Präsidentenwahl in der Ukraine
Gut gewählt! Ein „Übel“, aber das westliche, das deshalb das „kleinere“ sein soll.
Während es in westlichen Demokratien bei Wahlen um die Auswahl des Regierungspersonals geht, geht es hier um die Grundsatzfrage, was aus der Nation werden soll: Kutschma will gewählt werden, weil er bei westlichen Gläubigern Vertrauen genießt; seine Gegner wollen die Beziehung zum Westen abbrechen und fordern Annäherung an Russland.
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Systematischer Katalog
Präsidentenwahl in der
Ukraine
Gut gewählt! Ein „Übel“, aber das
westliche, das deshalb das „kleinere“ sein soll.
In der Ukraine herrscht an allen Fronten Staatsnotstand, nennenswerte Finanzmittel fürs Schuldenbedienen, geschweige denn fürs Regieren kann die Staatsmacht nicht mehr aufbringen, die ökonomischen Machtgrundlagen der Nation sind verwüstet, das Volk ist verelendet und auf seine jämmerlichen Überlebenskünste zurückgeworfen. Und dennoch verzichtet die Staatsgewalt nicht auf das Ritual, das die Nation als Demokratie, also als vorschriftsmäßig funktionierendes Staatswesen ausweisen soll: Sie lässt pünktlich zum vorgesehenen Termin wählen.
An Konkurrenten um das höchste Amt im Staat ist kein Mangel. Die berufen sich alle auf die offenkundige Misere, um eine Auseinandersetzung über die Grundsatzfrage anzuzetteln, was aus der Nation überhaupt werden soll. Was zivilisierte Nationen tunlichst vermeiden, Themen in den Wahlkampf hineinzuzerren, bei denen das Volk gar nicht mitreden kann, und was angesichts eines ordentlichen demokratischen Konsens derjenigen, die sich zum „Gestalten“ berufen fühlen, auch völlig überflüssig ist – das hat die Konkurrenz der ukrainischen Führungsfiguren dem Wähler zugemutet: einen Streit um die elementare Ausrichtung der ukrainischen Staatsräson. Die komplett unversöhnlichen Standpunkte reichen von dem einen Extrem, dass es zur bisherigen Politik mit ihren sichtlich katastrophalen Ergebnissen einfach keine Alternative gibt, bis zu der in demokratischen Wahlen eher seltenen Position, nach der die Staatsgewalt selbst, um deren Vorsitz die Kandidaten kämpfen, nicht überlebensfähig und akklamationswürdig ist. Die Präsidentschaftskandidaten haben das Volk aufgescheucht und für ihre Befugnis, die Macht zu übernehmen, zu überzeugen versucht – im Namen von Gegensätzen, die mit der Wahl gar nicht erledigt sind. Auch damit lässt sich aber Wahlkampf machen, und Auskünfte über die Lage der Nation, die lauter Bankrotterklärungen beinhalten, werden glatt als Wahlkampfwerbung eingesetzt.
1. Nach 8 Jahren Unabhängigkeit und 5 Jahren Präsidentschaft mutet Kutschma seinen Untergebenen zu, den herbeiregierten Staatsruin per Wahlkreuz mit einem „weiter so“ zu bekräftigen. Man kann dem Mann eines nicht absprechen: Er hat Nerven. Der Ukraine droht im Jahr 2000 wieder einmal der „default“, der offizielle Staatsbankrott nach den Kriterien des IWF, und Kutschma erklärt ausgerechnet diesen Sachverhalt zu seinem überzeugendsten Wahlkampfargument:
„Im Jahre 2000 sagte Kutschma, müsse die Ukraine mehr als drei Milliarden Dollar zurückzahlen, die der Staatshaushalt nicht bereithalte. Kein Gläubiger werde einer Umstrukturierung der Schulden zustimmen, wenn ein Kandidat der Linken zum Präsidenten gewählt werden sollte. Nur ihm könne dies gelingen.“ (NZZ, 7.9.)
