Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Preisfrage des Quartals: Wie rechts ist die Republik?
Das Jahr 2019 geht aufs Ende zu – die Funktionäre der politischen Parteien, die das deutsche Volk regieren möchten, treffen sich zu ihren Parteitagen, um sich dafür dem deutschen Volk zu empfehlen.
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I. Preisfrage des Quartals: Wie rechts ist die Republik?
Das Jahr 2019 geht aufs Ende zu – die Funktionäre der politischen Parteien, die das deutsche Volk regieren möchten, treffen sich zu ihren Parteitagen, um sich dafür dem deutschen Volk zu empfehlen.
Das erste Angebot kommt von rechts außen: Die AfD beschäftigt die Nation mit dem Dilemma des demokratischen Rechtsradikalismus: Wie nationalistisch, wie politisch inkorrekt, wie aufrührerisch gegen das etablierte Establishment muss man sein und sich aufführen, um im angesprochenen Wahlvolk die Lust zu wecken auf offensive Ausgrenzung aller und alles Nicht-Deutschen, auf freie Bahn für den Bruch antifaschistischer Tabus, auf militantes Beleidigt-Sein durch die, die über das Volk das Sagen haben? Andererseits: Wie bürgerlich, wie konservativ, wie seriös muss man sich präsentieren, um als die neue Elite Anerkennung zu finden, von der das liebe Volk sich in gewohnter Weise, wie vom alten Establishment, alles sagen lässt?
Die Lösung: Fürs eine wie fürs andere hat die Partei ihre Leute. Die inszenieren und führen einen Machtkampf um Vorstandsposten ihres Vereins, der ausgewogen ausgeht. Die Fraktion – „der Flügel“ –, die für den hohen Ton einer xeno-, homo- und sonst wie -phoben Heimatliebe mit leicht anarchonationalistischem Einschlag zuständig ist, bekommt ihre Mehrheiten. Wiedergewählt wird zugleich der bisherige Co-Chef, der, im Vergleich dazu, für das Attribut „gemäßigt“ steht. Gemeinsam mit seinem neuen Co, einem Handwerker aus dem ostdeutschen Bezirk der notorisch Erniedrigten und Beleidigten, verkörpert der Intellektuelle aus dem südwestdeutschen Reservoir der westlich sozialisierten Besserwisser, die die BRD schon immer für „linksradikal versifft“ gehalten haben, den Beweis, dass im Neuen Deutschland Ausländerhass auch ohne Menschenrechtsgedöns regierungsfähig ist und dass die AfD mit ihrem erklärten Willen zur Macht dem Begriff der Bürgerlichkeit entspricht, also mit vollem Recht den Anspruch erheben kann, als bürgerliche Partei zu gelten. Denn in Wahrheit ist sie nicht innerlich zerrissen, sondern mit ihrem Rechtsradikalismus in der BRD von heute fast schon normal.
Apropos Wille zur Macht: Den Monopolanspruch auf diese Erztugend des anständigen Demokraten erneuert auf ihrem Parteitag die CDU. Das ist für alle, die sich einem solchen in langer Tradition bewährten Herrschaftsanspruch gerne unterordnen – und die es vor allem gerne sehen, wenn die Partei des marktwirtschaftlichen „Weiter so!“ und des schlichten „Keine Experimente!“ sich das brave Volk unterordnet –, die gute Nachricht. Die nicht so gute: Die Partei, die in der BRD seit Menschengedenken die Partei der Macht ist, für die ihr Herrschaftswille die Seele ihres Programms ist, von der das Wahlvolk gar nichts anderes erwarten soll als die sachgerechte Verwaltung der gewohnten kapitalistischen Lebensverhältnisse samt Elend und christlichem Sozialwesen und von der es auch gar nichts anderes zu erwarten gewohnt ist: Deutschlands Staatspartei ist glatt genötigt, ihren Anspruch auf Identität mit der Regierungsmacht im Land zu erneuern. Warum? Weil die Basis an der Vorstellung, per Wahl der großen Volkspartei das Recht auf den Standpunkt des universell zuständigen Hausmeisters der Nation erworben zu haben, so viel Geschmack gefunden hat, dass es dem Reiz des Angebots von rechts außen, per Wahl der AfD und als „Wir sind das Volk!!“ den Standpunkt des gehässigen Blockwarts der Nation herauszukehren, zu großen Teilen nicht hat widerstehen können. Dass sich so viel Abweichung für eine anständige Basis nicht gehört, das muss mal wieder nachdrücklich in Erinnerung gebracht werden.
