Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die neuen Gesetze zu „Scheinselbständigkeit“ und 630-Mark-Jobs:
Moderne Tagelöhnerei, sozialstaatlich betreut
Der Staat reagiert auf die Zunahme von Jobs, die keinen Lebensunterhalt abwerfen, so, dass er den Ausnahmecharakter streicht, d.h. die „Scheinselbstständigen“ mit der Steuerpflicht belegt. Protest kommt von den Arbeitgebern, die Sozialabgaben für die Billiglöhner leisten sollen.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Die neuen Gesetze zu
„Scheinselbständigkeit“ und 630-Mark-Jobs:
Moderne Tagelöhnerei,
sozialstaatlich betreut
Im Juni 1999 bleibt bei deutschen Berufsköchen einen
Vormittag lang die Küche kalt, sie setzen sich hohe weiße
Mützen auf, versammeln sich auf Marktplätzen in der
Nation, halten bunte Pappdeckel mit kindischen
Aufforderungen hoch – Schröder soll sich seine
Schnitzel selbst backen!
– und grölen gemeinsam mit
hauptberuflichen Christdemokraten und -sozialen: So
haben wir nicht gewettet, liebe Bundesregierung!
Taxiunternehmer, Zeitungsdruckereivorstände,
Gebäudereinigungsfirmenchefs und andere Mittelständler
berichten, daß in ihren Betrieben Arbeitnehmer und
Arbeitgeber Hand in Hand
gegen Riesters
Jobkillergesetz
vorgehen. Brüderlich und
solidarisch kämpfen sie für ihr Recht, die armen
Schlucker, denen sie da – wirklich oder ideell – das
Händchen halten, weiter zum alten Preis und zu den
gestrigen Konditionen ausbeuten zu dürfen. Weniger Liebe
erfahren angereiste rot-grüne Politiker. Arbeitgeber, die
bekanntlich – daher der Name! – andere für sich arbeiten
lassen, erkundigen sich: Hast du schon mal geschafft,
du faule Sau?
Und die Opposition winkt mit der
nächsten Unterschriftenaktion gegen den erneuten
rotgrünen Anschlag auf die letzten Vorteile, die die
schwarzrotgoldene Heimat ihren schlecht betuchten
Eingeborenen zu bieten hat…
Die sozialstaatliche Neuregelung „prekärer Arbeitsformen“
Dieses unfreundliche Echo hat sich die Koalition mit
ihrem Reformgesetz zur „Scheinselbständigkeit“ sowie zu
den „geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen“ auf
630-Mark-Basis eingehandelt. In beiden Fällen geht es der
Regierung um den massenhaften „Mißbrauchstatbestand“ von
Jobs ohne Sozialabgabenpflicht. Die sollten
ursprünglich Ausnahmen sein. … Entgegen dieser
Intention sind sie in einigen Bereichen zur Regel gemacht
worden.
(Jagoda, FAZ,
31.5.) So haben Unternehmer und Steuerberater
einigen Einfallsreichtum entwickelt, um den gesetzlich
vorgesehenen sozialversicherungsrechtlichen Sonderstatus
von Selbständigen und solchen, die es werden wollen –
„Existenzgründern“ –, für sich auszunutzen, nämlich aus
ihren Lohnempfängern billigere, weil von Sozialkosten
befreite „Freiberufler“ zu machen: Rund 3,6 Millionen
Selbständige zählen die Forscher heute, fast 20% mehr als
1991. Vor allem Dienstleister ohne feste Angestellte
sorgen für Zuwachs.
(Die Zeit,
29.4.) Von solcher Zweckentfremdung kann bei der
„Geringfügigkeits“-Regelung eigentlich zwar nicht die
Rede sein; da hat der christlich-liberale Gesetzgeber
einst ganz zielbewußt und zweckmäßig die Klagen seiner
Unternehmer über zu teure Belastungen gerade der
billigsten Arbeitsplätze erhört und Billigjobs bis zu der
berühmten Obergrenze von mittlerweile 630 Mark pro Monat
durch Befreiung von Sozialabgaben noch billiger gemacht;
bei der Steuer gab er sich mit einer pauschalen Abgabe
von 20%, zahlbar durch den Arbeitgeber, zufrieden –
soviel, meinte man wohl, müßte es ihm wert sein, legale
Billig- statt Schwarzarbeit einzukaufen. Ganz im Sinne
der Sozialversicherungen und der um deren Einnahmen
besorgten Sozialpolitiker war es allerdings dann doch
nicht, daß nicht bloß die billigen Jobs noch billiger
wurden, sondern innerhalb von fünf Jahren die Zahl der
630-Mark-Jobs um 1,2 Millionen auf 5,6 Millionen
kletterte
(FR, 1.6.) –
und das auch noch ohne spürbare Entlastung der
Arbeitslosenstatistik! Schon der alte Bundestag hat
daher, freilich ergebnislos, an gesetzlichen
Restriktionen für die gesetzlich geschaffenen „Freiräume“
gebastelt.
