganz sicher nicht in der parteilich-moralischen Beurteilung des osteuropäischen Krieges zu suchen, mit der sie loslegt. Die ist Allgemeingut.

„Meine Politik ist, Dinge zu erklären, und im Gegensatz zu Ihnen, Frau Weidel, habe ich ein Wertegerüst, dass ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen nie zugucken werde, wie ein Mann wie Wladimir Putin Menschen umbringt, und, ich wiederhole mich, Frauen vergewaltigt, tausende von Kindern verschleppt, damit sie nie wissen, dass sie in der Ukraine geboren sind.“ (Bei Sandra Maischberger, 20.9.22) „Da hat Russland die Ukraine innerhalb von zehn Jahren das zweite Mal angegriffen, ermordet, vergewaltigt, verschleppt, foltert, und zwar in einer Brutalität, dass einem nichts mehr einfällt. Das ist jetzt die Realität. Die Ukraine wehrt sich und sie kämpft unvorstellbar tapfer selber und sie hat unsere Unterstützung.‘“ (Ebd., 21.2.24)

Die Frau hat ein „Wertegerüst“, das ihr glatt gebietet, Mord, Vergewaltigung etc. zu verurteilen. Sie – darauf besteht sie mit Stolz – kann einfach nicht anders, als den russischen Krieg, eine staatliche Großtat mit politischen Gründen und Zielen, komplett unter die Kategorie Kriegsverbrechen eines bösen Menschen und seiner Helfer zu subsumieren und diese Verharmlosung als die empörende Wahrheit über den eskalierenden NATO-Russland-Konflikt hinzustellen. Derselbe moralische Kompass weist die Gewalt vonseiten der „tapferen“ Ukraine als gerechtfertigt, ja notwendig aus, weil sie sich mit ihrem Schlachten gegen ein Verbrechen nur wehrt. Die für die Selbstbehauptung des Kiewer Staates geschaffenen Opfer sind kein Fall von Mord oder ukrainischer Brutalität, sondern treffen entweder Putins Leute in Uniform oder ohne, die es verdient haben, oder sind, soweit sie auf der eigenen Seite anfallen, schlicht Helden. Die FDP-Frau identifiziert konsequent die Menschen beider Seiten mit den kriegführenden staatlichen Subjekten, auf deren Agieren oder Befehl hin sie zu Tätern und Opfern werden – und umgekehrt schreibt sie den herrschaftlichen Gewaltsubjekten menschliche und moralische Qualitäten zu: Alle den einen attestierte Unschuld wie alle den anderen zugeschriebene Bosheit qualifiziert so die Staatsgewalten und verteilt zwischen ihnen Recht und Unrecht. Deshalb dürfen, ja müssen „wir“ der angegriffenen Ukraine helfen, sich gegen den Aggressor zu verteidigen.

Insoweit ruft Strack-Zimmermann den nationalen Konsens ab, dem seit zwei Jahren keine geachtete öffentliche Stimme mehr widerspricht und mit dem Deutschland seine Beiträge zur Niederringung russischer Macht als Recht und Pflicht, bedrohten Menschen zu Hilfe zu kommen, rechtfertigt. An der verlogenen Kriegsmoral hält sie selbstverständlich fest, wenn sie sie um eine Klarstellung ergänzt, für die sie ebenfalls mit allgemeinem Kopfnicken rechnen kann: Unter die von Putin angegriffenen unschuldigen Opfer zählt sie nicht nur die ukrainischen Menschen und, was nicht dasselbe ist, den ukrainischen Staat, sondern auch ein weiter entferntes politisches Subjekt.

„Europa stand noch nie so unter Druck. Dieses Wirtschafts- und Friedensprojekt wurde noch nie so unter Druck gesetzt. Noch nie wurde es so angegriffen und daher, liebe Freundinnen und Freunde: Ohne Sicherheit wird dieses Europa in Zukunft keinen Bestand haben und deswegen ist das Gebot der Stunde, nicht zu zaudern. Das Gebot der Stunde ist es nicht, Ausreden zu suchen, wenn etwas nicht geht. Das Gebot der Stunde heißt unüberhörbare und unübersehbare Entschlossenheit.“ (Rede, FDP-Europaparteitag, 28.1.24) „Es ist ein Unding, dass der Luftraum der NATO immer wieder durch Russland verletzt wird, alle stillhalten und außer verbaler Empörung keine Reaktion folgt.“ (Rede, FDP-Bundesparteitag, 27.4.24)

Opfer des russischen Übergriffs ist jetzt das NATO-bewehrte Europa, das sich weit hinten in der Ukraine russischem „Druck“ ausgesetzt sieht. Das osteuropäische Land an der russischen Grenze wird ganz selbstverständlich als EU-Besitzstand beansprucht, der „uns“ bestritten wird. Also haben „wir“ alles Recht, das Ausgreifen „unseres Friedensprojekts“ nach Osten zu verteidigen und Russland aus der Region zu verdrängen.