Fest steht damit die Aufgabe des Parteitags – und die Herausforderung für den Chef, der in dem Fall eine noch immer ziemlich neue, nach Jahrzehnten der Kontinuität gar nicht ganz sattelfeste Chefin ist. Die politische Problemlage wird damit schön leicht fassbar: Der Herrschaftsanspruch der Partei auf das Volk nimmt Gestalt an in dem Gefolgschaftsanspruch der Vorsitzenden an ihre Partei. Das folglich zu lösende Durchsetzungsproblem materialisiert sich in der Gestalt eines Herausforderers, des Wiedergängers Merz, der sich in der glücklichsten Weise als ziemlich zurückhaltender Scheinriese herausstellt; auf jeden Fall hat die Chefin es leicht, am Ende einer programmatischen Rede, die das Publikum mit Ausführungen zur Identität von Staats- und Parteiräson langweilt, in einer überraschenden Schlusspointe die ganz persönliche Machtfrage so zu stellen, dass die Basisvertretung ganz spontan spürt, dass jetzt stehender Applaus verlangt ist. Nach der Logik ‚Kult macht Führer‘ ein gelungener Tag. Mit dem einzigen Manko, das eine in Sachen Führerkult unbestechliche demokratische Öffentlichkeit prompt herausfindet: Richtig beantwortet wäre die Machtfrage – der Chefin wie der Partei –, wenn sie sich gar nicht erst gestellt hätte. Erst Fraglosigkeit macht Führung vollkommen – den rechten Stärkebeweis hat die CDU nicht ganz hingekriegt. Sie ist eben doch schon nicht mehr die Volkspartei der Republik.
Um diesen Status ringt auch, auf fast schon verlorenem Posten, die SPD. Bei der zeigen sich nämlich sehr drastisch die Früchte ihres Erfolgs als Volkspartei: Den proletarischen Klassenstandpunkt hat sie nicht bloß für sich entsorgt, sondern auch ihrer Anhänger- und Wählerschaft abgewöhnt; für den Standpunkt der allgemeinen Manövriermasse nationaler Staatsgewalt, den sie an dessen Stelle gesetzt hat, fehlt ihr jedoch ein zündendes Angebot entschlossener Führerschaft, in der das Volk seinen Volkswillen zu nationaler Herrlichkeit gut und besser als durch CDU und AfD bedient finden könnte. Als Partei mit demokratischer Kultur legt sie dieses Defizit ihrer Führung zur Last; programmatisch in Form der zweifelnden Frage nach der Sichtbarkeit der eigenen Repräsentanten und ihres segensreichen Wirkens in der Regierung der Großen Koalition unter Merkel – insofern eine sehr passende Fragestellung, als sie nichts als die Schwäche eines Zweit-Machthabers neben der maßgeblichen und schon wegen der Länge ihrer Amtszeit dominierenden Erst- und Hauptinhaberin der staatlichen Kommandogewalt ausdrückt. Die Antwort gibt die Partei praktisch in der Form, dass sie ihrer immer neu gewählten Führung stets von Neuem nur unter Vorbehalt bis gar nicht folgt.
Zur Auflösung dieses Problems beschließt die Partei schließlich die Inszenierung eines reinen Formalismus der Gefolgschaft: von parteiinternen, öffentlich sichtbar gemachten Diskussionsrunden mit abschließendem Votum der Basis über die Kandidaten, die zwecks verdoppelter Überzeugungskraft als gemischtgeschlechtliches Duo antreten. Die Darsteller in diesem Theater der Basisdemokratie profilieren sich mit tendenziell entgegengesetzten Antworten auf die Frage nach der Bekömmlichkeit der ‚GroKo‘ für Deutschlands traditionsreiche Sozialdemokratie. Dabei beziehen sie sich auf 3 bis 4 zu Unrecht in Vergessenheit geratene Errungenschaften der SPD-Minister unter Merkels Regie, die selber gleich wieder in Vergessenheit geraten, von denen aber das Ethos mildtätiger Zuwendung der Herrschaft zu den Ärmsten der „an sich reichen“ Nation in Erinnerung bleiben soll. Das, und dass das eher koalitionskritische Paar am Ende gewinnt, gilt, für die Partei selbst wie für die Öffentlichkeit, als Linksruck. Die Wahrheit dieser Einschätzung liegt nicht darin, dass die Grundrente für arme Rentner – und was eigentlich noch … – vor irgendeinem Kriterium linker Politik Ehre einlegen würde, sondern umgekehrt darin, dass damit definiert ist, was in der BRD des 21. Jahrhunderts politisch links ist.
