6 Jahre Jelzin – Eigenarten des russischen Notstands
Ein Fiskus ohne Finanzen, ein Volk ohne Lohn, ein Staat ohne Macht und eine Regierung, die das alles regiert

Der russische Notstand geht von der herrschenden Macht im Lande aus, die sich im Namen ihrer neuen Staatsraison an der Zerstörung ihrer Machtquellen zu schaffen macht. Mit der formellen Orientierung an westlichen Regierungsgebräuchen – die wesentlichen Elemente von Staat & Marktwirtschaft sind gerade nicht vorhanden – hat die russische Regierung den rasanten Niedergang des Produktionsapparates herbeiregiert. Das Volk stellt dem nichts entgegen und der Westen trägt des Seinige zur Entmachtung von Russland bei.

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6 Jahre Jelzin – Eigenarten des russischen Notstands
Ein Fiskus ohne Finanzen, ein Volk ohne Lohn, ein Staat ohne Macht und eine Regierung, die das alles regiert

Die gängige Berichterstattung über die Verfassung der russischen Nation hat gewisse Härten an sich. Man wird darüber unterrichtet, daß die russische Regierung Probleme bei der Finanzierung ihres Haushalts hat, daß sie sich mehr und energischer um das Eintreiben von Steuern kümmern will – als ginge es im Prinzip um ähnliche Aufgaben, wie sie sich westliche Finanzminister stellen. Zugleich aber wird man darüber informiert, daß die russische Regierung den zehn größten Steuerschuldnern, die identisch mit den zehn größten Unternehmen des Landes sind, mit der eher außergewöhnlichen Drohung gegenübertritt, für den Fall der Nichtzahlung Konkursverfahren gegen sie zu eröffnen. Einige der angeklagten Betriebe reagieren mit der Gegendrohung, wenn der Staat auf Zahlung bestehe, ihre Produktion, u.a. Teile der nationalen Energieversorgung einstellen zu müssen, womit von einer russischen Volkswirtschaft wenig übrig bliebe. Ein Fall von Steuerreform?

Regelmäßig wird über „Lohnrückstände“ berichtet – Millionen russischer Arbeiter und Staatsangestellter erhalten kein Geld, über Monate hinweg. Spricht das dafür, daß das russische Volk sich im Prinzip von Lohnarbeit ernährt? Daß die sogenannten Rückstände die Ausnahme von einer in Rußland gültigen Regel sind?

Es wird von Plänen der Regierung berichtet, die Armee zu reformieren, zu „verschlanken“ und zu „effektivieren“, u.a. aus dem interessanten Grund, daß Soldaten verhungern und kaum noch ein Truppenteil imstande ist, seine vorgesehene Funktion auszuführen. Ob der Titel Armeereform die Sache trifft?

Solche und andere Meldungen über die kritische Verfassung der Großmacht Rußland werden verbreitet und zugleich verharmlost, indem sie unter die Kategorien westlichen Politikwesens eingeordnet, an den hierzulande gültigen Maßstäben gemessen werden, wie man einen Haushalt in Ordnung, das Militär auf einen erwünschten Stand zu bringen pflegt. Die dargestellten Problemlagen sind zwar von ausnahmemäßigem Kaliber, aber daß es in Rußland eine Regierungstätigkeit gibt, die mit der Behebung dieser Probleme befaßt sein soll, wird von der hiesigen Öffentlichkeit ungerührt unterstellt. Und das ausgerechnet da, wo sie von lauter Fällen berichtet, aus denen hervorgeht, daß diese Regierungstätigkeit die Probleme schafft.

Der Schein von Normalität, unter den die Katastrophenmeldungen aus dem Osten mit einer gewissen intellektuellen Gewalttätigkeit subsumiert werden, existiert allerdings nicht nur als Sichtweise der hiesigen Öffentlichkeit. Auch die wirklichen politischen Subjekte halten daran fest, so schwer es inzwischen auch fällt.

Die Lage der Finanzen

Der Steuerkrieg

Die maßgeblichen Stellen in Rußland definieren die ökonomischen Probleme ihres Staates gar nicht grundsätzlich anders als der deutsche Finanzminister. Sie kopieren die finanzpolitischen Verfahren, mit denen die Vorbild-Nationen ihren Finanzbedarf regeln. Im letzten Jahr sind sie zu dem Befund gekommen, daß das russische Staatswesen am zu geringen Steueraufkommen aufgrund einer fehlenden Steuerdisziplin leidet, und sind seitdem damit befaßt, diese Mißstände zu beheben.

Die Probleme des russischen Staates sind jedoch ganz andere: Er verfügt gar nicht über die Steuerhoheit. Nach eigenen Auskünften handelt es sich nämlich nicht um einzelne Fälle von Steuerschulden, sondern um flächendeckende „Nicht-Zahlungen“.[1] Der Sachverhalt, daß Steuern nicht entrichtet werden, gilt erstens als Normalfall und wird zweitens wie eine unentschiedene Gewaltfrage behandelt, indem die Regierung eine Tscheka einrichtet und auf vermeintliche Steuersünder losläßt.[2] Andererseits kann von Steuerschulden in dem Sinn auch nicht die Rede sein – vielmehr ist keine Substanz zum Besteuern da. Die Alternative stellt sich schließlich so dar: Wenn Schulden eingetrieben werden, wird die verbliebene Produktion weiter geschädigt; der Energiekonzern Gazprom hat mit der Drohung geantwortet, daß die russische Regierung entweder auf Steuerzahlung oder Energieversorgung bestehen kann. Bei Nicht-Eintreiben muß hinwiederum der Staat sich eigentlich für bankrott erklären. Auch die Redeweise von einer „Finanzkrise“ stellt eine Vertuschung des wirklichen Sachverhalts dar: Die russische Staatsmacherei leidet nicht an zu wenigem oder zu schlechtem Geld – das, was zirkuliert, erfüllt nicht den Tatbestand eines mit Kaufkraft ausgestatteten Geldes. Dieser Staat macht seinen Beschluß, mehr Steuern zu erheben und einzutreiben, gegenüber einer Gesellschaft geltend, in der kein Geld verdient wird. Er beansprucht nicht einen (größeren) Teil der Einkommen seiner Bürger, sondern erklärt seine Gesellschaft zur Steuerquelle, obwohl deren Revenuequellen nicht funktionieren.

Der russische Staat besteht aber auf dieser Fiktion und verspricht mehr Durchsetzungsvermögen beim Eintreiben. Das geht. Durchgesetzt wird dann allerdings auch nur die programmatische Rücksichtslosigkeit gegenüber der zugrunde reformierten Ökonomie: Der Zugriffswille auf Geld, das die Gesellschaft nicht verdient, greift auch noch die Sorte Wirtschaftstätigkeit an, die sich nur deswegen gehalten hat, weil zwischen den Unternehmen, in ihrem Verhältnis zum Staat und zu ihren Belegschaften im Zweifelsfall niemand auf Zahlung bestanden hat. Mittel sind nur ausnahmsweise abzuholen, aber immer wieder Betriebe lahmlegen, das sachliche Inventar konfiszieren und Direktoren verhaften, das läßt sich schon machen. Oder die Steuerinspektoren kapitulieren, und der Staat verzichtet auf Vollstreckung seiner Anordnungen.

Auf der anderen Seite hat die russische Regierung andere Transaktionen zu Steuerquellen definiert: die Wodka-Zirkulation, Devisenkonto-Bewegungen, Ein- und Ausreise von Russen und Ausländern.[3] Diese neueren Beschlüsse zur Beschlagnahme von Geld richten sich pur danach aus, wo überhaupt manifeste Bewegungen von Reichtum dingfest zu machen sind: Bei Devisenbesitzern des jämmerlichen Kalibers, die ihren Besitz einer russischen Bank anvertrauen müssen; beim Umsatz des Grundnahrungsmittels, mit dem sich ein verelendetes Volk bei Laune hält; und dort, wo etwas über die russische Grenze transportiert wird oder Reisenden immerhin der Verdacht auf Geldbesitz präsentiert werden kann. Auch andere Staaten bedienen sich zwar an anerkannten Volkslastern oder benützen ihre Aufsicht über Banken und Grenzen in fiskalischer Hinsicht; der gewisse Unterschied ist allerdings unübersehbar, ob es sich dabei um einen Zusatz zum staatlichen Absahnen an laufenden Geschäften handelt, bzw. um dessen Organisationsweise, oder ob der akute Mangel an einer regulären Geschäftswelt, die der Staat mit Tribut belegen könnte, der Grund ist. Die russische Staatsmacht setzt schlicht auf die Präsenz ihrer Machtorgane, um sich Zugriff auf Geld zu verschaffen. Damit hat sie sich dann allerdings eine dementsprechend gigantische Polizeiaufgabe vorgenommen – in erster Linie ist die Mafia als neue Steuerquelle vorgesehen, die, falls sie nicht gleich mit der Polizei zusammenarbeitet, ihrerseits einen auf ihre Aufgaben zugeschnittenen Gewaltapparat kommandiert, der im Unterschied zum staatlichen nicht an Geldnot und mangelnder Ausrüstung leidet.

Der Beschluß zur gewaltsamen Exekution staatlicher Geldforderungen provoziert die gewaltsame Gegenwehr: Betriebe stellen ihrerseits Schlägerbanden auf, um ausstehende Zahlungen einzutreiben, bzw. um sich gegen die staatlichen Steuerinspektoren zur Wehr zu setzen.[4] Das Finanzministerium gerät in Streitigkeiten mit anderen Ministerien,[5] die „Subjekte der Föderation“ verweigern die Anerkennung von Regierungsbeschlüssen.[6] Die Finanzinspektoren sollen der Polizei Anweisungen erteilen, die Polizei setzt sich dagegen zur Wehr. An allen diesen Fronten wird in aller Deutlichkeit klargestellt, daß die Staatsgewalt in Moskau gar nicht über die Exekutivmacht verfügt, um die von ihr eröffneten Gewaltfragen eindeutig für sich entscheiden zu können; sie repräsentiert ja nicht einmal einen einheitlichen Staatswillen, auf den die Organe der Staatsmacht zweifelsfrei verpflichtet wären. Mit ihren Direktiven zur Geldbeschlagnahme fordert sie vielmehr die Exekutivorgane und „Subjekte der Föderation“ zu weiterer Gehorsamsverweigerung heraus. Die positive Idee, das Geldeintreiben dadurch zu befördern, daß die eintreibenden Organe, Grenztruppen und Finanzbeamte, an den Einkünften beteiligt werden, versetzt diese Staatsorgane objektiv in den Status von Wegelagerern.

Die russische Regierung stößt praktisch darauf, daß ihre Nationalökonomie eine Fiktion ist – daß produziert wird, ist die Ausnahme, der Bestand des Volks ist in elementarem Sinn gefährdet[7] –, behandelt wird diese Lage wie ein finanzieller Notstand des Staats. Indem sie an diesem Standpunkt der Staatsfinanzen festhält und ihn durchsetzt, treibt sie den Verfall der produktiven Grundlage voran und weit über den Punkt hinaus, an dem normale Staaten sich zur Rettung ihrer materiellen Grundlagen aufgerufen sehen. Wo diese Geldrechnungen außer Kraft setzen und sich auf ihre Gewalt als Instrument der Erhaltung ihrer Machtbasis besinnen würden, hält der russische Staat stur am Gesichtspunkt seiner Finanzen fest.

