Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Scheidender Bundespräsident Gauck: Grandioses Deutschland geht sogar ohne mich!

Der Bundespräsident kandidiert nicht für eine zweite Amtszeit. Devot bemüht sich die professionelle Öffentlichkeit, dieser Entscheidung des Staatsoberhauptes die gebührende Bedeutung zukommen zu lassen, und fragt besorgt, ob man anlässlich von Flüchtlingskrise und Wahlerfolgen der rechtspopulistischen AfD nicht befürchten müsse, dass sein Rückzug die politische Stabilität in Deutschland gefährden könne (welt.de, 6.6.16).

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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Scheidender Bundespräsident Gauck: Grandioses Deutschland geht sogar ohne mich!

Der Bundespräsident kandidiert nicht für eine zweite Amtszeit. Devot bemüht sich die professionelle Öffentlichkeit, dieser Entscheidung des Staatsoberhauptes die gebührende Bedeutung zukommen zu lassen, und fragt besorgt, ob man anlässlich von Flüchtlingskrise und Wahlerfolgen der rechtspopulistischen AfD nicht befürchten müsse, dass sein Rückzug die politische Stabilität in Deutschland gefährden könne (welt.de, 6.6.16). Es findet sich dafür sogar ein zitierbarer universitärer Geist, Historiker Paul Nolte, er glaubt, wir seien in einer quasi vorrevolutionären Unruhe. Es gebe wieder Systemverächter, die die Demokratie bedrängen. (Tina Hassel im ARD-Interview mit Gauck, 19.6.16) Der Amtsträger will die kritische Lage nicht leugnen; die Frage, ob die Republik in dieser dramatischen Situation seinen Abgang verkraftet, hat er nach langem Ringen mit sich selbst aber letztlich doch mit Ja beantwortet. Was ihn da so zuversichtlich stimmt:

„Unser Land hat engagierte Bürger, und es hat funktionierende Institutionen. Der Wechsel im Amt des Bundespräsidenten ist in diesem Deutschland daher kein Grund zur Sorge. Er ist vielmehr demokratische Normalität, auch in fordernden, auch in schwierigen Zeiten.“ (bundespraesident.de, Erklärung zur Amtszeit, 6.6.) „Ich sage, dieses Land ist so stabil, dass es diesen Wechsel gut verträgt.“ (Gauck im ARD-Interview, a.a.O.)

Dem Mann ist sichtlich sein Amt zu Kopf gestiegen. Für ersetzbar hält er seine werte Person nur deshalb, weil Bürger und Staatsdiener derzeit vollen Einsatz bringen und diese Republik stark genug machen, dass es in ihr auch ohne die Macht seiner Worte und Gesten, die „eine Energie und Vitalität voraussetzen, für die ich nicht [weitere fünf Jahre] garantieren kann“ (Gauck), gelingen wird, den bunten Haufen aus Mitbürgern aller Schichten und Kulturen zusammenzuhalten. Der Wahn, dass der Zusammenhalt des Landes an seinen persönlichen Qualitäten hinge, ist die déformation professionelle, die der Job, die Einheit der Nation in persona zu repräsentieren, offenbar mit sich bringt: Das Amt macht seinen Inhaber zur Verkörperung der nationalen Lebenslüge, dass nicht die herrschende Gesellschaftsordnung, für deren Geltung besagte „Institutionen“ sorgen, sondern letztlich die patriotische Gesinnung aller Regierten zusammenhält, was als Volk zusammengehört.

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Kaum kündigt Gauck seinen Rückzug an, weiß die ‚Vierte Gewalt‘ der Demokratie mit ihrem Gespür fürs Wesentliche schon von bevorstehender Entzweiung zu berichten:

„Es zeichnet sich ab, dass die Wahl des neuen Staatsoberhauptes stark von strategischen Überlegungen der Parteien hinsichtlich der Bundestagswahl im Herbst 2017 beeinflusst werden dürfte.“ (SZ, 6.6.)

Jede Partei präsentiert einen aus ihren Reihen, der als Repräsentant der nationalen Einheit am besten geeignet, nämlich absolut über-parteilich ist – z.B. die SPD: Steinmeiers Wahl zu unserem Staatsoberhaupt wäre nicht der Sieg einer Partei, sondern ein Sieg fürs Land (ebd.) –, um damit zu beweisen, dass in ihrer Partei die Verantwortung für die ganze Nation beheimatet ist im Unterschied zu ihren Konkurrenten, denen es bloß um ihre Parteiinteressen geht. Genau deshalb ist, sobald es um die Wahl des Überparteilichen geht, das Hickhack der Parteien unvermeidlich – selbstverständlich begleitet von den üblichen Warnungen aus den Parteizentralen, das hohe Amt nicht dadurch zu beschädigen, dass die Suche nach dem richtigen Kandidaten in die Niederungen der Parteienkonkurrenz gezogen wird.