Nun schreitet also Schröders Mannschaft zur Tat und gegen
das massenhaft genutzte „Brutto für Netto“ ein. Zum einen
bei den Freischaffenden: Ab dem 1. Januar 99 wird
künftig zunächst einmal vermutet, daß sie nur
scheinselbständig, d.h. tatsächlich Arbeitnehmer
sind.
(Informationspapier des
BMA vom 17.3.) Der Staat verlangt künftig vom
Kellner, Auslieferungsfahrer und anderen derartigen
Existenzen bzw. der Firma, für die sie tätig sind, den
nach vier Kriterien zu erbringenden Beweis, daß sie nicht
bloß „scheinselbständige Arbeitnehmer“ sind – denn, so
die listige Begründung: Niemand kennt die Fakten so
gut wie der Betreffende und sein Auftraggeber.
(ebd.) Wird der Nachweis
nicht beigebracht, so dürfen alle Sozialkassen ein
Lohnarbeitsverhältnis unterstellen und bei Arbeitgebern
und -nehmern zulangen. Läßt sich jedoch ein ernsthafter
Übergang zu freischaffender Selbstausbeutung feststellen,
so gewährt das neue Gesetz den Betroffenen den Status
eines „arbeitnehmerähnlichen Selbständigen“. Der wird
dann rentenversicherungspflichtig – sofern er nicht die
Bedingungen einer Übergangsregelung erfüllt –, und die
Allgemeinheit freut sich. Denn bekämpft wird damit nicht
bloß die notorische Ebbe in der Rentenkasse, sondern
außerdem ein letztlich unfairer Wettbewerb und
Sozialdumping auf Kosten der Betroffenen und der
Allgemeinheit, soweit die Sozialhilfe für die
unzureichende Altersvorsorge dieses Personenkreises
später einmal einstehen muß.
(ebd.)
Etwas anders werden die 630-Mark-Löhner behandelt. Eine
Absicherung gegen Altersarmut unter Sozialhilfeniveau
wird für sie gar nicht erst vorgeschrieben – das wäre
auch in der Tat einigermaßen lächerlich bei einem Lohn,
der sowieso nicht einmal von Tag zu Tag reicht. Die
Arbeitgeber werden zwar verpflichtet, auf die 630 Mark
anstelle der pauschalen Lohnsteuer Sozialbeiträge für die
Krankheits- und Alterskasse wie für reguläre
Lohnempfänger zu zahlen, ein Anspruch auf Leistungen im
Fall von Krankheit und Alter entsteht aber daraus für
ihre Beschäftigten nicht. Zweck der Übung ist
erklärtermaßen etwas anderes, nämlich die Aushöhlung
der Finanzierungsgrundlage des
Sozialversicherungssystems
(Engelen-Kefer, FR, 26.5.) zu verhindern
oder wenigstens zu bremsen. Das ist insofern eine
interessante Neuerung, als auf die Art der Bestand des
Systems von seiner Aufgabe, nämlich der
Zwangsversicherung armer Lohnempfänger im Hinblick auf
ihre absehbare Verelendung, ausdrücklich
getrennt wird. Damit die Sozialkassen auch in
Zeiten massenhafter Arbeitslosigkeit und fortschreitender
Lohnsenkung weiter funktionieren können, werden
Versicherungsprämien auf Löhne eingezogen, deren
Empfänger dadurch gar nicht versichert werden – es sei
denn, sie opfern zusätzlich ca. 10% von ihren 630 Mark
und erwerben damit pro Jahr einen Rentenanspruch in Höhe
von ca. 8 Mark im Monat. Nur um seine Kassen zu
stabilisieren, bezieht der Sozialstaat Jobs, die von
vornherein keinen noch so primitiven Lebensunterhalt
abwerfen, formell in sein Versicherungssystem ein,
behandelt sie nicht länger so, als wären sie bloße
Ausnahmen von der sozialrechtlichen Regel, erkennt sie
damit also in aller Form als festen und dauerhaften
Bestandteil des von ihm betreuten Lohnsystems an, ohne
diesem neuen Normalfall von „working poor“ eine Vorsorge
auch nur für den Schein eines lebenslangen Auskommens
aufzuzwingen. Als normale Mitglieder des nationalen
Erwerbslebens dürfen die 630-Mark-Löhner andererseits mit
ihrem Verdienten zum materiellen Bestand ihres
Gemeinwesens beitragen. Die „Gunst“, daß Einnahmen aus
anerkanntermaßen „geringfügiger“ Beschäftigung steuerlich
nicht zu sonstigen Einkünften des Beschäftigten addiert
werden, bei ihm also keine Steuerpflicht begründen,
entfällt. So hält sich der Fiskus für seinen Verzicht auf
die durch den Arbeitgeber abzuführende pauschale
Lohnsteuer an den Billiglöhnern schadlos, die fortan jede
verdiente Mark auf ihrer Lohnsteuerkarte registrieren
lassen müssen.