Die russische Regierung kopiert mit ihrem Finanzgebaren staatliche Verfahren, die eine funktionierende Marktwirtschaft voraussetzen, ohne diese – ziemlich entscheidende – Bedingung. Mit bemerkenswerter Konsequenz hält sie am längst blamierten Umbruchsprogramm fest: Schon im Ausgangspunkt haben sich die Gründer einer russischen Marktwirtschaft der Aufgabe gar nicht wirklich gestellt, die sie sich vorgenommen hatten, die Bedingungen des kapitalistischen Geldvermehrens in ihrer Gesellschaft gewaltsam herzustellen. Stattdessen haben sie so getan, als ob in Rußland schon alle wesentlichen Elemente einer Marktwirtschaft vorhanden seien, und die Regierung nur die Aufgabe hätte, mit ihren Reformen ein Geschäftsleben freizusetzen und mit den Verfahrensweisen und Instrumenten eines bürgerlichen Staats dessen Erfolg zu betreuen. Ihre formelle Orientierung an westlichen Regierungsgebräuchen war die Weise, den rasanten Niedergang des Produktionsapparats herbeizuführen. Heutzutage registrieren sie zunehmend katastrophale Erscheinungen in ihrem Herrschaftsbereich, wollen und können aber nicht verstehen, daß und inwiefern sie es dabei mit einem Produkt ihrer eigenen Regierungstätigkeit zu tun haben.

Daß die maßgeblichen Russen ein falsches Bewußtsein gegenüber ihrer Basis vollstrecken, geben offizielle Stellungnahmen zu Protokoll, die ein Verwundern darüber ausdrücken, daß in Rußland alles den Bach runtergeht, obwohl sie ihren Staat nach allen Regeln marktwirtschaftlicher Rechnungsführung einrichten – sogar die Geldmengen M1 bis M3 unterscheiden sie lehrbuchgemäß. Sie halten zäh an der Auffassung fest, daß bürgerliche Geld- und Finanzpolitik eine Methode ist, erfolgreich Staat zu machen, bekennen immer öfter ihre Ratlosigkeit gegenüber dem Sachverhalt, daß die Methodik bei ihnen nicht verfängt.[8] Und ziehen aus ihren Mißerfolgen immer nur denselben Schluß: daß sie sich an die Gepflogenheiten erfolgreicher Staaten noch nicht ausreichend angepaßt haben, bzw. daß sie auf die Hilfe dieser Staaten dringend angewiesen sind.

Eine Karikatur von Haushalt

Die neurussische Staatsmacht hat die Quellen der Reichtumsproduktion in ihren Grenzen ruiniert. Sie hat es daher noch nie zu einem Haushalt in dem Sinn gebracht, daß in Rußland produzierte Ware sich in der Vermehrung eines russischen Geldes niedergeschlagen und der Staat einen Teil davon eingezogen hätte. Dieser Sachverhalt hat die Zuständigen ziemlich unberührt gelassen, d.h. sie haben sich lange Zeit die luxuriöse Auffassung geleistet, daß es sich in einer Nation, die eigentlich reich ist, nur um so etwas wie Anlaufschwierigkeiten handeln kann. Dabei haben sie sich auf andere Einnahmequellen verlassen: die Rohstoff- und Energievorkommen, die sich problemlos in hartes Geld verwandeln lassen. De facto hat sich die Finanzierung ihrer Staatsherrlichkeit schon längst von der Fiktion einer russischen Volkswirtschaft verabschiedet und auf dieses Ausverkaufsgeschäft, russischer Naturreichtum gegen Weltgeld, verlegt. Nun ist aber dieser – bis dahin der wichtigste – Einnahmeposten der Regierung, die staatliche Beteiligung am Rohstoffexport in Form von Exportzöllen, entfallen – als Gegenleistung für seine Kreditzusagen im Frühjahr hatte der IWF verlangt, daß sich der russische Staat als „Handelshemmnis“ für diese gedeihlichen Geschäfte des Weltmarkts aus dem Verkehr zieht. Daher die aktuelle Finanznot, für die man sich an der Steuerfront gewaltsam Kompensation verschaffen will.

Seit dem Verzicht auf diese Einnahmequelle fällt den russischen Haushaltskonstrukteuren auf, was sie angerichtet haben, daß sie auch in anderer Hinsicht die Kontrolle über die weltgeld-tauglichen Geschäfte der Nation längst aus der Hand gegeben und verloren haben: Die Lizenz, die Naturschätze über die Grenzen zu schaffen, ist einerseits zum Mittel des Politschachers gemacht, d.h. an andere politische Subjekte,[9] andererseits an Private abgetreten worden, die die in dieser Branche zu erzielenden Gewinne vor dem Zugriff des Staates in Sicherheit bringen. Während der „Präsident der Rußländischen Föderation“

„die Ausfuhr von Devisenreserven sowie strategisch wichtiger Arten von Rohstoffen und Waren aus der rußländischen Föderation, bei gleichzeitiger äußerst ineffektiver oder gänzlich krimineller Verwendung der dadurch erzielten Einnahmen“ [10]

beklagt und etwas weltfremd an die patriotische Gesinnung der Mafia appelliert, veröffentlicht der Innenminister eine neue Erfolgsstatistik und berichtet von einem „stabilen Wachstum von Kriminaltaten“:

„Verbrechen und Korruption hätten sich vor allem im Rohstoffhandel, bei Bank- und Wertpapiergeschäften sowie beim Ex- und Import ausgebreitet“ (FAZ 11.2.97)

– also exakt in den Branchen, die das russische Wirtschaftsleben ausmachen. Die Mafia spielt unter russischen Verhältnissen eine neue Rolle, sie ist – folgt man dem Bericht des Innenministers und läßt seine eher unsachliche Unterscheidung von „Verbrechen“ und „Wirtschaft“ einmal beiseite – mehr oder weniger mit der russischen „Wirtschaft“ identisch:

„Die russische Wirtschaft könnte an ihrer Kriminalisierung zugrundegehen… In den vergangenen 5 Jahren hätten „kriminelle Geschäftsstrukturen“ aus Rußland 300 Mrd Dollar ins Ausland überführt. Besonders kriminalisiert sei die Rohstoff- und Energiewirtschaft… Unter Beteiligung korrumpierter Staatsbeamter beeinflußten Verbrecher die Auswahl von Öl- und Gas-Exporteuren, die Verkaufspreise sowie die Verteilung von Hartwährungsmitteln, die aus dem unkontrollierten Export stammten. Die Entstaatlichung der Gold- und Diamantenförderung habe zur völligen Kriminalisierung dieser Zweige geführt.“ (FAZ 29.11.96)
„Als Nährboden für die Kriminalität gilt die gesamte russische Rohstoff- und Energiewirtschaft… Darüber hinaus berichtet eine regierungsunabhängige Prüfungsgesellschaft, die Verwaltung des russischen Präsidenten und die Regierung hätten während des Präsidentenwahlkampfs im vergangenen Jahr einen großen Teil des Diamantenvorrats verkaufen lassen. Das Finanzministerium habe dabei – ebenso wie das Staatskomitee für Edelmetalle – gegen die Gesetze verstoßen.“ (FAZ 11.2.97)

Wenn die Mafia nicht nur die russische Wirtschaft repräsentiert, sondern auch schon Einzug in den Kreml gehalten hat – ob da der Innenminister mit seinem angekündigten Kampf gegen die „Kriminalisierung der Wirtschaft“ die Lage richtig erfaßt? Wenn bis in die Spitzen der Staatsmacht hinein die Repräsentanten der Ordnung nicht von Kriminellen zu unterscheiden sein sollen, ist die objektive Lage doch wohl eher anders zu bestimmen: In Rußland ist privater Gelderwerb als gesetzlich gültige Lebensform geboten, aber in den dafür vorgesehenen marktwirtschaftlichen Formen so wenig zu haben, daß sogar die Regierenden sich ihre Finanzen für Wahlkämpfe im Ausland, unter Verstoß gegen ihre eigenen Exportgesetze, besorgen müssen. Aus demselben Grund behaupten sich andere Subjekte, die in den wenigen gewinnbringenden Branchen tätig sind, mit aller nötigen Gewalt gegen staatliche Einmischung und Beteiligung an ihrer Revenuequelle. Eine Staatsmacht, die nicht als solche fungiert, die nicht als Gewaltmonopol ihrer Gesellschaft Mittel und Wege ihrer Bereicherung diktiert und sich darüber erhält, steht einer Nationalökonomie gegenüber, die nicht als solche funktioniert, die Reichtum entweder gar nicht mehr oder nur unter der Bedingung zustandebringt, daß er sich jenseits der nationalen Grenzen in fremdes Geld umsetzen und dort wertbeständig aufbewahren läßt.

Nachdem der „Kampf“ der Staatsmacht „gegen die Kriminalität“, d.h. gegen die an allen Stellen von deren eigenen Agenten betriebene Beteiligung am gesamtrussischen Ausverkauf, dementsprechend aussichtslos ausfällt, ist der russische Staatshaushalt darauf verwiesen, sich aus kontinuierlich schwindenden Anteilen an Rubeleinkommen und in entsprechender Proportion steigendem staatlichen Gelddrucken zu „finanzieren“: Inländische Schuldverschreibungen sollten 96 zwei Drittel des Defizits decken. Unterzubringen sind sie nur mit entsprechenden Renditen, die auf über 200% angestiegen sind, so daß in den Haushaltsrechnungen immer gigantischere Beträge für diese exklusive Zirkulation zwischen Staat und Banken eingestellt werden müssen.[11]

Mit Geld hat diese Vermehrung von staatlichen Schuldscheinen außer der Erscheinungsform von amtlich bedrucktem Papier wenig gemeinsam. Diese Pyramide an höchster Stelle, bei der der Staat, bzw. die Druckerei der Nationalbank der einzige „Zahler“ ist, findet ohne nennenswerte Berührung mit einer Reichtumsproduktion im Land statt: Der Staat druckt Schuldtitel, die ihm sein Bankenwesen unter der Bedingung abnimmt, daß er ihm immer mehr solcher Titel überstellt. Daher das Phänomen, daß die sogenannten „haushaltsnahen Banken“ gedeihen, während umgekehrt „die Banken, die den Zahlungsverkehr der Industrie abwickeln, als erste untergehen. Sie werden von den in Not geratenen Betrieben buchstäblich ‚aufgefressen‘“.[12] Die ersteren spezialisieren sich auf das Geschäft, Staatsemissionen zu kaufen, werden dafür vom Staat mit astronomischen Zinsen – vom IWF empfohlene „Realzinsen“, zur Bekämpfung der Inflation gedacht – belohnt. Etwaige Zweifel an der Tauglichkeit dieser Geldsummen werden durch das Angebot soliderer Pfänder, einer Sorte von Anlagemöglichkeit, ausgeräumt: Die Regierung veranstaltet mit diesem exklusiven Bankenzirkel Pfandauktionen, bei denen sie noch verbliebene Betriebe, die sie sich wegen deren „Steuerschulden“ wieder als Staatseigentum zugeschrieben hat, in Gestalt von Aktienpaketen zur Versteigerung anbietet. Das wird im Ausland als letzte Etappe im Kapitel Privatisierung gewürdigt. Daher rührt die Neigung zu Mord und Totschlag auch in höchsten russischen Banker- und Geschäftskreisen, weil der neue Typ von „feindlicher Übernahme“ von versteigerten Betrieben, von Konkurrenten oder den politischen Hütern manchmal brachial bestritten wird. Daher auf der anderen Seite auch ein neuer Grad von „Verschmelzung“ von „Staat“ und „Kapital“: Die in Rußland als „G7“ bezeichneten 7 führenden Banker, personalidentisch mit den „haushaltsnahen Banken“, gleichzeitig Vorsitzende von Rohstoffkonzernen, die als Finanziers von Jelzins Wahlkampf hervorgetreten sind, sind inzwischen zu Mitgliedern von Jelzins Sicherheitsrat befördert worden. Insofern ist die Privatisierung komplett und gelungen: Was in Rußland überhaupt noch zur Geldquelle taugt, wird ins Privateigentum von Jelzins Hofkamarilla oder in das konkurrierender lokaler Machthaber überführt.