Längst ist neben und im Widerspruch zum Narrativ von der Hilfe in Deutschland anerkannt, dass in der Ukraine Europa verteidigt wird, dass also militärische Gewalt, nicht nur das Haben und Vorzeigen entsprechender Waffen, sondern ihr Einsatz Mittel der Politik ist und zum Staatsleben dazugehört. Auch dafür muss Strack-Zimmermann nicht mehr missionieren. Sie legt sich vielmehr mit genau diesem Kopfnicken an: Das allgemeine Bekenntnis zur „Zeitenwende“ lässt sie nicht gelten, erklärt es zur Heuchelei, zum billigen Lippenbekenntnis, weil und solange Deutschland und Europa aus der Anerkennung, dass sie zur militärischen Weltmacht werden müssen, die Russland in die Schranken weisen kann, nicht mit allen Konsequenzen den tätigen Willen zum erfolgreichen Krieg folgen lassen. Für sie ist es ein „Unding“, dass auf russische Luftraumverletzungen des NATO-Gebiets nur verbaler Protest erfolgt, anstatt – was eigentlich?

Mit ihrem Angriff auf eine deutsche und europäische Inkonsequenz in Kriegsdingen ist sie also hinaus über die Lüge, dass es bei der Waffenhilfe für die Ukraine zuerst um diese und ihre Selbstbehauptung gehe. Zwar ist inzwischen der ganzen Republik klar, dass die Kiewer Regierung gegen Russland für den Westen einen Stellvertreterkrieg – immer noch ein verpöntes Wort – führt. Strack-Zimmermann aber bekämpft den Standpunkt, den sie überall heraushört, dass die Stellvertretung noch eine gewisse Distanz der westlichen Unterstützerstaaten zu diesem Krieg erlaubt: Der Stellvertreter vertritt schließlich „uns“; der Krieg, den er dort ausficht, ist nicht nur seine Sache, sondern „unsere“ – seine Menschenopfer ersparen uns eigene, aber nicht auf Dauer und grundsätzlich. Die EU wird, erklärt sie, keinen Bestand haben, wenn sie aus dem Krieg im Osten nicht mit einem Sieg über Russland hervorgeht. Gegen den Feind muss sich das „europäische Friedensprojekt“ als die größere Gewalt beweisen. Es wird nur so viel Verbindlichkeit und Ordnungsmacht für seine Mitglieder wie seine Umwelt entfalten, wie es den konkurrierenden Machtanspruch zunichtemacht: Dieser Krieg ist existenziell für Europa. Dem hat sich die ganze Union, dem haben sich vor allem Deutschland und die Deutschen zu stellen – und tun es nicht.

„Zeitenwende beinhaltet vieles: eine modern ausgerüstete Bundeswehr, die im Bündnis uns zu schützen in der Lage ist. Dazu gehört aber auch, den Bürgerinnen und Bürgern zu verdeutlichen, dass es um unsere Freiheit in Frieden geht und um die Bereitschaft diese Freiheit zu verteidigen. Eine aktuelle Umfrage besagt, dass nur 35 Prozent bereit wären, sich auch mit der Waffe in der Hand im Ernstfall zu wehren.“ (Interview mit der Schwäbischen Zeitung, FDP-Pressemitteilung, 7.3.24)

Ihre Polemik gegen ein friedensverwöhntes Land, das seine eigene Einsicht in die Notwendigkeit des Krieges nicht ernst nimmt, hat ihren ersten Adressaten im Bundeskanzler, der die Chuzpe hat, im Europawahlkampf immer noch Frieden zu versprechen; ihren zweiten in einer Bevölkerung, die sich davon ansprechen lässt. Der Streit um die Lieferung der Taurus-Marschflugkörper bietet der FDP-Frau Gelegenheit für einen publizistischen Feldzug gegen Scholz, dem sie das, was er beim Schüren des Krieges „Besonnenheit“ nennt, als Feigheit und Verantwortungslosigkeit gegenüber seiner eigentlichen Aufgabe um die Ohren haut.

