Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Karriere einer Metapher:
„Der Sozialstaat, bisher als Netz verstanden, muss künftig als Trampolin wirken.“
„Soziales Netz“, „Hängematte“, „Trampolin“: alles verkehrte (Zerr- bis Hetz-)Bilder sowohl des Grundes des Sozialstaats wie auch seiner Leistungen. Nr. 2 rechtfertigt die einschlägigen Kürzungen mit der Gleichsetzung von Armut und Unwillen. Die neueste Variante des „Trampolins“ kündigt Maßnahmen an, die ein Überleben in sozialstaatlich betreuter Armut unmöglich machen.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Karriere einer Metapher: „Der Sozialstaat, bisher als Netz verstanden, muß künftig als Trampolin wirken.“
(Bodo Hombach,
sozialdemokratischer Vordenker, amtierender
Wirtschaftsminister in NRW, designierter
Kanzleramtsminister bei Schröder; u.a. im ‚Spiegel‘ unter
dem reißerischen Titel Befreiungsschlag
)
Soziales Netz
– als diese Metapher erfunden wurde,
dachten die Erfinder an jene bekannte materielle
Lebensversicherung für absturzgefährdete
Hochseilkünstler, die im Zirkus Publikum und Artisten
beruhigt, und fanden das ein schönes Bild für die
Arrangements, mit denen sie die verschiedenen Sorten
Armut, die zum marktwirtschaftlichen „Wohlfahrtsstaat“
offenbar nun einmal dazugehören, als ordentliche
Lebenslage und feste soziale Einrichtung durchorganisiert
haben. Der bildliche Ausdruck weiß nämlich nichts von
Ursachen der sozialen „Absturzgefahr“ – daß „die
Wirtschaft“ mit ihren scharf kalkulierenden Arbeitgebern
und ihren vielen scharf durchkalkulierten lohnabhängigen
Anhängseln immer wieder jede Menge Leute fallen läßt, die
dann mangels entlohnter Arbeit nichts zum Leben haben,
ist als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt und jeder
Kritik entzogen. Daß der Staat die absehbarerweise
Betroffenen zu rechtzeitiger Vorsorge zwingt, nämlich
ansehnliche Lohnteile gesetzlich umverteilt, darf so
verstanden werden, als ließe das Gemeinwesen in Wahrheit
niemandem etwas Ernsthaftes zustoßen. Daß soziale
Sicherheit nichts als geregelte Verelendung ist, wird per
Sprachregelung ins Gegenteil verkehrt: Geregelte Armut
wäre die pure Lebensversicherung.
Das war einmal. Mittlerweile läßt das kapitalistische
Erwerbsarbeitsleben immer mehr Leute herausfallen, und
zwar dauerhaft bis definitiv; die sinkende Lohnsumme
gerät mit dem wachsenden Umverteilungsbedarf des
Sozialstaats immer härter in Konflikt; das Versprechen
sozialer Absicherung wird immer löchriger – und die
sozialpolitisch engagierten Sprachkünstler haben ihre
Metapher längst der neuen Lage angepaßt:
Hängematte
ist zur maßgeblichen Assoziation
geworden. Die schöne Errungenschaft, daß eine zunehmende
Zahl eigentlich ganz tüchtiger Zeitgenossen sich ziemlich
chancenlos mit dem Status des Hilfeempfängers abzufinden
hat und die meisten das auch treu und brav tun und sich
mit ihren letzten kleinlichen Berechnungen darin
einrichten, so gut es eben geht: dieser systemeigene
Fortschritt wird mit dem bloßen Stichwort, das an Urlaub
und Müßiggang erinnert, den Opfern als Verstoß gegen die
sittliche Grundregel zur Last gelegt, wonach niemandem
ein Überleben zusteht, der sich das dafür nötige Geld
nicht selber verdient. Die neue Metaphorik ersetzt das
Selbstlob des sozialen Klassenstaats, die vom
Arbeitgeberkalkül Fallengelassenen nicht vollends ins
Bettlerwesen abstürzen zu lassen, durch einen Vorwurf,
der die ursprüngliche Logik staatlicher Elendsverwaltung
genau auf den Kopf stellt: Die Zusage, daß Sozialfälle
kraft Gesetz etwas kriegen, weil sie – momentan
oder überhaupt – nichts oder nicht genug zum
Leben verdienen, soll nicht mehr gelten; denn in
Wahrheit – so die neue Botschaft – verdienen sie sich
nichts oder nicht genug, weil sie von
Staats wegen etwas kriegen. Nicht der
Grund der Hilfe, die Hilfe ist der
soziale Skandal. Der Wortwitz mit der „Hängematte“ ist
ein einziger Aufruf zu schlechterer sozialpolitischer
Behandlung der systemüblichen Armut.