So erklärt sich auch nebenbei der „Erfolg im Kampf gegen die Inflation“, den die Regierung als einen ihrer wenigen Erfolge gar nicht genug rühmen kann: Das staatliche Gelddrucken und der Kauf dieser Schuldtitel findet völlig abgehoben von einer produktiven Benützung von Kredit statt, als Inzucht zwischen Regierung und regierungstreuen Banken. Im Namen der Inflationsbekämpfung, behutsam angeleitet vom IWF, zahlt der Staat das Geld, das Inflation bewirken könnte, an Arbeiter und Rentner und sonstiges Staatspersonal möglichst nicht aus. Schließlich wird zunehmend weniger produziert, und noch weniger vom Produzierten gegen russisches Geld umgesetzt, so daß auch das Phänomen von Preissteigerungen merklich zurückgeht. Wenn Staat und Banken sich wechselseitig Geldziffern als Minus und Plus gutschreiben und jenseits davon der Umsatz von Ware gegen Geld unterbleibt, wenn das Geld im Inneren mit einem gültigen Anrechtstitel auf sachlichen Reichtum grundsätzlich nichts zu schaffen hat, ist auch das Problem der Geldentwertung in gewisser Weise gelöst: Wenn nichts produziert und bezahlt wird, steigen auch keine Preise.[13]

Auswärtige Hilfe

Daß dieses – auch für kapitalistische Verhältnisse, in denen einiges an Schwindel normal ist – groteske Finanzwesen überhaupt seinen Gang gehen, die russische Nationalbank so tun kann, als sei sie im Besitz von Finanzgrößen und mit deren staatsdienlicher Verwaltung befaßt, hängt an der westlichen Erlaubnis: Nur der westliche Beitrag, Kredite in gültiger, ausländischer Währung, die schon regelmäßig in den russischen Haushalt eingeplant werden, gestattet es, dieses Gesamtkunstwerk fortzuführen.

Das maßgebliche Interesse des westlichen Auslands, das den Schein eines russischen Geldwesens am Leben hält, besteht darin, daß Rußland seine Schulden bedienen und, weil es das nicht kann, wenigstens den Schein eines haltbaren Schuldners aufrechterhalten muß, damit seine Schulden auswärts weiterhin als Guthaben verbucht werden können. Für die geregelte Verwaltung seiner Schulden und für den dafür nötigen Schuldendienst konzediert der geschäftsführende Ausschuß des internationalen Kreditüberbaus, der IWF, Rußland sogar eine eigene Zahlungsfähigkeit – unter der Bedingung, daß Rußland im Gegenzug etwas für seinen guten Ruf als Steuerstaat tut.

Die mit der Verweigerung von Kredittranchen, Neuverhandlung und neuerlichen Kreditzugeständnissen betriebene Einflußnahme soll das Geschäft mit russischen Schuldtiteln sichern und verpflichtet russisches Regieren nachhaltig auf die Geldfiktion und das unter dieser Richtlinie betriebene Zerstörungswerk. Es mag dahingestellt bleiben, wie sehr IWF-Funktionäre an eine positive Zweckmäßigkeit ihrer Rezepte glauben; die Sturheit, mit der sie auch in anderen Fällen von Staatsbankrott die betreuten Regierungen auf den Standpunkt der Schuldenbedienung verpflichten und darauf, noch den elendesten Gesellschaften Geld abzupressen, ist beachtlich. Sicher ist ihnen aber der negative Grund für ihr geldpolitisches Gesundreden vertraut: An die Fiktion eines russischen Geldwesens darf nicht gerührt werden, weil zuviel daran hängt: auswärtiger Kredit, der nicht schlecht geredet werden darf, die guten Geschäfte mit russischen Rohstoffexporten und schließlich die mit dem Einverständnis der Reformregierung etablierten Abhängigkeitsverhältnisse dieser Nation, die gar nicht erst auf den Gedanken kommen darf, im Interesse ihrer Sanierung die vom Ausland gestellten Bedingungen in Frage zu stellen. Auf diesen Rechtstiteln besteht der Westen, er hat Mittel; mit jeder IWF-Tranche werden die russischen Geschäftspartner auf die Pseudo-Normalität eines nach außen und innen gültigen Geldwesens festgelegt, indem sie die Mittel erhalten, ihren marktwirtschaftlichen Bankrottladen so fortzuführen, als ob außer einem gewissen Notstand nichts wäre.

Bisher hält sich die russische Politik, trotz aller Streitigkeiten mit der Duma und in der Regierung selbst, an die Linie einer einvernehmlich mit dem IWF betriebenen „Geldpolitik“. Auf diesem Weg hat Rußland auch Erfolge zu verzeichnen: Seit dem Herbst, seitdem Schuldenabkommen mit dem Pariser und Londoner Club, inklusive der Anerkennung der Zarenschulden, abgeschlossen worden sind, haben die privaten Geldmärkte auch diesen Schuldenstaat – mit „Ratings“ in der Güteklasse von Argentinien und Mexiko – als kreditwürdig anerkannt und zeigen sich geneigt,- bei entsprechender Rendite selbstredend – seine Staatsanleihen zu kaufen. Beide Seiten verkünden ihre Zufriedenheit: Sogenannte „Analysten“ sagen den Käufern russischer Schuldtitel traumhafte Gewinne voraus – während Pessimisten warnend auf gewisse Risiken verweisen. Die russische Regierung, die Städte St.Petersburg, Moskau und Gazprom planen bereits die nächsten Anleihen. Darüber wird die Nation dann allerdings auch auf einen bestimmten Status festgelegt. Die außergewöhnliche Praxis, mit der Rußland erlaubt wird, das Finanzwesen eines bürgerlichen Staats auf den Kopf zu stellen, mit auswärtigem Kredit zu überspielen, daß interne Geldquellen nicht vorhanden sind, schreibt den Zustand der Zahlungsunfähigkeit und damit die Abhängigkeit vom Ausland fest. Und damit wird die Demontage der russischen Produktion, die Rückstufung einer Industrienation auf den Status eines Rohstofflieferanten, die Entmachtung Rußlands auf ökonomischem Gebiet, ein weiteres Stück Reform also, vorangetrieben und unumkehrbar gemacht.[14] Allerdings bleibt es immer noch ein Schuldnerstaat von besonderer Qualität, mit dem noch ganz andere Tauschgeschäfte, Raketenabbau gegen Kredit z.B., abgewickelt werden.

„Lohnrückstände“ – weder Lohn noch Rückstände

Es mag Staaten geben, die nicht willens sind, ihre Leute zu bezahlen, dieser aber ist dazu nicht fähig. Mit der Trennung von Ökonomie und Staat, der Ernennung der russischen Produktivkräfte zu Privateigentum und ihrem Untergang ist das Volk radikal und umfassend von seiner Reproduktion getrennt worden. Während die Staatsmacht das vernichtende polit-ökonomische Urteil über die Verwendungsfähigkeit russischer Arbeitskraft vollstreckt, faktisch ihr Volk alternativlos in die Not entläßt, wird das politische Erbe des Vorgängerstaats, die staatliche Pflicht als Arbeitgeber anerkannt und formell aufrechterhalten: So kommt das Volk zu seinem neuen Status als staatlich anerkannter Gläubiger. Die Obrigkeit bilanziert in Billionen bemessene „Lohnschulden“ – auch das eine Novität in der Staatenwelt. Ein regulärer Staat schuldet seiner Gesellschaft nichts; er nimmt sie umgekehrt in die Pflicht, mit ihrer Reichtumsproduktion auch seine faux frais zu erwirtschaften.

Die Regierenden halten gegen allen Augenschein die Konstruktion aufrecht, als ob es um einzelne, regulierbare Mißstände ginge, die sie mit aller Kraft zu beheben suchten: Sie benennen Verantwortliche, suchen Schuldige, „suchen das Geld“. Es ist zwar zur reinen politischen Willkür geraten, wann überhaupt und an wen einmal etwas gezahlt wird, manchmal für Wahlstimmen, manchmal zur Beendigung von Streiks. Gleichzeitig wird die Auszahlung von Löhnen, Renten usw. neuerdings aber als nationale Aufgabe Nr. 1 ausgegeben: Die Geldbeschaffungsfeldzüge, die anerkanntermaßen nicht einmal die Unterhaltskosten der Exekutivorgane einbringen, sollen ausschließlich dem edlen Zweck gehorchen, das Volk zu bedienen. Die geplante Grenzsteuer wird in der moralischen Einheit von Mindestlöhnen berechnet; „Ausschweifungen auf dem Alkoholmarkt“ sollen die „bedeutende Verlustquelle“ sein, die es „nicht erlaube, die Renten zu zahlen“,[15] und die Gelder sollen dank staatlicher Tatkraft nunmehr wieder für die Rentner requiriert werden.