„Der Taurus ist ein System, welches eine enorme Wirkung hat. Es wäre ein Mittel, den militärischen Nachschub Russlands gezielt zu unterbrechen, deshalb ist der Einsatz dieser Waffe von enormer Bedeutung. Warum der Bundeskanzler zögert, kann ich nur vermuten. Ist es ein Grundmisstrauen der Ukraine gegenüber? Im Verteidigungsausschuss gibt es einen großen Konsens, dass wir liefern sollten, denn Putin wird diesen brutalen völkerrechtswidrigen Angriff nicht einstellen. Frage: Sie haben also kein Verständnis für das Zögern? Strack-Zimmermann: Überhaupt keins, wir sollten keine Angst vor der eigenen Courage haben.“ (Interview mit der Heilbronner Stimme, FDP-Pressemitteilung, 12.2.24)

Gerade die große Reichweite und Zerstörungskraft dieser Waffe und die damit verbundene neue Stufe deutscher Kriegsbeteiligung, die den Kanzler zögern lässt, gebietet für Strack-Zimmermann unbedingt diese Eskalation: Wenn man ansagt, dass „Putin“ gestoppt werden soll, dann muss man das potenteste Zerstörungsgerät, das man hat, auch einsetzen. Mit dem Stichwort „Angst“ kommt sie auf das zu sprechen, wovor manche im Land sich nicht ohne Grund fürchten: das Risiko, dass die russische Seite Deutschland als den tätigen Feind identifiziert, der es ist, und entsprechend handelt; dass der Krieg über die Ukraine hinaus ausgeweitet wird und womöglich auch Deutschland und Deutsche betroffen werden könnten.

„Selbstverständlich müssen wir alle die Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger sehr, sehr ernst nehmen... Keiner macht es sich in dieser Frage einfach. Wer es sich nicht einfach macht und Verantwortung übernimmt, muss im entscheidenden Augenblick mutig sein.“ (Rede, FDP-Europaparteitag, 28.1.24)

Sie spricht Sorgen und Ängste an, aber nur, um sie überhaupt nicht gelten zu lassen: Angst gehört sich nicht, vor allem nicht für die politische Führung. Den Bonus der Besonnenheit, den Scholz genießt, macht sie ihm streitig; sehr ernste Reflektiertheit reklamiert sie mindestens ebenso für sich und ihre mutige Militanz. Und sie macht den Deutschen Mut, indem sie darlegt, dass sie sich vor Putin erstens nicht zu fürchten brauchen: Schließlich fürchtet der sich vor unserer Waffe, also vor uns! Das entnimmt die Frontfrau der russischen Veröffentlichung eines abgehörten Gesprächs deutscher Generäle über den Taurus, durch die „Druck auf den Bundeskanzler ausgeübt werden sollte, bloß nicht doch den Taurus auszuliefern. Offensichtlich hat nämlich Russland vor dem Taurus richtig die Hosen voll.“ (Webseite von Strack-Zimmermann, zitiert nach n-tv.de, 13.3.24)

Zweitens und vor allem aber darf sich Deutschland nicht vor den Konsequenzen einer immer tieferen Verwicklung in seinen osteuropäischen Krieg fürchten:

„Putin interpretiert das Zögern des Kanzlers als Schwäche. Das ist gefährlich. Denn es ist Öl auf die imperialistischen Mühlen des russischen Präsidenten und macht ihn umso gefährlicher.“ (Interview mit der Schwäbischen Zeitung, FDP-Pressemitteilung, 7.3.24)

Die Schwäche, die sie Scholz nachsagt und ankreidet, legt Strack-Zimmermann einem frohlockenden Putin in den Mund, um ihrer Anklage Gewicht und dem Fehlverhalten des Kanzlers eine fatale Wirkung zu attestieren: Umsicht beim Eskalieren des Krieges nützt nur dem Feind und ermuntert ihn zu weiteren Verbrechen. Insofern ist ihre Forderung nach intensiverer Kriegsbeteiligung das einzig Richtige und erhöht noch nicht einmal das Risiko – im Gegenteil. Der größte Fehler, den die deutsche Politik machen kann und den sie macht, besteht darin, beim Einsatz der eigenen Gewalt unter ihren Möglichkeiten zu bleiben. Nur praktizierte Bedenkenlosigkeit führt zum Erfolg. Zu welchem?