Derselbe Präsident, der mit seinen Dekreten durchsetzt, dass allen westlichen Geboten zur Durchsetzung des Geldregimes gegen die Überlebensnotwendigkeiten der Bevölkerung Rechnung getragen wird, wirbt damit, dass nur er bei den Gläubigern Vertrauen genießt. Und das gegenüber einem Wahlvolk, dem er seit Jahren Lohn und Renten vorenthält, weil der unter der Aufsicht und nach den Prinzipien des IWF fabrizierte Staatshaushalt eine Rücksichtnahme auf die Lebensinteressen der Bevölkerung grundsätzlich nicht verträgt. Nun erbittet er sich, dass die werte Bevölkerung dieser Unterstellung der Nation unter die Diktate der Gläubiger auch noch explizit ihre Zustimmung erteilen möge, mit einem Argument, das der Sache nach eine Drohung ist: Wer sich den Gesetzen des Staatsnotstands und den Direktiven des IWF nicht fügt, der wird dann schon sehen, ob und wie die zugrundereformierte Nation und deren Insassen das aushalten. An der niederschmetternden Bilanz seines Regierens lässt Kutschma gar keine Zweifel – aber mit seiner Wahl soll sein Volk festschreiben, dass es zum Westkurs und das heißt zur Anerkennung des Staatsruins und der fortgesetzten Beaufsichtigung durch die westlichen Kreditagenturen keine Alternative gibt.
2. Diese Alternative ist aber unterwegs. Im „zentristischen“ oder nationalistischen Lager hat Kutschma keine wahlwirksamen Gegner zu befürchten, wohl aber auf der Seite der Linken, zu der die progressiven Sozialisten mit ihrer Anführerin Vitrenko, die Kommunisten und die Agrarpartei unter Parlamentspräsident Tkatschenko gerechnet werden, die lautstark für einen Kurswechsel eintreten. Diese Kandidaten können sich sehr gut vorstellen, dass die Ukraine erstens die Beziehungen zum IWF abbricht und die ukrainischen Auslandsschulden einfriert:
„Diese Organisationen seien Instrumente des Weltkapitalismus, der versuche, sich die Ukraine politisch zu unterwerfen und wirtschaftlich auszuplündern.“ (Vitrenko, Aktuelle Analysen, im Folgenden AA, Nr. 14/99)
Zweitens wollen sie die bisherige Politik der Reformen kündigen. Das Programm sei „volksfeindlich“ und diene nur den fünfhundert Neureichen, die sich als Handlanger für den Ausverkauf der Ukraine hergeben. Die Privatisierung soll rückgängig gemacht werden; und die Führer der linken Parteien wollen auch nicht einsehen, was an den Instrumenten der realsozialistischen Planwirtschaft wie Preisfestlegung, Planung und Kontrolle des Binnenhandels und staatliche Beaufsichtigung des Außenhandels so verabscheuungswürdig sein soll, wenn sie die alten Zustände mit den heutigen marktwirtschaftlichen vergleichen.
Drittens verlangen Kutschmas Konkurrenten eine Revision der bisherigen Außen- und Sicherheitspolitik: Von der Politik der Westintegration halten sie nichts, in der Osterweiterung, mit der sich die Nato nun bis an die ukrainische Grenze hin ausdehnt, sehen sie eine Bedrohung nationaler Sicherheitsinteressen. Die 1997 unterzeichnete „Charta über eine besondere Partnerschaft“ zwischen Nato und Ukraine soll daher aufgekündigt und jegliche Zusammenarbeit in Gestalt von Manövern oder Friedenstruppen wie im Kosovo eingestellt werden. Darüberhinaus will man prüfen, ob sich gemeinsam mit Russland eine antiwestliche Strategie ausarbeiten lässt.