Diese Inszenierung geschieht in eindeutiger Absicht: Der Staat hat den Lebensunterhalt seiner Untergebenen gekündigt, diese dürfen ihm aber nicht ihren Gehorsam kündigen. Sie gilt der Aufrechterhaltung einer Staatsbürgermoral, die die Verfügung über die eigenen Lebensumstände berechnungs- und bedingungslos der Staatsgewalt überläßt. Daß diese staatliche Berechnung gegenüber dem russischen Volk bislang glatt aufgeht, dürfte allerdings weniger an der Glaubwürdigkeit der gigantischen Volksverarschung – ‚die Regierung kümmert sich um Lohnrückstände‘ – liegen als daran, daß der reale Sozialismus mit diesem Volk ein äußerst gelungenes Erziehungsprodukt hinterlassen hat. Russische Lohnarbeiter, die seit Monaten keinen Lohn zu sehen bekommen, denken nicht an Kündigung ihres merkwürdigen Status als nicht-bezahlter Angehöriger eines Betriebs, einkommensloser Staatsbediensteter; sie tun ihre Pflicht, wo sie noch gefragt ist, und schlagen sich mit immer elenderen Behelfsmitteln durch. Indem sie über nicht-eingehaltene Pflichten von oben jammern, halten sie den Maßstab einer immer noch gültigen Zuständigkeit des Staats für ihr Wohlergehen fest, auch wenn von einer solchen Zuständigkeit längst nichts mehr festzustellen ist – und erklären sich darüber für ohnmächtig. Stellvertretend für viele ein Gewerkschaftsvertreter:

„Es bedürfe keiner großen Anstrengungen, Gewerkschaftskolonnen in Marsch zu setzen, die den Moskauer Kreml stürmten. Doch nur verantwortungslose Politiker handelten nach dem Motto ‚je schlechter, je besser‘. Die Gewerkschaften lebten hingegen nach dem Prinzip: ‚Jede noch so kleine Verbesserung heute ist besser als gar keine.‘ Eine Erstürmung des Kreml würde die Lage der einfachen Leute nur noch verschlechtern. ‚Deshalb werden unsere Kolonnen nicht zum Kreml marschieren‘.“ (FAZ 5.12.96)

Es wäre wirklich aussichtslos, den Kreml auf der Suche nach ausstehenden Lohngeldern zu stürmen; diese Staatsmacht ist nicht nur im landläufigen Sinn bankrott. Aber mit der gegenstandslosen Vorteilsrechnung, die der Mann von der Gewerkschaft anstellt – worin soll denn die „Verbesserung“ bestehen, etwa darin, daß seine Klientel nur 5 statt 6 Monate hungert? –, führt er einmal ganz anders den Fehler von Gewerkschaftspolitik vor, die sich, weil sie einem Kapital oder einer Hoheit etwas abpressen will, auf die Anerkennung dieser Instanzen und deren Forderungen verpflichtet: Er hat eine Regierung vor sich, der sich mangels Geld und mangels Macht gar nichts abpressen läßtund bekennt demgegenüber den festen Glauben an die Unverzichtbarkeit einer Regierung. Für eine Gewerkschaft gibt es in Rußland schlechterdings nichts zu tun. Dort ist eine „revolutionäre Lage“ im buchstäblichen Sinn eingetreten – die oben können nicht mehr. Arbeitern, die nicht weiter mit dem Warten auf Löhne, die nicht eintreffen, und der Suche nach Lebensmitteln, die nicht produziert werden, beschäftigt sein wollen, bleibt nichts anderes übrig, als ihre (Über-)Lebensnotwendigkeiten selbst in die Hand zu nehmen und die Produktion zu organisieren. Aber genau das will in Rußland niemand.

Die streikenden Bergarbeiter haben sich die Notwendigkeit einleuchten lassen, ihren Streik zu beenden, ohne Geld weiter Kohle zu fördern, damit sie samt der Stadt, in der sie leben, nicht erfrieren; die Notwendigkeit, durch eine landesweit geplante Arbeitsteilung ihr Überleben zu sichern, will ihnen nicht einfallen. Nicht einmal die Erinnerung an ihr altes System, das eine elementare Versorgung immerhin zustandegebracht hat, stört sie in ihrer stoischen Erwartung, regiert zu werden. Das Volk spielt seine Rolle als Volk gnadenlos weiter, obwohl die Staatsmacht aus ihrem Part schon längst ausgestiegen ist.

Vorhanden sind auch noch die Reste der ehemaligen KPdSU, die Sjuganow-Kommunisten mit dem im Verhältnis zu jeder anderen Partei in Rußland riesigen Mitgliederbestand. Sie denken nicht im mindesten daran, dem Feindbild gerecht zu werden, das ihnen angehängt wird: Nach der aber- und abermaligen Feststellung: „Die Lage in Rußland trägt deutlich den Charakter einer Katastrophe“, „die Regierung betreibt eine Politik des bewußten Wirtschaftssterbens“, folgt das Bekenntnis,

„daß die KPRF sich als unversöhnliche Opposition versteht. Diese Opposition ist aber nicht nur unversöhnlich, sondern auch verantwortungsvoll. Wir können nicht warten mit der Realisierung von Wählerwünschen… Die Aufgaben des Roten Gürtels ist Organisation der Offensive gegen die Politik des Zentrums durch den Föderationsrat und in engem Zusammenwirken mit dem patriotischen Teil der Duma… Wir können sofort gesetzgebende Arbeit vor Ort entfalten und solche Beschlüsse fassen, die auf Bundesebene durch die Obstruktion durch Regierung und Massenmedien bisher nicht möglich waren.“ (Junge Welt 14.1.97)

Ämter erobern, Gesetze erlassen, die genausowenig Gültigkeit haben, aber immerhin die in Moskau blamieren, um dann einmal in Moskau selbst die Ämter zu erobern, mehr will dieser bis zum Erbrechen konstruktiven Opposition zu der Katastrophe, die sie konstatiert, nicht einfallen. Die Möglichkeit, sich die Macht zu nehmen, wenn sie schon auf den Kommandohöhen nicht mehr existiert, und andere Verhältnisse herzustellen, liegt außerhalb des Vorstellungsvermögens dieser Partei.

Dieses Volk, seine Gewerkschaften, die ehemalige staatstragende Partei erlauben es mit ihrer selbstmörderischen Loyalität, daß der Moskauer Politklüngel die Spitze einer längst nicht mehr funktionierenden Staatsmacht spielen kann.

Das Schauspiel Armeereform

Seit etlichen Jahren ist in der russischen Politik die Rede von der Notwendigkeit einer Armeereform gemäß einer geänderten politisch-strategischen Lage. Seit etlichen Jahren ordnet der amtierende Präsident an, daß ihm Pläne vorgelegt werden sollen. Die aus NATO-Kreisen bekannten Schlagworte, Professionalisierung und Effektivierung, Umrüstung von einer Kalten-Kriegs-Armee auf die Aufgaben einer modernen Armee, zirkulieren auch in Moskau.

Die wirkliche Sachlage sieht anders aus. Für eine Armeereform, wie sie Militärmächte zuweilen für erforderlich halten, fehlt es dem russischen Staatswesen an zwei entscheidenden Elementen: Weder ein politisch geklärter und beschlossener neuer Auftrag, noch die Mittel zur Umrüstung sind vorhanden. Was das erste Element betrifft, ist die russische Politik über den negativen Standpunkt, mit dem die Sowjetunion aufgekündigt worden ist, noch gar nicht hinausgekommen: Die Vorstellung, sich den Gegensatz zur kapitalistischen Welt mit all seinen politischen und militärischen Kosten ersparen zu können, ist nach wie vor im Kurs, verbunden allerdings mit der Enttäuschung, daß die russischen Erwartungen hinsichtlich einer kooperativen Weltpolitik und „Beziehungen gleichberechtigter Partnerschaft“[16] von der NATO keineswegs honoriert werden. Soviel weiß man zwar auch in Moskau, daß das verbliebene Potential keineswegs überflüssig geworden ist, daß es darauf ankommt, mit dem Verweis darauf weltpolitisch zu operieren, um sich Respekt zu verschaffen. Aber eine definitive neue militärische Zwecksetzung, die für eine dementsprechende Umrüstung die Grundlage abgeben würde, hat die russische Politik bisher nicht zustandegebracht – nicht einmal Aufgaben und Status des russischen Militärs in der GUS sind geklärt.[17] Gegenüber dem Beschluß der NATO, sich in Richtung Osten zu erweitern, droht man in Moskau mit der Möglichkeit eines Rückfalls in den Kalten Krieg – und betont immerzu, daß in der Optik der neuen russischen Staatsraison und unter den heutigen Bedingungen ein solcher Rückfall eine unnötige und unerträgliche Belastung darstellen würde.

Was die Mittel angeht, ist spätestens im Tschetschenien-Krieg offenkundig geworden, daß die Weltmacht Rußland ihre Armee für den Auftrag, einen Bürgerkrieg im eigenen Land zu entscheiden, nicht einmal angemessen ausgestattet hat. Die Moskauer Politik stellt zwar lieber die humanitären und demokratischen Aspekte in den Vordergrund, die für die Beendung des Kriegs gesprochen haben sollen, und behandelt getrennt davon das Thema unter dem irreführenden Titel Armeereform. Es mag auch Vorstellungen und Pläne geben, wie eine neue Organisationsweise und Effizienz der Armee auszusehen hätten – der wirkliche Grund für die Anträge an die Politik, ihre Zuständigkeit für die Armee wahrzunehmen, vorgetragen von Militärrepräsentanten und Öffentlichkeit, besteht aber offenkundig nurmehr in der Tatsache, daß der russische Staat sein militärisches Instrument gar nicht mehr unterhält, weder die waffentechnische Ausrüstung noch die elementare Versorgung der Soldaten garantiert.[18]

Führungsstäbe der Armee und der Verteidigungsminister haben den Befund noch weiter zugespitzt: Sie erklären, daß sie sich in einem unauflöslichen Dilemma befinden, weil sie sich außerstande sehen, sowohl die Armeereform anzugehen, als auch den gegebenen Zustand fortsetzen. Und zwar wegen des Geldes: Der russische Haushalt gibt weder genügend Geld für den Erhalt noch für die Reform der Armee her. Die Militärchefs der Nation, die vor nicht allzu langer Zeit als zweite Supermacht respektiert wurde, erklären sich für ohnmächtig – und zwar aus Geldgründen –, etwas gegen den Verfall der Armee tun zu können!