Dieser Ruf würde nicht erhoben, wenn die praktischen
Fortschritte nicht schon längst auf dem Weg wären.
Umgekehrt fordert die neue sozialpolitische Praxis die
neuen Verantwortlichen zu einer neuen Erläuterung ihrer
nächsten Vorhaben heraus. Im Sinne einer solchen
Überzeugungsarbeit schreiten fortschrittliche Vordenker
von der moralischen Anklage, die sich im Bild von der
„Hängematte“ so einprägsam zusammenfaßt, zum sittlichen
Imperativ, der daraus folgt, und stricken eine neue
Masche an ihr altes Wortspiel: vom Sicherheitsnetz zum
Trampolin
, von der Hängematte zum Sprungbrett, das
den einzelnen zurückfedert in das Arbeitsleben.
Wen
das kapitalistisch durchkalkulierte resp.
staatshaushaltsdefizitmäßig durchgerechnete
gesellschaftliche „Arbeitsleben“ aussondert und
fallenläßt, so daß er zum Überleben eine Hilfe braucht,
der darf erst gar keine Chance kriegen, sich mit seiner
neuen Lage abzufinden. Der muß gleich die federnde
Gegenkraft eines gesetzlich hergestellten Sachzwangs
verspüren, jede Inanspruchnahme für ein „Arbeitsleben“
welcher Art auch immer erträglicher zu finden als jenes –
um zur Semantik des „Netzes“ auch einmal was beizusteuern
– Herumzappeln im Reglement der Verelendung, das längst
als pures Nichtstun moralisch geächtet ist. Die Gleichung
Armut = Arbeitsverweigerung = Bequemlichkeit
gilt so fraglos und absolut, daß
Armutsbekämpfung den Charakter sportlicher
Ertüchtigung anzunehmen, also dafür zu sorgen
hat, daß ein Überleben mit staatlich arrangierter
Unterstützung auch bei allergrößter Bereitschaft, sich
noch in den dürftigsten Verhältnissen einzurichten, also
selbst mit ganz viel bösem Willen nicht
auszuhalten ist – als wäre es eine Frage des guten
Willens der Betroffenen, den Absprung vom Elend ins
geregelte Erwerbsleben zu schaffen, und als wären es
nicht dieselben, die diesen guten Willen fordern und
zugleich unverdrossen darauf bestehen, daß das Geben von
Arbeit Sache von Arbeitgebern ist und zu bleiben hat!
Das dämliche Bild vom Trampolin rechtfertigt somit erschöpfend, dazu leicht faßlich und demokratisch überzeugend, den systemeigenen sozialpolitischen Zynismus, der die Zunahme und zunehmende Dauerhaftigkeit der zum marktwirtschaftlichen Erwerbsleben gehörigen Armutskarrieren mit einer gesetzlich durchgedrückten Senkung des ortsüblichen Existenzminimums und mehr Existenzunsicherheit für die Betroffenen quittiert. Es liefert die aktuell gültige Maxime fürs soziale Gewissen der Nation – eine Maxime, der auch und gerade diejenigen zustimmen können, die von ihrer aufs Gemeinwohl bedachten Obrigkeit lange genug als Sozialabgabenzahler, die jederzeit vom Absturz aus dem Arbeitsleben bedroht sind, gegen ihresgleichen, die es jeweils erwischt hat, aufgehetzt worden sind; eine Maxime, die auf beifälliges Kopfnicken sogar noch bei jenen allseits hochgeschätzten „Mittelständlern“ berechnet ist, die mangels eigenem Bedarf von vornherein nichts von den überkommenen sozialpolitischen Umständlichkeiten ihres Gemeinwesens halten. Und was die Betroffenen betrifft: die brauchen sowieso keine besondere Überzeugung…