Der vierte Punkt der linken Präsidentschaftskandidaten betrifft die Stellung der Ukraine zu Russland. Kutschmas westlicher Linie wird vorgerechnet, dass sie ohne jeden Ertrag aus dieser Himmelsrichtung auch nur das lebenswichtige Verhältnis zu Russland beschädigt hat. Deshalb will man die ukrainische Rolle als Spaltpilz in der GUS aufgeben und einen ähnlichen Weg, wie ihn Weißrussland verfolgt, einschlagen: eine Annäherung an Russland, eine gemeinsame Handels- und Währungspolitik im Inneren und eine gemeinsame Militärpolitik gegenüber dem Westen.[1]
Hinter diese Programmpunkte stellen sich mehr oder weniger explizit alle Kandidaten der Linken. Vor der Stichwahl auch noch der Chef der Sozialisten, Moros, dem westliche Beobachter am ehesten den Wahlsieg zugetraut hätten, indem er seine Anhänger dazu aufruft, für den Kommunisten Simonenko zu stimmen. Sie propagieren nicht mehr und nicht weniger als die grundsätzliche Revision der Staatsräson, mit der der neue Staat nach westlichem Muster zum Erfolg hinregiert werden sollte: All das, was Kutschma und sein Vorgänger als Mittel für die Sicherung der Macht und Unabhängigkeit der Ukraine behauptet haben, hat ja offenkundig das Gegenteil bewirkt und die Lebensgrundlagen von Volk und Nation zerstört. Bei aller Grundsätzlichkeit dieser Absage, die an polemischer Schärfe nicht zu wünschen übrig lässt, denken die linken Wortführer aber nicht daran, ihr Publikum davon zu überzeugen und zu organisieren, dass es mit den beklagten Zuständen aufräumt. Sie rufen das Volk nicht etwa dazu auf, sich diese Politik nicht länger gefallen zu lassen und sich für die Interessen aufzustellen, die unter dieser Staatsräson vor die Hunde gehen, sondern halten sich an die vorgesehene Geschäftsordnung und wollen sich in demokratisch gediegener Form vom Volk dazu beauftragen und in die Ämter wählen lassen, um dann, nach dem Wahlsieg, Kutschma samt Anhang vor Gericht zu bringen. Die „radikale“ Vitrenko hat dabei noch ein eigenes Wahlversprechen zu bieten: Sie verspricht, dass das flüchtende Kapital gleich mit verhaftet wird, damit wäre die nötige Staatsknete auch sofort wieder zur Hand.
3. Der Wahlkampf der Kutschma-Herausforderer geht aber noch ein entscheidendes Stück über diese Programmpunkte hinaus und wirft die Grundsatzfrage auf, ob es überhaupt einen ukrainischen Staat geben soll.
Nicht nur die KPU, die Partei, die von Anfang an gegen die Auflösung der Sowjetunion votiert hatte und deshalb bis 1994 verboten war, aber sie in erster Linie will die Wähler darauf stoßen, dass der formelle Status der Unabhängigkeit ganz und gar nichts über die Fähigkeit besagt, das Überleben der und in der Nation zu sichern. Dabei gibt sie sich alle Mühe, ihre Gegner auf deren ureigenstem Feld zu schlagen, und an Beweisen fehlt es ihr dabei nicht:
„Das ist der Gipfel der Schande: Ein unabhängiger Staat ist ohne ausländische Kredite nicht in der Lage, Löhne, Renten und Stipendien auszuzahlen. Und das soll Unabhängigkeit sein?“ (Gratsch, Führer der Kommunisten auf der Krim, Wostok 5/95)
Eine kommunistische Kritik am Nationalismus mutet die KPU den ukrainischen Nationalisten nicht zu – weil sie sie selber nicht kennt –, die Aufforderung aber schon, ihren Willen zu einer längst blamierten Unabhängigkeit zugunsten eines anderen, des alten sowjetischen Nationalismus wieder einzustampfen. Und sie strengt sich nach Kräften an, das Wahlvolk zu bestätigen, um es hinter sich zu bringen: Mit dem Argument, dass sich jeder aufrechte Ukrainer angesichts der erbärmlichen Abhängigkeit seiner Nation nur schämen kann, appelliert sie ans nationale Ehrgefühl – das aber, um ihrem Publikum das Ehrgefühl, Ukrainer zu sein, zu verleiden! Die Anfeindungen ihrer Gegner, die Kommunisten hätten es auf die Zerstörung des Vaterlands, seiner Unabhängigkeit abgesehen, kontern sie mit der Anklage, dass eine solche faktisch gar nicht existiert:
„Die Grundlagen der Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik sowie konkrete politische und ökonomische Beschlüsse werden nicht von der Verchowna Rada, wie dies die Verfassung vorsieht, sondern vom amerikanischen Präsidenten, Vize-Präsidenten oder Kongress definiert… Die Ukraine musste auf Druck der USA auf die Lieferung von Turbinen für ein Atomkraftwerk im Iran verzichten, was zum Verlust von mehreren Hundert Millionen US-Dollar führte. Wie kann unter diesen Umständen von Souveränität und Unabhängigkeit die Rede sein?!“ (Simonenko, AA)
So berufen sich die Kommunisten auf die Erfahrung von acht Jahren Westintegration und Einführung des Kapitalismus: Wenn der Eintritt in die Weltwirtschaft keinerlei Chancen und Rechte für die Ukraine erbracht hat und der Westen noch nicht einmal auf die zunehmenden ökonomischen Nöte der Ukraine Rücksicht nimmt, dann will der Westen auch den Staatsruin. Dann fördert er die ukrainische Unabhängigkeit nur deshalb, um die Ukraine in eine US-Kolonie zu verwandeln. Dieser nationalmoralische Antiimperialismus kann sich auf die Tatsache berufen, dass sich der Kapitalismus auf ukrainischem Boden in der Hauptsache als Abwrackprogramm bemerkbar macht und die Anlehnung an den Westen die Nation zum ohnmächtigen Anhängsel fremder Mächte heruntergewirtschaftet hat. Und das tun die Kommunisten auch so ausgiebig, dass sie auf eine Kritik des Kapitalismus gar nicht mehr zu sprechen kommen. Man muss, darauf hat sich die KPU in ihrem Wahlkampf verlegt, ihr gar nicht als Kommunisten zustimmen, die irgendwie die Vorzüge der Allunionswirtschaft wieder herstellen wollen – sie appelliert an enttäuschte Nationalisten, die doch auf Grund ihrer gesammelten schlechten Erfahrungen den Antiamerikanismus gut unterschreiben könnten. Mit ihrer Wählervereinnahmung, die das edle Ziel eines ukrainischen Patriotismus gar nicht angreift, vielmehr nur darauf herumreitet, dass der Versuch, daraus ein Unabhängigkeitsprogramm zu machen, offensichtlich gescheitert ist, bietet sie die Perspektive eines alternativen Nationalismus. Ebenso der Führer der Agrarpartei, Tkatschenko:
„Für uns, die GUS-Staaten, ist das Drängen in die europäischen Strukturen in der Rolle von Gnadenbrotempfängern gefährlich. Solche Waghalsigen wird man dort ohne Zögern zu Lakaien machen.“ (AA)
4. Der demokratische Dialog zwischen Allunions- und ukrainischen Nationalisten erreicht im Wahlkampf gewisse Höhepunkte. Die Kutschma-Kritiker wollen sich ganz auf die nationale Desillusionierung verlassen, die angesichts der bisherigen nationalen Erfolge eingetreten ist. Die Kutschma-Anhänger wiederum bemühen sich erst gar nicht, die Desillusionierung zu bestreiten, sondern kontern damit, dass die linke Alternative noch viel weniger taugt. Martschuk, ein Präsidentschaftskandidat der Mitte, den Kutschma vor der Stichwahl auf seine Seite gezogen hat, deutet da nur auf die russische Finanzlage:
„Im Gegensatz zu Russland, das selbst von Finanzspritzen der Weltbank und des IWF lebe, sei der Westen in der Lage, die nötigen Finanzmittel für diese Länder bereitzustellen.“ (AA)
Der Vorsitzende der Partei, auf deren Liste Martschuk angetreten ist, Medvedtschuk, bekennt sich gleich dazu, dass der Nation nichts anderes übrig bleibt, als sich mit der Desillusionierung abzufinden, dass man sich vom Westen nichts zu erwarten hat. Er zitiert eine „ukrainische Mythologie“:
„Der Westen hat mit uns Mitleid, er hilft uns, den guten Kapitalismus aufzubauen, er gibt uns alles, was wir für die Modernisierung unserer Wirtschaft benötigen, er öffnet für uns die Weltmärkte, er nimmt uns in die wohlhabende europäische Völkerfamilie auf.“