Für das vorgebliche Anliegen Armeereform fehlt schließlich noch eine – entscheidende – Voraussetzung: ein verbindlicher Staatswille. Die russische Armee wird längst nicht mehr wie das unumstrittene Instrument eines Staatswesens behandelt, stattdessen ist das russische Militär zum Objekt des Machtkampfs gemacht geworden: Es muß mit anderen Gewaltapparaten, die auf Veranlassung des Präsidenten und anderer Ministerien, mit einer exklusiv auf Personen und Befehlshaber bezogenen Loyalität aufgestellt worden sind,[19] um die notdürftige Ausrüstung konkurrieren.[20]

Daher kommt es zu Absurditäten folgender Art. Der amtierende Präsident kommandiert seine Untergebenen zu einer Pressekonferenz ab, um zu dokumentieren, daß 1. ein Plan vorhanden ist und 2. in der Führungsspitze Einigkeit darüber besteht. Und während der Vorsitzende des präsidialen Sicherheitsrats sich über das Projekt verbreitet, droht der Verteidigungsminister seinem Präsidenten öffentlich, daß

„das Land vollständig seine Verteidigungsfähigkeit einbüßt“. „Rußland könne bald die Schwelle erreichen, jenseits derer seine Raketen und Nuklearsysteme nicht mehr kontrolliert werden könnten“. Verantwortlich macht er „Verteilungskämpfe zwischen den einzelnen Ministerien und deren bewaffneten Einheiten“. (FAZ 8.2.97)

Jede Wortmeldung zur Armeereform ist Teil eines Kampfs um die Armee, die als Fraktion gegen andere Fraktionen in der Politik angesprochen wird. Die Reform fällt für jeden ersichtlich zusammen mit dem Streichen von Mitteln, also Minderung der Kampfkraft, nährt folglich den Verdacht auf Hochverrat.[21] Diejenigen, die diesen Verdacht öffentlich gemacht, mehr oder weniger ultimativ an die Regierung appelliert haben, ihn zu widerlegen, sind durch Säuberungen im Generalstab, bei der Führung der Luftlandetruppen und in anderen hohen Positionen mundtot gemacht worden. Andererseits ist in der Sache nichts entschieden,[22] und auch das stellt eine Entscheidung über den faktischen Umgang mit der Armee dar: Das Verschleppen, die Nicht-Befassung, nachdem die Gelder nicht „aufzufinden“ sind, die nun schon einige Jahre stattfindet, sind auf jeden Fall dafür gut, daß der Verfall der Armee weitergeht. Die letzte amtliche Fassung, wie die sogenannte Armeereform aussehen soll, lautet folgendermaßen:

„In der ersten Etappe bis zum Jahr 2000 soll der Personalabbau vorangetrieben und die Rüstungsforschung intensiviert werden“ –

der naturwüchsigen Dezimierung der Truppen durch Desertionen und Flucht vor der Einberufung wird also weiterhin stattgegeben; Offiziere werden ohne Geld und gar nichts entlassen.

„In der zweiten Stufe bis 2005 möchte die Armeespitze die Militärausgaben erhöhen und vermehrt Berufssoldaten rekrutieren. Danach sollen die Mittel vor allem verwendet werden, um die Streitkräfte mit neuen Waffensystemen auszurüsten.“ (Baturin, Vorsitzender des Sicherheitsrats, NZZ 8.2.97)

bis 2005 hat das russische Militär dem weiteren Verrotten seiner Ausrüstung zuzusehen.

Der Auftritt des höchsten Militärvertreters auf dieser Veranstaltung ist ein beispielhaftes Dokument der Haltung, mit der die Funktionäre der zugrundegehenden russischen Staatsmacht den Untergang geschehen lassen: Nach seiner Kritik an der politischen Spitze, dem Inhalt nach hat er den Tatbestand von Hochverrat konstatiert, verläßt er die Pressekonferenz und tut weiter seinen Dienst. Andere Kritiker veröffentlichen ihren Protest, lassen sich absetzen, und lassen es mit Appellen bewenden – Appelle an die Zuständigkeit der Regierungsspitze, die diese nicht wahrnimmt.

Der Westen pflegt auch in der Abteilung Militärwesen berechnend den Schein des Respekts vor einer intakten Staatsmacht; er unterhält rüstungsdiplomatische Kontakte und Verhandlungen mit Rußland, als ob zwei führende Militärmächte von gleich zu gleich über den Abbau unzweckmäßig gewordener Bedrohungsmittel verhandelten. Und auch dabei kommen eher abnorme Praktiken zum Zug: Militärgeheimnisse, Forschungsunterlagen und Muster werden abgekauft, Spezialisten herausgekauft, ganze rüstungstechnologische Forschungsinstitute werden auf Kosten und im Auftrag des Pentagon und der europäischen Interessenten „beschäftigt“. Die Erfolgsmeldungen werden unter dem Titel „Westen hat Ausverkauf verhindert“ veröffentlicht. So kommt auch ein neuer Typ von „Spionage“ in die Welt: die Ausforschung von Militärgeheimnissen mit Zustimmung der ausspionierten Staatsmacht. Darüberhinaus werden rüstungstechnische Einrichtungen der ehemaligen SU, z.B. in der Raumfahrt, direkt übernommen, wissenschaftlich ausgeschlachtet und für westliche Programme umfunktioniert. Die Einhaltung der Abrüstungsabkommen und auch weitere Fortschritte beim Raketenabbau versuchen die USA mit Hilfe der ökonomischen Notlage des russischen Staats zu erpressen: Für die Verschrottung von Raketen, die Verarbeitung der Sprengköpfe, den Abtransport waffenfähigen atomaren Materials bieten sie finanzielle Hilfestellung; bei weiteren Abrüstungsschritten wird für die Zukunft eine besondere Konzilianz des IWF in Aussicht gestellt. Bleibt abzuwarten, wie lange sich dieses elegante Verfahren, einer in Auflösung befindlichen ehemaligen Weltmacht ihre verbleibenden Mittel von Weltmacht abzukaufen, fortsetzen läßt.

Ein nicht wahrgenommener Notstand

Zivilisierte Staaten rechnen mit Umständen, unter denen sie das übliche Regieren kündigen müssen, um die als bedroht definierte Staatsgewalt zu retten: Für den Fall halten sie eine Notstandsverfassung und die erforderlichen Einsatzkräfte bereit. Die Frage, warum ein solcher Standpunkt bei der russischen Regierung nicht aufkommt, wenn schon mehr oder weniger deutlich lauter Notstandsdiagnosen getroffen werden, ist zwar naheliegend, aber den russischen Verhältnissen nicht adäquat. Die Notlagen, die in Rußland eingerissen sind, und das, was bürgerliche Staaten als Notstand definieren, sind nämlich unvergleichbare Fälle. Die russische Staatsmacht hat sich in einen Notstand hineingearbeitet, wie ihn bürgerliche Staatsgewalten gar nicht kennen: Sie hat es weder mit einer äußeren Gefahr noch einem im Inneren auftretenden feindlichen Willen zu tun, weder mit Krieg noch Bürgerkrieg, staatsfeindlichen Aufständen, vielmehr mit ihrem höchsteigenen Werk. Der paradoxe Notstand, der in Rußland eingetreten ist, geht von der Macht im Land aus, die sich im Namen ihrer neuen Staatsraison an der Zerstörung ihrer Machtquellen zu schaffen macht. Unter ihren Reformen ist die Produktion von Reichtum weitgehend zum Erliegen gekommen, das Volk ist außerstandegesetzt, sich um einen Reichtum der Nation verdient zu machen. Darüber ruiniert die Staatsmacht ihre Machtmittel, das Funktionieren des Staatsapparats ist nicht mehr gewährleistet, die Exekutive, Polizei und Militär, werden mit ins Unermeßliche wachsenden Aufgaben betraut und nicht einmal notdürftig ausgerüstet. Mit diesen Folgen ihrer eigenen Politik schlägt sich die russische Regierung herum, indem sie ihre ruinöse Politik immer weiter treibt und Notstände immer nur dort entdeckt, wo sie Widerstand gegen die Fortsetzung dieser Politik ausmacht.[23]

Damit hat sie es immerhin dazu gebracht, daß ihre Fähigkeit, ein Notstandsregime überhaupt durchzusetzen, mehr als zweifelhaft geworden ist. Unvergleichbar ist dieser Zustand nämlich auch in einer zweiten Hinsicht: Der Zerfall ist schon viel zu weit gediehen, als daß er durch die Ausrufung von Notstandsgesetzen und die Anordnung einschlägiger Maßnahmen zu beheben ginge; die Mittel, ihm zu begegnen, sind zerrüttet. Der Staat als Subjekt ist durch den Machtkampf an der Spitze zersetzt, die Exekutive ist ebenso zersetzt und dem Katalog von „Mißständen“, gegen den sie vorgehen soll, längst nicht mehr gewachsen, weder der zum Verbrechen definierten Ausverkaufswirtschaft noch dem inneren Separatismus.

Daß eine solche unhaltbare Lage sich so lange hält, daß sich die führenden Russen den Luxus der Nicht-Anerkennung dieser Lage gestatten, sich immer noch erlauben können, alles unter ihrer verdrehten Optik von „Schwierigkeiten, aber auch Erfolge“ zu betrachten, wird ihnen von zwei weiteren Mitwirkenden ermöglicht, von ihrem Volk und vom westlichen Ausland. Was das Volk betrifft, hat sich dem Reform genannten Zerstörungswerk kein feindlicher Wille in den Weg gestellt. Nicht als ob diese Regierung nicht auch einen Notstand zu definieren und auszurufen wüßte – wenn „Kommunisten“ Wahlkampf betreiben, malt sie ihn an die Wand und warnt vor Bürgerkrieg. Bloß gibt es in ihrem ganzen großen Reich keine Opposition, die dem Ruin, den die Regierung betreibt, einen auch nur annähernd adäquaten Widerstand entgegensetzen würde. Dank der unüberbietbaren Staatsbürgermoral des realsozialistisch gebildeten Russenvolks wird den Herrschenden die Frage gar nicht vorgelegt, wie weit ihre Macht überhaupt noch über den Kreml hinausreicht. Das Volk gibt der Regierung die Freiheit, weiter Staat zu spielen.

Insofern müssen Jelzin & Gefolgschaft auch die Beurteilung ihrer historischen Rolle, die Frage, welcher Mission sie wie gut gerecht geworden sind, mit sich selbst ausmachen. Die Erfolgsmaßstäbe einer in Amt und Würden befindlichen Staatsmacht, die einem gültigen Gewaltmonopol vorsteht und nationale Reichtumsquellen kommandiert, können sie an ihr Werk nicht ernstlich anlegen; auch nicht mehr das Rezept „Marktwirtschaft & Demokratie“ als Erfolgsweg, der Rußland groß macht. Würden sie ihre Leistungen daran messen, müßten die Regierenden sich eingestehen, daß sie gescheitert sind. Stattdessen leiden sie an einer Art Berufskrankheit: Sie treiben sich in der Vorstellung herum, daß Rußland groß ist, so daß sie wegen der Zufriedenheit mit der Macht, die sie befehligen, gar nicht die objektive Ohnmacht dieser Macht wahrnehmen, daß sie nämlich Rußland gar nicht mehr im Griff hat. Der vorrangige Vertreter dieser Berufskrankheit, der Präsident, erläutert das Rechtsbewußtsein, mit dem er sein Amt ausgefüllt hat: Rußland ist notwendigerweise Großmacht – wenn Kritiker ihm Kaputtregieren im Namen von Marktwirtschaft & Demokratie vorwerfen, kann das einfach nicht die Wahrheit sein:

„Kraft des zurückgelegten Weges, der Ausmaße des Territoriums und der Ressourcen kann Rußland nicht anders, als sich in den Kategorien des planetarischen Maßstabs, der historischen Bestimmung und der zivilisatorischen Rolle begreifen… Die Befürchtung lohnt sich nicht, daß die Demokratie, die Errichtung des Rechtsstaats, der bürgerlichen Gesellschaft, der Marktwirtschaft und die Befolgung anderer fundamentaler Werte die Eigenart Rußlands schmälern könnten. Die demokratische Orientierung, das Vertrauen in die Gemeinschaft und Offenheit – gerade das eröffnet die Möglichkeit, ‚sich selbst zu sein‘.“ (Bericht des Staatspräsidenten, a.a.O., S.112f)

Nach ihm gibt es einen weltmächtigen Status und ebenso weltmächtige Lagen, die Rußland besitzt, die allerdings in bester realsozialistischer Rhetorik irgendwie miteinander in Übereinstimmung gebracht werden müssen:

„Das gesteckte Ziel soll die Übereinstimmung des internationalen Status Rußlands mit seiner objektiven geopolitischen, geostrategischen sowie geoökonomischen Lage und seinem gesellschaftlichen Potential gewährleisten“. (a.a.O.)