„Maischberger: Frieden schaffen mit Waffen! Ist das, sehr verkürzt, ihre Position in der Ukraine? Nach anderthalb Jahren, würde man sagen, das hat nicht wirklich funktioniert? Strack-Zimmermann: Es hat insofern funktioniert, dass die Ukraine ja überlebt hat.“ (Bei Sandra Maischberger, 27.9.23)

Um eine Antwort auf den vorsichtigen Zweifel der Moderatorin, ob das immer weitere Vollpumpen der Ukraine mit Waffen zum versprochenen Frieden führt, ist Strack-Zimmermann nicht verlegen. Sie hört die Frage nach dem Frieden gar nicht: Die Ukraine überlebt! Dass nicht wenige ukrainische „Menschen“ diesen Erfolg nicht „überleben“, ist kein Einwand dagegen, dass das deutsche Sponsoring des Krieges funktioniert und Früchte trägt: Kiew kann den Krieg um die Reichweite seiner Macht fortsetzen, es bleibt uns als Pfahl im Fleisch der Russen erhalten. Das klärt den Stellenwert der Opfer-Helden-Rhetorik, die Strack-Zimmermann unablässig bemüht.

„Wir erleben seit 704 Tagen diesen brutalen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wir sehen das Leiden, Vergewaltigen, Verschleppen, Foltern der Menschen dort. Aber wir sehen eben auch diese Tapferkeit, diese Tapferkeit, die Freiheit zu verteidigen.“ (Rede, FDP-Europaparteitag, 28.1.24)

Einstweilen holen die Ukrainer für uns die Kastanien aus dem Feuer; deshalb müssen wir sie auch weiterhin unterstützen. Strack-Zimmermann aber denkt angesichts dieses Krieges über ihn hinaus: Deutschland hat sich seinen Imperialismus grundsätzlich zu leicht gemacht. So billig wie bisher wird er auf Dauer nicht zu haben sein:

„Wir können doch nicht ernsthaft glauben, dass die Amerikaner für uns die berühmten Kastanien aus dem Feuer holen. Die Probleme sind doch vor unserer Tür. Die Ukraine ist vor unserer Tür. Der Nahe Osten ist vor unserer Tür. All dieses ist vor unserer Tür. Die Probleme in Nordafrika sind vor unserer Tür und deswegen, verdammt noch mal, haben wir endlich unsere Rolle zu spielen, weltweit! Und deswegen werden wir auf Dauer, wenn wir klug sind, an einer europäischen Armee nicht vorbeikommen. Wir werden uns völlig neu aufstellen müssen!“ (Ebd.)

Die halbe Welt ist „vor unserer Tür“, und die sogenannten „Probleme“, die sie hat oder uns macht, werden schon richtig verstanden als lauter Macht- und Durchsetzungsfragen, die „unsere“ Gewaltbereitschaft erfordern: Mehr Krieg ist die imperialistische Pflicht der Gegenwart. Staat und Volk stehen auf dem Prüfstand, ob sie überhaupt die Mittel und den Willen aufbringen, um die weltpolitische Rolle zu spielen, die sich für sie gehört.

„Der brutale völkerrechtswidrige Überfall Russlands unter Wladimir Putin auf die Ukraine hat die ganze Welt ins Eiern gebracht. Daher gehört dieser Brand zuerst bekämpft, der die ganzen Unruhen zu verantworten hat. Wenn Putin diesen Krieg verliert, dann nimmt man das auch in den Ländern der Erde wahr, die unser Leben in Freiheit nicht akzeptieren oder sogar bekämpfen. Alle blicken auf Europa, wie wehrfähig und wehrwillig es ist. Deshalb [!] müssen wir die Ukraine mit allem, was wir haben, weiter unterstützen.“ (Interview mit dem Münchner Merkur, FDP-Pressemitteilung, 21.2.24)

Das Etikett „Kriegstreiber“, das manche der eifernden Kritikerin der deutschen Inkonsequenz in Sachen Militarismus anhängen und einem Urteil eines deutschen Gerichts zufolge auch anhängen dürfen, trifft nicht. Ein subjektiver Kriegswille, den eine Person einem ansonsten friedlichen Land einreden will, liegt nicht vor. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses vertritt ein objektives Erfordernis dieser imperialistischen Nation: Mit abstrakten Bekenntnissen zur Bundeswehr und ihren Aufgaben, auch mit ihrer finanziellen Ausstattung ist es nicht getan. Es braucht bei Führung und Volk schon die tätige Bereitschaft, militärische Gewalt mit allen Konsequenzen auch anzuwenden.