„Weg mit dem 630-Mark-Gesetz!“
Über die Lohnsteuer kriegen die modernen Subproletarier und Zuverdiener also handfest zu spüren, wovon sie ansonsten überhaupt nichts haben, nämlich daß sie nunmehr sozialstaatlich einreguliert und als Normalfälle anerkannt sind. Von ihnen geht der große Aufschrei im Lande aber gar nicht aus. Den Protest veranstalten ihre Arbeitgeber. Unternehmer, die lediglich eine Umstellung ihrer Abgaben von der alten Pauschal-Lohnsteuer auf einen Sozialkassenbeitrag vornehmen müssen, sind nämlich relativ selten. Mit der Neuregelung des Gesetzes entfallen für den einfallsreichen Unternehmerstand einige Bequemlichkeiten, mit halblegalen Buchungstricks an der wundersamen Vermehrung von 630-Mark-Jobs zu arbeiten. Daneben werden auch noch die tatsächlich für 630 Mark angeheuerten Billiglöhner frech – jedenfalls der eine oder andere – und verlangt glatt von seinem Arbeitgeber einen Ausgleich für die Lohnsteuer, die er nun zahlen muß; oder er sucht sich eine richtige Schwarzarbeit; fast wird sogar der grauenhafte Anschlag zum Gesetz, den Anteil von 630-Mark-Kräften an der Gesamtbelegschaft eines Betriebs zu begrenzen… Insgesamt befürchtet die Unternehmerseite also eine Verteuerung ihrer bisherigen Billigarbeitskräfte – alles in allem ein bürokratischer Großangriff auf die neue ökonomische Kardinaltugend der „Flexibilität“ und auf die „Dynamik der Arbeitsmärkte“ gleich dazu, die Sozialminister Riester doch auf gar keinen Fall „abwürgen“ will (Die Zeit, 29.4.). Fast noch schlimmer der sozialstaatliche Kniff mit der „Scheinselbständigkeit“: Der ganz legale Trick, sich als Arbeitgeber „brutto für netto“ alle Sozialabgaben vom Hals zu schaffen und nebenbei die Selbstausbeutungskräfte der eigenen Ex-Arbeitnehmer anzustacheln, ebenso wie die umgekehrte Kalkulation einer ganzen modernen „Zwischenschicht“ von Jobbern, ohne Zwangsabgaben an den Sozialstaat durchs Leben zu kommen, werden da glatt mit brutaler Gesetzesgewalt durchkreuzt.
Soviel Sabotage an ihrem Geschäft lassen sich
Handwerksmeister, Putzkolonnenmanager und andere hart
arbeitende Dienstleister nicht widerstandslos bieten –
wenn schon alle Welt, und der Bundeskanzler
höchstpersönlich sowie im Namen der gesamten
deutsch-britischen Sozialdemokratie, ihrem
Geschäftsinteresse Recht gibt. Sie inszenieren
öffentliches Gezeter, ihre Lobbies machen Druck, die
Opposition steigt begeistert ein, und besonnene „rote“
Landesfürsten fallen ihren nationalen Sozialpolitikern in
den Rücken. Dabei geht es allen um – na was wohl! –
nichts als: Beschäftigung, die durch die
Neuregelung bedroht sei. Zwar hat keiner der zutiefst
betroffenen Arbeitgeber vor, sein Geschäft dranzugeben
und wegen der Neuregelung künftig davon Abstand zu
nehmen, anderer Leute Arbeit auszunutzen. Aber das
hindert natürlich keinen „Mittelständler“ und keinen
Politiker, der diese Leute lieb hat, daran, mit der
Drohung hausieren zu gehen, Deutschlands
„Leistungsträger“ könnten sich sozialversicherte
Angestellte einfach nicht leisten und müßten deswegen
Arbeitsplätze in rauhen Mengen streichen: Es sei zu
erwarten, daß sich die Zahl der 630-DM-Kräfte im Jahr
2000 halbiert
(SZ,
26.5.); zu fordern sei daher die sofortige
Aussetzung dieses großflächigen
Arbeitsplatzvernichtungsprogramms
. Mit ihren
veröffentlichten Rechnungen, wieviel teurer ihre
630-Mark-Kräfte und Scheinselbständigen sie in Zukunft
kommen würden, geben die Unternehmer interessanterweise
der staatlichen Begründung der Reform – von wegen
„Mißbrauch“, „halblegaler Freiraum“ und „Ausuferung“ –
unfreiwillig Recht. Aber für sie ist dieser bis gestern
gültige Zustand einer staatlich gebilligten Zone der
Ersparnis beim Lohn heute so etwas wie ihr
selbstverständliches Gewohnheitsrecht der Profitmacherei.