Es ist also nicht so, daß sich nicht auch beim Präsidenten zuweilen ein trüber Schein von Ahnung eingestellt hätte, daß in seinem Großreich nicht alles zum Besten bestellt ist. Dafür spricht auch ein Bedarf auf einer ganz besonderen Ebene: Nach seinem Wahlsieg im Juli 1996 „hat Präsident Jelzin dem Land nun die Entwicklung einer gesamtnationalen Idee verordnet und seine Berater beauftragt, sich des Problems unter Heranziehung wenn nötig des ganzen intellektuellen Potentials des Landes anzunehmen“.[24]

„Für eine authentische gesamtnationale Übereinstimmung ist eine allgemein anerkannte weltanschauliche Grundlage unerläßlich, auf der schließlich selbst die radikalsten und unversöhnlichsten Konkurrenten und Gegner miteinander auskommen könnten. Eine solche Grundlage kann heute die Ideologie der Wiedergeburt des Großen Rußlands als blühendem und demokratischen, freien und verantwortungsvollen Weltstaat sein, der seine eigenen historischen Besonderheiten mit allem Kostbaren und Fortschrittlichem verbindet, das von der Menschheit erreicht worden ist.“ (a.a.O., S.111)

Auch andere Staatsmänner decken manchmal einen Mangel an nationaler Moral auf und verordnen eine „geistig-moralische Wende“. Der Inhalt der „Ideen“, die das ändern sollen, beschränkt sich auch woanders meistens auf das Lob der Einzigartigkeit und Eigenheit der eigenen Nation; der gewünschte Einsatz des Volks bleibt dann aber nicht der Überzeugungskraft von solchen „Ideen“ überlassen. Jelzins Einfall fällt insofern etwas aus dem Rahmen, als er es mit der Verordnung einer zündenden Idee bewenden läßt. Außer der Aufgabe, an die Größe der Nation zu glauben, hat er für das russische Volk, das bekanntlich für patriotische Weltmeisterleistungen gut zu haben ist, keine weitere Verwendungsweise anzubieten.

Der Präsident lebt und regiert

Nach der Operation gab es allgemeines Aufatmen. Seitdem werden zwischen Krankenhaus, Datscha und Kreml Beweise vorgeführt, daß es ihn noch gibt und daß er lebt. Kaum aus der Narkose aufgewacht, unterschreibt er schon wieder „eine Fülle von Dekreten…“ Das ganze Theater gilt der Inszenierung einer funktionstüchtigen Staatsspitze.

Für diese Fiktion sorgen die Mitstreiter Jelzins und seine Konkurrenten. Die einen, weil sie das von ihm befehligte Stück Macht bewahren, die anderen, weil sie es erwerben wollen, und deshalb kaprizieren sie sich erst gar nicht auf dessen Unzulänglichkeit. Die Interimsmachthaber in der Regierung, die den Unterschriftenautomat in Gang halten, verbreiten Optimismus, es stünde mit Jelzin und seinem Regiment zum besten. Die Opposition setzt dieser Inszenierung das Spiegelbild entgegen: Die schärfste Kritik, die sie gegen die Regierung auffährt, ist die abenteuerliche Behauptung, ausgerechnet Jelzins Krankheit, seine Abwesenheit im Amt, wäre die Ursache dafür, daß das ganze Land leidet. So etwas geht in Rußland und in der auswärtigen Öffentlichkeit heutzutage als „Kommunismus“ durch.

Die zweite Partei, die auf der Rechtmäßigkeit und Intaktheit der Macht namens Jelzin besteht, sind die westlichen Nationen. Amerikanische und deutsche Ärzte mußten im Operationssaal aufgestellt werden, um damit das Eingeständnis der Großmacht Rußland vorzuzelebrieren, daß sie für die Gesundheit der Staatsspitze auf äußere Hilfe angewiesen ist. Alle Welt sollte das Armutszeugnis der ehemaligen Supermacht zur Kenntnis nehmen, daß sie in höchsten Staatsangelegenheiten nicht mehr ohne westliche Unterstützung zurechtkommt.

Zum anderen haben die führenden Nationen, indem sie ihre Fachleute hinschickten, ein eindeutiges Interesse angemeldet: das an der in Jelzin personifizierten Schwäche des Staats. Diese Figur an der Staatsspitze soll erhalten bleiben, weil sie für westliche Interessen die passendste Besetzung ist; mit ihm steht die Anlaufstelle für westliche Anträge und Einwände auf dem Spiel, und zwar eine Anlaufstelle, die sich dazu hat benützen lassen, die unbequeme russische Staatsmacht im westlichen Interesse herunterzuregieren. Die moribunde Figur erhält jetzt noch einen Staatsbesuch nach dem anderen, damit im Idealfall noch die Nato-Osterweiterung unterschrieben wird, bevor ihr Amt leersteht.

Jelzin hat sich die westliche Parteilichkeit verdient, indem er seine Politik auf den Bruch mit dem alten System, auf die Kontinuität der Linie festgelegt hat, die die Sowjetunion aufgelöst hat. Bei der Würdigung seiner weiteren Regierungsleistungen haben sich die positiven Kennzeichnungen immer weiter verflüchtigt, während gleichzeitig seine Karikatur von Regieren und die zunehmend unhaltbare Lage gewürdigt wurde, die er in Rußland herbeiregiert hat. Hätte Sjuganow die Wahl gewonnen, wären die Produkte der Jelzin-Linie, die Lohnschulden, der Untergang der Industrie und die sonstigen Elendsstatistiken ganz anderes verwendet worden, als Stoff für Hetzreden der alten Machart gegen die „alten Kräfte“. Gegen Jelzin dürfen sie, nach westlichem Konsens, nicht sprechen. Die bekannten Stichworte wie „Reform“ usf. sind kaum noch verhüllte Kennzeichnungen des negativen Grundes, aus dem man im Westen auf ihn gesetzt hat: Er erfüllt zwar keinen Anspruch zur Genüge, aber er verhindert, daß andere als Neugründer der Nation deren Rechte und Pflichten von einem neuen nationalen Bedarf her definieren. Daß Jelzins Macht nicht als Staatsmacht funktioniert, ist im befreundeten Ausland längst eingestanden; niemand glaubt noch daran, daß es ihm gelingt, Rußland zu stabilisieren. Aber diesen Schein von Staatsmacht zerstört der Westen nicht, solange er in der Figur an der Spitze eine Adresse für seine Anliegen findet, solange diese mit ihrer Unterschrift beglaubigt, was der Westen von ihr will.

Die hinhaltende Pflege, die Jelzin zuteil wird, verrät schließlich ein westliches Risikobewußtsein, nicht nur was die medizinische Aufgabe angeht. Wenn die westlichen Berechnungen so sehr an diese Figur geknüpft werden, spricht das für die Sorge, daß man mit ihr die zuverlässige Adresse verliert. Wenn Rußland heutzutage, wie westliche Kommentare immer häufiger wissen lassen, nicht mehr wegen seiner Stärke, sondern wegen seiner Schwäche zu fürchten sein soll, dann antizipieren die westlichen Fachleute für Politik den Machtkampf, der sich nach Jelzins Abtreten ergibt und die Gefahr mit sich bringt, daß der russische Schauplatz außer Kontrolle gerät. Nach ihrer eigenen Logik, nach der eine Nation in Not zu aggressivem Nationalismus neigt, rechnen sie schließlich auch damit, daß in diesem Machtkampf der Standpunkt aufkommt, sich nicht nur auf Rußlands Größe zu besinnen, sondern auch etwas dafür zu tun, und den nationalen Bedarf anti-westlich zu buchstabieren.[25]

Der Machtkampf, den Jelzin vorläufig zu entscheiden vermochte, steht nunmehr unter seinen Nachfolgern an, und ist mit wechselseitigen Korruptionsanklagen, Denunziationen wegen Hochverrat und Putschdrohungen schon gut unterwegs. Seine Qualität geht nicht nur in diesen Kampfmitteln, sondern auch im Kampfziel um einiges über die Ambitionen der beteiligten Personen, Ämter zu besetzen, hinaus: Jeder noch so staatstreue Vorschlag, die Armee zu unterhalten oder woanders wieder „Ordnung“ in der Nation zu schaffen, ist objektiv damit konfrontiert, die Jelzin-Linie kündigen, sich Macht zusammenklauben zu müssen für die Wiederherstellung eines Gewaltmonopols.

Die Nachfolger signalisieren einerseits Kontinuität: Sowohl Lebed wie Tschernomyrdin haben bei Antrittsbesuchen in Washington und Bonn Amtshilfe für die interne Auseinandersetzung erbeten. Dabei passieren aber gewisse Verwechslungen: Lebed hat sich als Garant einer russischen Ordnung angeboten, indem er die drohenden – nicht die vorhandenen – Krisen, inkl. der Betroffenheit des Westens durch diese Krisen von Mal zu Mal düsterer ausmalt, damit der Westen ihm als Verhinderer ins Amt hilft. Auch wenn er sich für diesen Zweck ein paar Ergebenheitsadressen angewöhnt hat in Richtung Demokratie & Marktwirtschaft – er will den „russischen Mittelstand fördern“, da mußte sogar die die Süddeutsche Zeitung lachen, und gesteht der Nato ihr Recht auf Osterweiterung zu wg. „Chaos und Dummheit in Rußland“[26] –, ist sehr die Frage, ob der Westen unter einer genehmen Ordnung für Rußland dasselbe versteht wie er.

Der Westen antizipiert die Unhaltbarkeit der bisherigen guten Beziehungen

Wenn sich heutige russische Ordnungsstifter in ihrem Interesse, die Reste von Macht zu beerben, so affirmativ auf die Jelzin-Linie beziehen, daß sie es für nötig halten, sich im Westen ein Stück Ermächtigung für ihre Aufgabe abzuholen, ist das gut und nicht schlecht – für den westlichen Versuch, die Nachfolger auf den Kreis von Rechten und Pflichten festzulegen, für den Jelzin brauchbar war. Daß Washington und Bonn für die Erben Jelzins ganz selbstverständlich die Adressen darstellen, wo nicht zuletzt über dessen Nachfolge entschieden wird, wird man dort mit Zufriedenheit zur Kenntnis genommen haben. Aber man verläßt sich keineswegs auf die Annahme weiterer russischer Linientreue, sondern stellt sich sachlich auf die nächste Etappe ein, kümmert sich um die weitere Entmachtung Rußlands und treibt die Eindämmung dieses überdimensionalen Krisenherds von außen voran.