Zu dieser Definition trägt, mehr noch als die entsprechend freundliche Grußadresse der Links-Partei, der größere Regierungspartner mit aufgeregter Kritik am frisch erwachten „demokratischen Sozialismus“ der Kühnert-Fraktion der SPD bei. Während die sehr stolz ist auf das jüngste Armutszeugnis der sozialen Marktwirtschaft, hält der hauptsächlich regierende Wirtschaftsflügel der Nation Altersarmut nach dreieinhalb Jahrzehnten pünktlicher Rentenkassenbeitragszahlung für dermaßen systemkonform, dass ein von Staats wegen ohne eigene Beiträge finanziertes, rechtlich zugesichertes Almosen für Betroffene als unbedingt systemwidriger Linksradikalismus zu ächten ist. So erneuert die Nation auch nach dieser Seite hin ihre parteipolitischen Orientierungsgrößen.
Komplementär zum Abstieg der Volkspartei SPD trägt eine Welle der Begeisterung für das aktuelle Abenteuer der Weltrettung, den Klimaschutz, die Grünen in die Höhen einer Mehrheitspartei für die moralisch sensible Minderheit des Volkes. Um auf dem Parteitag den bevorstehenden Untergang der alten Welt in ansteigenden Ozeanen als Chance auf maßgebliches Mitregieren zu feiern, braucht es allerdings mehr als gute Nerven. Nämlich den festen Glauben an eine Lösung, der dem vorübergehend wieder populär gewordenen Slogan, „der Kapitalismus“ sei an der Verschiebung der Klimazonen und den damit verbundenen Verwüstungen schuld, jedes Moment der Absage an die herrschende Marktwirtschaft und ihre politischen Sachwalter und Garanten nimmt – wie könnte man sich auch sonst um den politischen Dienst an der Produktionsweise bewerben, die auch auf dem Feld der allgemeinen materiellen Lebensbedingungen für Verelendung sorgt! Die Grüne Partei entnimmt der vorgestellten Apokalypse den äußerst systemkonformen Imperativ, der nach ihrer antikapitalistischen Sturm- und Drang-Periode ohnehin zu ihrem Markenkern geworden ist: das industrielle Geschäftsleben durch ein weltweites Geschäft mit einer neuen Industrie der Energiebereitstellung zu ergänzen. Denn nachhaltiges Gewinnemachen geht nur mit Nachhaltigkeit: Das ist ökologische Vernunft mit Augenmaß.
Gegnerschaft aus dem Lager der ewig regierenden Christen-Union zieht sich die Grüne Partei auch damit zu. Genauer: speziell aus der CSU, die ihrerseits schon immer den Fortschritt, den revolutionären, als Mittel dafür betrachtet und eingesetzt hat, dass mit dem Kapitalismus und seinen bodenständigen Freunden und Nutznießern alles so weitergehen kann und weitergeht wie gewohnt. Seit die Söder-Mannschaft das Unternehmen, die rechtsradikalen Ausländerhasser auf deren Gebiet zu schlagen und so AfD-Wähler heimzuholen, als kontraproduktiv aufgegeben und die Versöhnung von Kapitalismus und Schöpfung als ihr Steckenpferd wiederentdeckt hat, ist in ihrem Kalkül die einst so verachtete, gleich nebenan in Baden-Württemberg aber so erfolgreich bürgerlich gewordene Partei der grünen Systemwidrigkeit zum Konkurrenten aufgestiegen: zum ernst zu nehmenden Wettbewerber um die Gewinnung von Wählerstimmen aus recht verstandener Heimatliebe. Der hochanständigen SUV-FahrerInnen, die in einem Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen den ärgsten Anschlag auf ihre bürgerliche Freiheit erkennen, versichert die bayrische Union sich mit der Einleitung eines Volksbegehrens gegen solche Umtriebe; im Gegensatz zur AfD, die sich prompt anschließt, kann sie sich gleichzeitig Ausländer als preiswerte Dienstkräfte zur Behebung des Pflegenotstands vorstellen.