Boris Pistorius

Der neue Verteidigungsminister kämpft, dem Amt entsprechend mehr praktisch, an derselben Front. Früh nach seiner Ernennung gibt er die Parole aus, das Land müsse kriegstüchtig werden und das spätestens nach einem halben Jahrzehnt auch sein. Das ist einerseits nichts Besonderes, dafür sind der Verteidigungsminister und die von ihm betreute Bundeswehr schließlich da. Er hat aber nicht „verteidigungsfähig“, sondern „kriegstüchtig“ gesagt und damit gezielt provoziert: Die Wortwahl soll die Deutschen aus einer Generationen langen Gewöhnung an den Frieden aufrütteln. Das hat funktioniert. Nach kaum einer Schrecksekunde bekommt Pistorius von so gut wie allen Seiten Recht: Endlich schenkt ein Politiker dem Volk reinen Wein ein und sagt, was Sache ist. Dafür kürt ihn die demoskopisch herauspräparierte Volksstimme zum mit Abstand beliebtesten Politiker. Seinem Aufruf folgend nehmen alle möglichen staatlichen Stellen den geforderten Blickwinkel ein und entdecken in ihrem jeweiligen Amtsbereich, wie viel zur Fähigkeit Krieg, vor allem einen großen Krieg auch innerhalb der eigenen Landesgrenzen zu führen, noch fehlt. Die Zivilschutzbehörde stellt fest, dass es viel zu wenig Bunker für die Bevölkerung gibt; der Tiefbau, dass Brücken nicht für schwere Panzer ausgelegt sind. Der Gesundheitsminister sieht zu, dass die medizinische Infrastruktur für Kriegs- oder Bündnisfälle resilient gemacht, Meldewege und Zuständigkeiten vereindeutigt und die Krankenhäuser auf „Szenarien, die wir lange für undenkbar gehalten haben“ (Karl Lauterbach), vorbereitet werden. Die Bildungsministerin mahnt zu mehr Zivilschutzübungen in den Schulen und dort zu einem „unverkrampften Verhältnis zur Bundeswehr“ (Bettina Stark-Watzinger); schließlich muss die ihren Personalbedarf decken und braucht dafür organisierten Zugang zur Jugend. Die CDU geht einen Schritt weiter und fordert die Wiedereinführung der Wehrpflicht: Sie weiß, dass jetzt schon die Freiwilligen nicht reichen und umso weniger reichen werden, je ernster es wird. Alle zusammen finden, dass es höchste Zeit ist, einen „Veteranentag“ einzuführen, an dem denen, die den Kopf hinhalten, die Ehre erwiesen und der Dank des Vaterlands abgestattet wird. Die Begutachtung des ganzen Landes und nationalen Lebens vom Standpunkt des Krieges ist im langen Frieden offenbar vernachlässigt worden, sodass der aufgelisteten und unerledigten Aufgaben viele sind.

Sein Erfolg stellt Pistorius überhaupt nicht zufrieden. Die festgestellten Defizite innerhalb und außerhalb der Bundeswehr müssen angegangen, ihre Behebung muss finanziert werden – und zwar jetzt. Mit Kanzler und Finanzminister kämpft Pistorius um immer mehr Geld für die Truppe, bekommt für sein Ressort die Aussetzung der oder die Ausnahme von der Schuldenbremse aber nicht zugestanden. Ihm wird die unbedingte Priorisierung des Ziels Kriegstüchtigkeit verweigert, hinter dem alle anderen Gesichtspunkte und Aufgaben des Staates unwichtig werden. Noch ist dieser Staat eben nicht im Krieg, sondern schürt und fördert nur den Krieg eines anderen Staates. Noch sind die zivilen Erfolgskriterien und Erfordernisse einer kapitalistischen Nation nicht ausgesetzt zugunsten der ultimativen Selbstbehauptung als pure Macht. Das genau erklärt Pistorius zu einem Affront gegen sich und zu einem Verrat an der Zeitenwende, der doch alle zugestimmt haben:

„Die Schuldenbremse hat verfassungssystematisch keinen Vorrang vor der Aufgabe, Streitkräfte für die Verteidigung aufzustellen. Im Gegenteil, sie muss hinter die elementare Pflicht des Staates, Sicherheit bereitzustellen, zurücktreten.“ (FAZ, 25.5.24)

Kriegstüchtigkeit, stellt Pistorius klar, ist eben nicht noch eine Fähigkeit, die ein Staat bereithält für einen Eventualfall, der hoffentlich nie eintritt. Sie ist die fundamentale Existenzbedingung der Staatsmacht überhaupt und heute erst recht. Das Land muss Krieg wirklich ins Auge fassen, um bereit für ihn zu sein; den Feind ins Visier nehmen, den man fertigmachen will, um das Maß an Rüstung zu ermitteln, das es zu übertreffen gilt. Pistorius kämpft in Kabinett und Öffentlichkeit, wie die Kollegin aus dem Verteidigungsausschuss, darum, dass die Nation nicht nur davon redet, sondern sich ernsthaft und praktisch auf Krieg einstellt und das zivile Leben nicht mehr als bedingten Einspruch gegen seine Vorbereitung gelten lässt.