Die Abrüstungsdiplomatie wird fortgesetzt, kommt sogar wieder richtig in Schwung. Rußland wird nicht aus dieser Pflicht entlassen, auch wenn der dort anzutreffende politische Wille offenkundig nicht willens und fähig ist, die nötigen Unterschriften zu leisten und die technischen Maßnahmen durchzuführen.[27] Der Sinn dieser heutigen Rüstungsdiplomatie besteht darin, daß sie sich auch dann schon auszahlt, wenn der naturwüchsige Verfall des russischen Waffenapparats noch um einiges weitergeht. Andererseits kommen neue Angebote für weiteres Waffen-Verschrotten ins Spiel, die zwar kaum mehr darauf berechnet sind, daß irgendwann noch einmal ein Vertragswerk unterzeichnet wird, es steht ja schon in Frage, ob die russische Seite die geltenden Verträge einhält. Aber die Diplomatie erfüllt auch dann ihren Zweck, wenn es gelingt, die russische Führung noch einige Zeit davon abzuhalten, sich auf eine andere Verwendungsweise ihrer übrig gebliebenen Machtmittel zu besinnen.

Daneben wird der Beschluß zur Osterweiterung der NATO in die Tat umgesetzt. Der prinzipielle Beschluß steht seit längerem, aber angesichts des bevorstehenden Machtkampfs empfinden die Aufseher der Weltordnung eine neue Dringlichkeit, Fakten zu schaffen: Es geht um eine neue Art Containment, darum, ein Jugoslawien im Großformat einzugrenzen und die Anrainerstaaten als Basis für jedes nötige Eingreifen zu sichern. Als Reaktion auf den glücklichen Ausgang des letzten Jelzin’schen Wahlkampfs hat die NATO das Datum für den Beginn der Aufnahmeprozedur festgelegt ebenso wie die ersten Kandidaten. Gleichzeitig läuft der Entscheidungsprozeß, wie der Sonderfall Balten, in dem die Russen den größten Widerspruch anmelden, zu regeln ist; die verschiedenen Mitglieder der GUS werden in eindeutiger Absicht mit Staatsbesuchen des NATO-Vorsitzenden beehrt, und schließlich sucht man lebhaft nach Ersatzangeboten auf anderen Feldern, um Rußland möglichst noch die Zustimmung zu seiner Einkreisung abzuhandeln.

Die NATO-Häuptlinge lassen Rußland eine Behandlung zuteil werden, die diese Nation nicht als Feind definiert, sondern als werdenden Feind, als immer auf dem Sprung zur Feindschaft befindlicher Staat. Daher rührt die Eile und die hektische Diplomatie zwischen den Hauptstädten: Es geht darum, alles festzuzurren, was jetzt noch geht. Für den westlichen Kontrollanspruch gegenüber dem explosiven Weltreich bietet die momentane Zwischenlage, das Ende der Ära Jelzin und der Auftakt zu einer neuen Runde im Machtkampf, einerseits die Gelegenheit, das militärische Kräfteverhältnis zu verändern und den Aktionsraum der NATO bis an die Grenzen der GUS vorzuschieben, während man in Moskau mit „inneren Wirren“ befaßt ist. Andererseits sieht man die Notwendigkeit, den Fortschritt zu fixieren, bevor sich ein anders gelagerter politischer Wille in Moskau aufstellt. So daß schließlich das eigene Vorhaben wiederum von neuem die Sorge fördert, die der ehemalige US-Botschafter in Moskau, George Kennan, folgendermaßen ausdrückt: Die NATO-Osterweiterung wäre „der verhängnisvollste Fehler der US-Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg“.[28] Sie würde anti-westliches Denken in Rußland verstärken, die Entwicklung der russischen Demokratie beeinträchtigen, die Atmosphäre des Kalten Krieges wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen treiben, die dem Westen bestimmt nicht passen.

[1] Zur Beschleunigung der Steuereintreibung hat Jelzin eine provisorische Krisenkommission eingesetzt. Die von Tschernomyrdin geleitete Kommission soll im ganzen Land die Steuereintreibung und die Verwendung der Haushaltsmittel überwachen. ‚Die Verheimlichung von Einkünften hat Massencharakter bekommen. Die Bezeichnung Krisenkommission ist nicht zufällig. Anders als kritisch kann man die Lage in diesem Bereich nicht bezeichnen.‘ Jelzin machte private und Großunternehmen wegen ihrer schlechten Steuermoral für die Not jener verantwortlich, die aus dem Staatshaushalt bezahlt werden… Das Schicksal von mehr als 100 Millionen Bürgern hänge davon ab, wie schnell die Steuern eingetrieben werden. (SZ 12.10.96)

[2] Immer wieder einmal dringen vermummte Steuerpolizisten in Kampfanzügen und bewehrt mit Maschinenpistolen in Firmenräume ein… So macht die Regierung über die landesweit installierten Steuerkomitees (WTschK) Jagd auf säumige Zahler und bedroht die ertappten Unternehmen mit der zwangsweisen Bankrottverwaltung. In den Regionen hat dieses Vorgehen bereits große Unzufriedenheit erzeugt. Mehr oder weniger offen protestieren auch schon einzelne Gouverneure gegen die Praktiken. (HB 23.12.96)

[3] An dieser Front haben die Zuständigen viel Phantasie entwickelt, sich aber auch immer wieder sagen lassen müssen, daß sie damit sowohl eigenen Gesetzen wie international üblichen Gepflogenheiten der Marktwirtschaft widersprechen. Bei den neuen „Steuer“-Projekten hat die EU-Kommission schon Widerspruch angemeldet. Regierungssitzung über Fragen der Steuereintreibung… folgende Ideen vorgebracht… Bauminister Efim Basin: Privatfirmen sollen das Recht erhalten, die Steuerschulden von Betrieben aufzukaufen, dann mit dem Staatsbudget abzurechnen… Legalisieren wir doch diese Operation… Vorschlag des stellvertretenden Ministers für Wirtschaft, Panskow: Eine Steuer auf jede Auszahlung von Bankkonten, möglicherweise jedoch nicht alle Zahlungen, sondern nur die Auszahlungen von Bargeld. Alle sind dafür, bis ein „Spezialist“ den Ministern erklärt, daß das illegal sei. (Nach Iswestija, 6.11.96)

[4] Kadannikow, ehemaliger Avtovaz-Chef gibt offen zu, daß Lada vor kurzem eine eigene kleine Armee (‚professionelle Milizionäre, mit Maschinengewehren bewaffnet‘) aufgestellt hat, um die Schulden einzutreiben. Bislang mit wenig Erfolg. (WW 24.10.96) Der Verband der Kleinunternehmer in Astrachan gründet einen eigenen Sicherheitsdienst. Wenn Mitarbeiter irgendeines Kontrollorgans den Kleinunternehmer besuchen kommen, ruft der Chef jetzt seine Sicherheitsdienstgruppe, der ein Jurist, ein Ökonom und andere Spezialisten angehören. Um für unerwartete Zwischenfälle gerüstet zu sein, gehören der Gruppe auch 2 Mann an, die in der Kunst des Kampfes bewandert sind. Allein die Anwesenheit der Gruppe bei der Kontrolle hilft, die zahlreichen, früher langwierigen Untersuchungen auf ein Minimum zurückzuführen, ob eine Strafe nun zu recht oder zu unrecht verhängt worden ist. (Iswestija, 15.11.96)

[5] Der Chef einer Regierungskommission, die die Stellen aufdecken soll, an denen das Geld versickert, entdeckt „schwere Mißbräuche im Zusammenhang mit dem Haushalt“: Unter den größten Schuldnern an den Haushalt waren alle Erdöl-fördernden und -verarbeitenden Unternehmen. Alle diese Unternehmen rechneten 1996 mit dem Haushalt nicht in Geld, sondern mit Lieferungen von Öl und Ölprodukten an die Machtstrukturen (Armee, Innenministerium, Grenztruppen usw.) ab. Er wird daraufhin auf Veranlassung des Generalstaatsanwalts, bzw. des Innenministers verhaftet.

[6] Im Rahmen der Konkursverfahren gegen die 10 größten Schuldner wird das LKW-Werk Kamas für bankrott erklärt. Tschubajs erläutert das vor Ort der Regierung von Tatarstan, die ihrerseits nach seiner Abreise den Beschluß wieder aufhebt: Kamas soll weiterproduzieren.

[7] Seit Beginn des Reformexperiments wiederholen sich etwa dieselben Bilanzen jährlich: Die Talfahrt der russischen Wirtschaft ist in den ersten drei Quartalen 96 im Vergleich zum Vorjahr nicht gebremst worden; entgegen Prognosen der russischen Regierung hat sie sich sogar beschleunigt. (Bericht des DIW, FAZ 20.12.96) Katastrophen mit Ansage: Im Herbst berichtet die Zeitung Iswestija von Evakuierungsplänen der Regierung; Kohle- und Nahrungsmittelreserven für den Winter sind in den Städten im hohen Norden nicht vorhanden und auch nicht mehr hinzuschaffen. Nach der Beratung über Evakuierungspläne erfolgt die Bekanntgabe, daß es die notwendigen Kapazitäten an Transportmitteln und an Lagern für die Aufnahme der Menschen nicht gibt.

[8] Das führt zu solchen Befunden, daß es einerseits auf diese Weise nicht weitergehen darf, daß aber der ökonomische Sachverstand andererseits beim besten Willen keinen Weg sieht, wie es anders gehen sollte: Dennoch kann dieser tiefe, ja diametrale Gegensatz zwischen der Dynamik des Geldmengenwachstums M2 und der Inflation nicht nur durch die Geschwindigkeit des Geldumlaufs erklärt werden. Welche erstaunlichen Dinge gehen in der russischen Wirtschaft vor?… Die Notwendigkeit, bedeutende Anleihen auf dem Binnenmarkt aufzunehmen, um das Haushaltsdefizit zu decken, führte dazu, daß dieser Marktsektor sehr bald sehr rentabel wurde… So ist es nicht verwunderlich, daß das Geld den realen Wirtschaftssektor verließ, um in den Markt der Staatsanleihen zu fließen… Die Inflation wurde um den Preis eines katastrophalen Gelddefizits im realen Wirtschaftssektor, einer tiefen Investitions- und Haushaltskrise, einer neuen Runde des industriellen Niedergangs und des Hyperwachstums der staatlichen Binnenschuld gestoppt… Dennoch besteht das Paradoxe der Situation darin, daß es kaum möglich sein wird, den Knoten ‚Investitionen-Haushalt-Markt für Staatsanleihen‘ mit Nicht-Emissionsmethoden zu lösen. (Wostok 6/96)

[9] „Da Boris Jelzin in einem Geheimerlaß aus dem Jahre 92 ARS (das jakutische Diamantenexportunternehmen) von der Pflicht zur direkten Zahlung von Steuern ins Föderalbudget befreit hat, ist die unter Finanznot leidende Regierung in Moskau an einer Änderung der Bedingungen interessiert. Seit dieser Zeit muß die Föderalregierung jährlich neu mit der Republik-Regierung von Jakutien die Steuerabgaben an Moskau aushandeln. ARS kann sich dabei auf die Unterstützung der Administration in der sibirischen Region verlassen, wird der jakutische Haushalt doch zu 80% aus den Steuern von ARS bestritten.“ (HB 13.1.97)

[10] Bericht des Staatspräsidenten der Rußländischen Föderation, Boris Jelzin, an die beiden Häuser des Parlaments über die außenpolitische Lage und die nationale Sicherheit. In: Internationale Politik, Januar 97, S.104

[11] Es fließen kaum Netto-Erlöse in den Haushalt. Wir müssen die Renditen drücken – das ist eine Frage auf Leben und Tod. (Wirtschaftsminister Jasin, HB 14.8.96)

[12] Wostok 6/96, S.38

[13] So beantwortet sich auch die Frage, die Wostok zu schaffen macht: Welche erstaunlichen Dinge gehen in der russischen Wirtschaft vor?