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Einen Nachschlag zum Thema Rechtsradikalismus in Deutschland gibt es dann noch zum Jahreswechsel. Es existiert da nämlich eine Grenze, deren Überschreitung den politisch Verantwortlichen nicht bloß für ihr parteipolitisches Kalkül zu denken gibt: Morddrohungen gegen Repräsentanten des ehrenwerten nationalen Establishments, erst recht Attentate auf Kommunalpolitiker, die es für den geschärften Geschmack des „alternativen“ Patriotismus an Ausländerhass fehlen lassen, oder auf Synagogen, deren Zulassung im Neuen Deutschland dessen unvergleichliche politmoralische Bonität verbürgt und die daher unter ganz anderem Artenschutz stehen als sonstige Gebetshäuser, – so etwas geht gar nicht. Kommt aber dauernd vor; in der Abrechnung zum Jahresschluss kommt einiges zusammen. Und was noch schlimmer ist: Nicht bloß Übergriffe auf links-alternative Einrichtungen, auch solche eindeutig extremistischen Entgleisungen der rechten Liebe zur biodeutschen Leitkultur finden ein bisschen zu oft und ein bisschen zu vernehmlichen Beifall in der Polizei und bei Sicherheitsbehörden, gehen sogar schon mal von staatlichen Dienststellen aus. Dagegen muss eingeschritten werden. Und das geschieht auch.
Erstens mit einer Ächtung von höchster Stelle, die mit der Autorität des Bundesinnenministers den politischen Gehalt dieser neuen rechten Sitten vermittels moralischer Verallgemeinerung aus dem Blickfeld bringt: Wir erleben eine hochproblematische Verrohung in der Gesellschaft.
(Seehofer) Zweitens ist diese „Verrohung“ bei Linken und Dschihadisten gut im Griff, sollte aber auch dort nicht unbeobachtet bleiben, wo sie von radikalen Amateuren und Profis des gewaltbereiten Heimatschutzes ausgeht. Dafür schafft das Ministerium 300 neue Stellen, die auf unliebsame Übergänge zum staatsgefährdenden Terrorismus aufpassen, den grassierenden „Ungeist“ ohne Sympathie beobachten und den rechten Patriotismus aufs Normalmaß der nationalen Leitkultur herunterdimmen sollen. Wobei es freilich drittens auf jeden Fall Augenmaß braucht. Denn wenn Rechtsradikale zur Tat schreiten, ist doch jedes Individuum ein Einzelfall mit Unschuldsvermutung. Und wenn in einer Häufung von Einzelfällen doch so etwas wie ein gesinnungsfestes Netzwerk erkennbar wird, ist umso mehr daran zu erinnern, dass nicht alles, was auf den zweiten Blick nach einer kriminellen Vereinigung rechtsradikaler Gesinnungstäter aussieht, in jedem Einzelfall schlecht sein muss. Schon gar nicht bei Beteiligung des Öffentlichen Dienstes, dessen Frontsoldaten anders als ein bisschen mafiös gar nicht funktionieren können – weiß jedenfalls das Beamtenblatt aus Frankfurt:
„Der Kameradschaft abträglich sind aber eine Verdachtskultur und chronische Schnüffelei. Und Kameradschaft muss sein. Ein alter Begriff, gewiss. Auf ihr beruht aber auch heute noch laut Soldatengesetz wesentlich der Zusammenhalt der Bundeswehr. Und die Polizei braucht Kameradschaft ebenso wie den Willen zum treuen Dienen und zur Achtung des Rechts. Wer sich das zur Aufgabe macht, ist ein Patriot. Er kann kein Extremist sein. Und ein Extremist kann kein Patriot sein.“ (FAZ, 18.12.19)
So korrigiert die Macht der Definition die unliebsame Realität.