Die Wahrheit sieht aber Folgendermaßen aus:
„Jetzt kommt die Ernüchterung. Für viele ist der Westen wieder zum Symbol des seelenlosen, harten und eigensinnigen Pragmatismus geworden. Der Westen ist aber derselbe geblieben: Er hatte und hat keine festen Freunde, er verfolgt nur eigene Interessen in der ganzen Welt. Sollen wir uns deshalb beleidigt fühlen, weil der Westen, die USA und der IWF versuchen, ihre Konkurrenten zu schwächen und die Weltwirtschaft zu kontrollieren? Wir werden wieder als Quelle billiger Arbeitskraft und als großer Absatzmarkt für westliche Waren angesehen, also als Peripherie des Weltwirtschaftssystems. Der Westen vergibt Kredit nicht mit dem Ziel, in Zukunft Konkurrenten zu bekommen… Die Ukraine ist nicht stark genug, um aus eigener Kraft den Kapitalismus westlicher Prägung aufzubauen.“
Bei der bisherigen einseitigen Ausrichtung auf den Westen kommt die „Ukraine nur als Objekt der Expansion des internationalen Kapitals und als Rohstoffanhängsel“ vor. (AA) Folglich muss die Nation, die aus eigenen Kräften nichts vermag, pragmatisch zwischen beiden Seiten lavieren und schauen, was sie sich dort jeweils an Land ziehen kann.
Die feindlichen Lager zitieren gar nichts anderes als die Ohnmacht des Staatswesens, um für die Anlehnung entweder an den Westen oder an Russland oder irgendwie an beide zu plädieren. Der Streit wird auch nur darum geführt, bei welchem Bankrottverwalter die Nation besser aufgehoben sei. Mit dem Deuten auf die Tatsache, dass Russland selbst ziemlich mittellos dasteht, wird die kommunistische Alternative bekämpft. Dass die Nation auf der anderen Seite mit handfesteren Perspektiven rechnen könnte, für die die Antikommunisten gewählt werden müssten, wird von denen aber gar nicht so recht behauptet. So wird das Wahlvolk im Wahlkampf ausgiebig mit der gründlich vergeigten Lage der Nation traktiert, und auch daraus lassen sich Wahlargumente verfertigen, indem man die andere Seite denunziert, dass deren Weg garantiert die einzigen Mittel zerstört, auf die sich die Nation allenfalls noch irgendwelche Hoffnungen machen kann, dass sie sich nur zum Lakaien auswärtiger Mächte macht und die Ehre der Nation mit Füßen tritt. Auf diese Weise wird der Wähler vor eine eigentümliche Entscheidung gestellt: Das russlandfreundliche Lager, so erfährt er von dessen Feinden, will die Nation abschaffen, während sie die Nation hochhalten - das allerdings ohne jeden Zusatz, inwiefern man etwas auf sie halten sollte, geschweige denn, dass man sich etwas davon erwarten könnte, in der Nation zu hausen.
5. Dieser erbitterte Streit wird zwar als Wahlkampf geführt. Dabei kann und will sich aber das regierende Lager auf seine Wahl-Argumente aus gutem Grund nicht verlassen. Zur Entscheidung der Gewaltfrage, die die Konkurrenz zwischen Allunions- und ukrainischen Nationalisten – zwar nur in Gestalt von Wahlparolen, damit aber immerhin – auf die Tagesordnung setzt, haben die Inhaber der Macht die besseren Mittel.
Wahlfälschung und Zensur sind noch die harmlosesten Formen des Wahlkampfs. Organe der öffentlichen Meinungsbildung, die sich nicht auf die Seite des amtierenden Präsidenten schlagen, müssen mit dem Besuch der Steuerpolizei rechnen, die kurzerhand beschlagnahmt, was noch zu beschlagnahmen ist. Die Bestechung des Wahlvolks durch die Bezahlung von Lohn- und Rentenschulden fällt weitaus bescheidener aus als noch bei der letzten Parlamentswahl, stattdessen mobilisiert die von Kutschma eingesetzte Staatsverwaltung die ihr verbliebenen Machtmittel:
„Angestellten großer Betriebe soll damit gedroht worden sein, sie könnten ihre Arbeitsplätze verlieren, stimmten sie nicht für die Partei der Macht.“ (FAZ, 26.10.)