[14] Der Sachverhalt hat sich bis zum russischen Präsidenten herumgesprochen, der allerdings den faktischen Niedergang der Nation in die Möglichkeitsform setzt: „Im wirtschaftlichen Bereich hängt die wichtigste äußere Heranforderung damit zusammen, daß der positive und notwendige Prozeß der Öffnung der rußländischen Wirtschaft ohne eine entsprechende Wirtschaftspolitik von einer Schwächung der wirtschaftlichen Selbständigkeit der Rußländischen Föderation, dem Verfall ihres technologischen und industriellen Potentials und der Aufzwingung der brenn- und rohstoffmäßigen Orientierung Rußlands in der Weltwirtschaft begleitet werden kann“. (Bericht des Staatspräsidenten, a.a.O., S.104) Daß unter seiner Präsidentschaft die Nation auf diesen Status heruntergewirtschaftet worden ist, ist der Macht, der Größe, den Ressourcen der Nation, sowie den Ambitionen ihrer Führer völlig unangemessen, kann folglich nicht wirklich der Fall sein.

[15] Tschubajs, SZ 27.12.96

[16] Grundsatzdokumente zur Außen- und Verteidigungspolitik. In: Österreichische Militärzeitung 5/96, S.594

[17] Ehemalige russische Friedensidealisten wie Daniil Proektor vermissen heutzutage den nationalen Standpunkt zu Sicherheitsfragen: Leider herrscht bei uns ein zu scharfer Meinungsstreit in den legislativen und exekutiven Organen und den einflußreichen Kreisen der Gesellschaft. Pluralismus in allen Ehren, aber es muß eine eindeutige Sicherheitsstrategie geben. (Osteuropa, 4/95)

[18] Gegen Devisen und zur Förderung freundschaftlicher Beziehungen mit anderen Nationen bringt Rußland immer noch sehr viel und qualitativ wertvolles Gerät auf den internationalen Waffenmarkt, beliefert Griechen und Türken, Iran, Indien und China in einem Ausmaß, daß die befugten Ordnungsmächte darin eine ernste Gefährdung des internationalen Gewalthaushalts sehen. Die Ausrüstung der eigenen Armee findet nur noch sehr sporadisch statt. Der Verfall von Armee und Ausrüstung bringt Rußland in die Lage, im Ernstfall nur noch mit Atomwaffen drohen und reagieren zu können, erklärt ein hoher Offizier. Er hält das für einen „schweren Fehler“.

[19] Jedoch das größte Kopfzerbrechen bei der Finanzierung bereitet die Unkenntnis der genauen Mannstärke der Armee. Es gibt einen unglaublichen Wirrwarr zwischen dem Armeekontingent und dem der verschiedenen Behörden, der ‚Armeen‘ der verschiedenen Ministerien, deren Zahl jetzt auf ungefähr 20 angestiegen ist: Innenministerium, Ministerium für Katastrophenfälle, Eisenbahn-Truppen, Fernmeldeabteilung des Präsidenten, der Zivilverteidigung usw. Niemand weiß, wem von den obersten Amtsinhabern diese ‚Armeen‘ unterstellt sind. Ebenso weiß niemand, wie und auf wessen Kosten sie finanziert werden. … Die Zahl der Bodenstreitkräfte des Innenministeriums ist höher als die der Armee. (General Gromow, Iswestija 6.11.96)

[20] „Nach seinen (Rodionows) Angaben sind die anderen Verbände – gemeint sind offenbar die Truppen des Innenministeriums und des Grenzschutzes – zusammengenommen genauso stark wie Armee und Flotte. Er beklagte, daß, während die Armee um ihr Überleben kämpfe, die anderen Verbände Unterstützung regelmäßig und sogar in größerem Maße erhielten als Armee und Flotte.“ (FAZ 8.2.97)

[21] Offiziere des russischen Generalstabs… werfen Rodionow in einem offenen Brief vor, wie sein Amtsvorgänger Gratschow nichts für den Erhalt der russischen Streitkräfte zu tun und die Armee nicht gegen kritische Stellungnahmen von außen zu verteidigen. Die Ernennung Rodionows zum Verteidigungsminister habe das Ziel gehabt, die Armee als die letzte Kraft, die den Plänen ‚gewisser‘ Kreml-Politiker Einhalt gebieten könnte, zu zerstören. Die Führung der Streitkräfte solle lahmgelegt werden, damit Reformer wie Tschubajs ‚morgen die Nato-Armeen unter dem Schutzschild der Vereinten Nationen zu Hilfe rufen können‘… Nach ihren eigenen Angaben haben die Offiziere des Generalstabs seit Monaten keinen Sold erhalten… Die Autoren stellen dem Verteidigungsminister ein Ultimatum, bis zum 25.10. alle ausstehenden Gehälter zu zahlen. Rodionow solle ‚die Zeit und die Kraft‘ finden, dem ‚hungrigen Kollektiv des Generalstabs‘ Rede und Antwort zu stehen. (FAZ 22.10.96)

[22] Eine letzte Meldung lautete, daß Jelzin wegen „Terminschwierigkeiten“ die Beratung mit seinem Verteidigungsminister über das Projekt abgesagt habe, im übrigen soll er seinen Verteidigungsminister während dessen ganzer Amtszeit kein einziges Mal empfangen haben.

[23] In Tschetschenien ist es den Kämpfern für Freiheit und Allah gelungen, den Notstand der russischen Staatsmacht aufzudecken und deren absurden Umgang damit offenzulegen: Auf den erklärten Separatismus hat die Regierung reagiert und beschlossen zuzuschlagen. Als das nicht gelungen ist, hat sie die Aufgabe wieder herunterdefiniert und sich von ihrer dort bewiesenen Unfähigkeit, den Notstand zu regeln, schlicht wieder abgewandt. Auch offenkundige Niederlagen werden nicht als solche genommen.

[24] Daß Bedarf an einer solchen Idee besteht, wurde bei den letzten Präsidentschaftswahlen deutlich. Jelzin konnte den Bürgern abgesehen von populistischen Versprechen in bezug auf die Auszahlung von Löhnen und Renten nichts Positives anbieten. Diesen Versprechungen aber glaubte im Prinzip niemand so richtig. Der Präsident konnte alles in allem nur mit einem Argument aufwarten: Wenn die Kommunisten wieder an die Macht gelangen, dann wird alles nur noch schlimmer. Der russische Verfasser dieses Artikels begreift das Anliegen Jelzins, ist aber pessimistisch, was die Durchführung betrifft: Meiner Auffassung nach besteht gegenwärtig in Rußland ein Klima, das für die Entstehung einer gesamtnationalen Idee, sei es auf philosophischer oder pragmatisch-politischer Ebene, eher ungünstig ist. (Wostok 6/96)

[25] So abseitig ist die Vermutung schließlich nicht, daß die Protektoren der Jelzin-Linie im Ausland feindliche Absichten gegenüber der russischen Nation hegen. Neulich haben sich „elf namhafte russische Intellektuelle“, ehemalige Lieblingsdissidenten der Republik wie Böll-Freund Kopelew, der „Menschenrechtler“ Kowaljow, Daschitschew u.a., diesen „Argwohn“ zugelegt, und, obwohl ihrerseits große Liebhaber der Bundesrepublik, der Bundesregierung vorwurfsvoll präsentiert: Sie werfen der Bundesregierung vor, das in Rußland entstandene ‚antidemokratische Regime und all seine brutalen und rechtswidrigen Handlungen auf jede nur erdenkliche Weise‘ zu unterstützen. Der ‚größte Teil der deutschen Massenmedien‘ vertusche bewußt oder unbewußt das Ausmaß der Krise, die Rußland erfaßt habe. ‚Wir können uns schwerlich vorstellen, daß die deutsche Führung über diese Krise unzureichend informiert ist… Viele Menschen in Rußland argwöhnen sogar, daß der Westen, u.a. Deutschland, dem Regime Jelzin auch deshalb so vorbehaltlos Beistand leistet, weil man sich mit seiner Hilfe erhofft, Rußland endgültig in eine Reihe kraftloser Staaten zerfallen zu lassen.‘ Der größte Teil der Industrie sei in Lähmung versetzt, die Bevölkerung in Armut gestürzt. In einigen Regionen habe eine Hungersnot eingesetzt. (FAZ 19.12.96)

[26] Zur geplanten Erweiterung der Nato bezog Lebed eine sehr maßvolle Position. Er sei überzeugt, daß sich die Nato nicht erweitern wolle, um Rußland anzugreifen, sondern um sich vor Rußland zu schützen, um sich von ‚all den Unannehmlichkeiten, dem Chaos, den Dummheiten, den Kriegen‘ abzugrenzen. ‚Ich habe in Brüssel und in den Vereinigten Staaten angeboten, in Ruhe eine Lösung zu suchen.‘ Dazu rechnet er gemeinsame Entscheidungen mit der Nato, die gemeinsame Überwachung ihrer Ausführung, eine rechtliche Festlegung der Beziehungen zwischen Rußland und der Nato, eine ständige russische Vertretung im Hauptquartier der Allianz und die Zusammenarbeit im Rahmen von PfP. Augenblicklich versuche Rußland, möglichst viele Konzessionen für die Erweiterung der Nato auszuhandeln. (FAZ 14.1.97)

[27] Die Ratifizierung von Start II in der Duma kommt nicht voran. Die Gegenargumente gehen vom Geld, das nicht vorhanden ist, bis zum Standpunkt, daß Atomraketen das letzte taugliche Drohmittel Rußlands darstellen, folglich nicht verhandelbar sind. Neuerdings wird die Nicht-Ratifizierung auch von seiten der Regierung explizit als Drohung gegen die Osterweiterung in Anschlag gebracht.

[28] International Herald Tribune, 6.2.97