Was die angestellten Billiglöhner und die nicht angestellten Pseudo-Freiberufler betrifft, so bewähren sie sich voll als die billige und willige Manövriermasse ihrer Dienstherren, die sie sind. Kein Laut des Protestes gegen die extravagante Art ihrer Ausbeutung; keine Stimme, die darauf besteht, daß Abgaben an die Sozialkassen eigentlich Bestandteile ihres Lohnes wären. Stattdessen nehmen sie sich die Entlassungsdrohungen ihrer – „Schein-“ – Arbeitgeber zu Herzen, protestieren wenn überhaupt, dann gegen die „Belastung“ ihres Entgelts durch Abgaben, die ihren Chefs schlechte Laune machen, bekennen sich so zu ihrer hemmungslos ausgenutzten Abhängigkeit und machen klar, daß sie in den Einrichtungen des Sozialstaats schon längst gar kein Hilfsunternehmen zur Bewältigung ihrer systemgemäßen Armut mehr sehen, sondern nur noch eine Last. Womit sie einerseits richtig liegen. Umso fataler und verkehrter liegen sie andererseits, wenn sie durch die neue Sozialabgabenpflicht gar nicht so sehr sich belastet finden als vielmehr ausgerechnet die Unternehmer, die armen, denen sie mit ihrer Billigarbeit die Bilanz vergolden und die zum Dank dafür jede Mark Sozialabgabe zum „Beschäftigungshindernis“ erklären.
Wieviel Sozialstaat brauchen Billiglöhner?
Soviel Protest von Seiten „der Wirtschaft“ macht auf die
staatliche Seite Eindruck. Wo Unternehmer und ihre
Dienstleute stur darauf beharren, daß flexible
Billiglöhne sich nunmal nicht mit Sozialabgaben und
Sozialabsicherung vertragen, und über zehn Millionen
Menschen inzwischen zum Teil oder ganz in unversicherten
Beschäftigungsverhältnissen
(FR,
26.5.) eingehaust sind, da entsteht darüber bei
den politisch Verantwortlichen ein produktiver Streit, ob
Lohnarbeit mit einer Sozialabsicherung überhaupt
noch zu verbinden geht. Muß man angesichts der
sich ändernden Arbeitswelt
die Regeln des
Arbeits- und Sozialrechts so verändern, daß sie wieder
auf die moderne Entwicklung passen
(Riester, Die Zeit, 29.4.)? Oder gibt
„die moderne Entwicklung“ der CSU recht, die fordert, den
alten Zustand des 630-Mark-Gesetzes
wiederherzustellen
und das Gesetz zur Erfassung von
Scheinselbständigkeit zu entschärfen
(SZ, 22.5.), und ihre bayerische
Sozialministerin das Gesetz einfach boykottieren läßt?
Wenn schon Löhne üblich werden, von denen man nicht leben
kann, und deswegen Nebenverdienste sich einbürgern, deren
Entgelt auf ein Überleben erst gar nicht berechnet ist,
und es dann wiederum Leute gibt, die aus solchen
Nebenverdiensten ihren Hauptverdienst machen… Soll der
Sozialstaat auch das noch regeln oder nicht lieber der
Verelendung einfach so ihren Lauf lassen? Das sind so die
Alternativen nach einem Jahrhundert des sozialpolitisch
betreuten Kapitalismus.
*
Inzwischen liegt der x-te Vorschlag zur Überarbeitung der beiden Gesetze auf dem Tisch, auf daß sich nur ja kein Unternehmer an den Regelungen stören möge.
*
Andere Unternehmer schreiten zur Selbsthilfe: McDonalds kündigt an – es ist mittlerweile Ende Juli –, seinen 630-Mark-Kräften die Sozialabgaben von ihren 630 Mark abzuziehen. Die müssen jetzt bloß noch ihre zuständige Gewerkschaft daran hindern, dagegen einzuschreiten – dann ist die Billiglohnwelt doch schon wieder ganz in Ordnung.