Die Drohung wird auch praktisch, indem alle unmittelbar von der Staatsmacht abhängigen Kreaturen wie Soldaten, Studenten und die Arbeiter der Großbetriebe in ihren Kasernen, Universitäten und Betrieben den Stimmzettel abliefern müssen. Nötigung und Einschüchterung der Wähler sind offensichtlich die überzeugendsten und verlässlichsten Mittel, die die Fortsetzung der Linie von Marktwirtschaft & Demokratie in der Ukraine auf ihrer Seite hat. Und die werden auch auf der höheren Ebene der Wahlwerbung ausschließlich und ausgiebig wahrgenommen: Die von Kutschma dirigierten staatlichen und privaten Fernsehsender bestücken ihr Programm im Wahlkampf und in den zwei Wochen vor der Stichwahl dann abendfüllend mit einer Feindbildpropaganda, die auf die Erzeugung von Angst vor der kommunistischen Machtübernahme abzielt. Filme über die Hungersnöte in der Ukraine während der Stalinzeit suggerieren, dass der aktuelle Hunger noch gar nichts ist gegenüber dem, den man demnächst unter der KP-Herrschaft – wieder – zu erwarten hat. Hiesige Zeitungen, die sich auf ihren gepflegten Antikommunismus viel zugutehalten, werden in ihrer Verachtung für das minderwertige West-Anhängsel sogar einmal ehrlich und distanzieren sich geschmäcklerisch von dessen Praktiken:
„Der Großteil der Medien und der gesamte Staatsapparat mitsamt Geheimdienst hatten regelrecht eine Gehirnwäsche der Massen betrieben.“ (HB, 2.11.)
Mit unversöhnlichen Schuldzuweisungen und Denunziationen wird der Nationalismus von unten zum richtigen Wählen mobilisiert – und die Botschaft kommt an. Vier Wochen vor dem Wahltermin wird bei einer Wahlveranstaltung ein Granatenanschlag auf die Chefin der Progressiven Sozialisten, Vitrenko, verübt, der sinnfällig macht, dass die Unterstützung der Linken nicht nur für die Spitzenkandidaten sondern auch für ihre Anhänger lebensgefährlich werden kann.
Auch die parteilich aufbereiteten Zitate aus der Vergangenheit stehen schließlich nicht für eine Kritik des Stalinismus, sondern für eine Ansprache an den ukrainischen Nationalismus – dessen sich die Staatsinhaber, was ihre Untergebenen betrifft, gar nicht sicher sind. Neben Ukrainern, die diese Eigenschaft schon in ihrem sowjetischen Pass vermerkt hatten und auch solche sein wollen, laufen in der Ukraine schließlich auch noch 30 Prozent Russen herum, im Osten massiert, bei denen nicht ausgemacht ist, für was sie sich eigentlich halten, zweifelhafte Elemente auf jeden Fall. Nachdem nun aber in diesem Wahlkampf der dritten Art mit der Kritik an der Existenz des Staats um Wählerstimmen geworben wird, nachdem die ukrainische Autonomie zur Debatte steht, antwortet das Kutschma-Lager mit allen Mitteln, die es qua Besitz der Staatsmacht noch aufbieten kann, und verzichtet auch nicht auf eine gewisse Bürgerkriegshetze – die soll man aber gewissermaßen als Vorbeugung gegen das Bürgerkriegsrisiko verstehen, mit dem das Staatswesen seit seiner Gründung befrachtet ist und das mit dessen Karriere und mit dem Anwachsen an nationaler Grundsatzkritik an Aktualität gewinnt.
Auch die Botschaft des Kutschma-Lagers ist angekommen. Kutschma siegt in der Stichwahl über den alternativen Nationalismus der KPU. Die Wähler haben sich von der Perspektive eines solchermaßen beschaffenen „kleineren Übels“ samt seinen brachialen Wahlhilfen beeindrucken lassen. Wahlbeobachter, deren aufmerksamer Blick dem notorisch unterschiedlichen Wahlverhalten in der West- und Ostukraine gilt, berichten mit Zufriedenheit, dass Kutschma auch im russisch bewohnten Osten Erfolge erzielt hat. Außerdem verbreiten sie das Gerücht, dass auch der kommunistische Herausforderer von Bedenken gegenüber seinem möglichen Wahlsieg, wegen gewalttätiger Folgerungen bis zum Auseinanderfallen des Landes, geplagt worden sein soll. Alles in allem also wieder einmal ein schöner Sieg der Demokratie.
6. Die westlichen Beobachter reagieren einerseits mit Genugtuung darauf, dass „unser Mann“ die Wahl gewonnen hat. Dieselben Quellen, die davon berichten, wie sich Kutschma sein Wahlergebnis zurechtgezimmert hat, bestehen kategorisch darauf, dass das Wahlergebnis letztlich dann doch ein Herzensbedürfnis des ukrainischen Wählers ist. Der Vertreter der OSZE gibt bekannt, dass „die Wiederwahl Kutschmas dennoch angesichts seines Stimmenvorsprungs eindeutig dem Volkswillen entspricht“, die OSZE kann die echten von den gefälschten Stimmzetteln offensichtlich genau unterscheiden. Hut ab vor so viel Wählervernunft, sich ein „kleineres Übel“ zu wählen, das zwar den Staat nach allen Regeln marktwirtschaftlicher Kunst in den Niedergang hineinregiert, aber dennoch standhaft die Treue zu den westlichen Auftraggebern hoch- und jede Alternative niederhält.
Andererseits verzichten die ausländischen Wahlaufseher überhaupt nicht darauf, in aller Offenherzigkeit Kutschma anhand der Methoden bloßzustellen, mit denen er gewonnen hat. Von der OSZE – „schwerwiegende Unregelmäßigkeiten“ – bis zum amerikanischen Außenministerium, das sich „der Haltung der unabhängigen Beobachter anschließt“ (FAZ, 17.11.), wird „unserem Mann“ mitgeteilt, dass er sich bloß nicht einbilden soll, wegen seines demokratischen Kunststücks irgendwelche Ansprüche erheben zu können: Von westlicher Seite hat seine Staatsmacherei weiterhin mit dem unerbittlichen Vorbehalt namens „Reformdefizite“ zu rechnen. Dass der Mann die Linientreue der Ukraine sichert, geht in Ordnung; irgendein Entgegenkommen hat er sich damit aber noch längst nicht verdient. Und – welch ein Zufall – nach der Wahl entdecken unsere kritischen Medien, dass auch Kutschma seinen Wahlkampf mit Hilfe von „Oligarchen“ geführt hat und sich mit deren wahrscheinlicher Beteiligung an der Regierung diskreditiert – vor unserem unparteiischen Blick.
Die erste Amtshandlung Kutschmas nach seiner Wiederwahl besteht darin, dass er zum Telefon greift und seinen Antrag an den IWF zur Auszahlung der nächsten Kredittranche erneuert. Und der gute Mann, dessen schlagendes Wahlargument darin bestanden hat, dass nur er die Aussicht auf eine wohl wollende Behandlung dieses Antrags verkörpert, darf seitdem auf eine Antwort des IWF warten. Dass minderwertige Nationen vom Schlag der Ukraine von der Annahme ausgehen, mit einer mit Mühe und Not gewonnenen Wahl auch schon ein Recht auf Unterstützung zu haben, und sei es auch nur ein Aufschub im Kapitel auswärtiger Zahlungsunfähigkeit, halten die Geldautoritäten der neuen Weltordnung für ziemlich vermessen. Vor einem solchen Gnadenakt steht erst einmal eine neuerliche Inspektion der „Reformdefizite“ sowie die glaubhafte Versicherung des Wiedergewählten damit nun endlich einmal ordentlich aufzuräumen.
[1] In der ukrainischen Optik nimmt sich die Lage in Weißrußland offensichtlich gar nicht so abschreckend aus, wie das hiesige Ostkenner behaupten. Tkatschenko: „Die Erfolge von Belarus waren nur deshalb möglich, weil Belarus im Unterschied zur Ukraine und zu den anderen GUS-Ländern den süßen Märchen aus Übersee über den Markt ohne Grenzen, über die Vorzüge der Privatisierung, über sich selbst regulierende Preise… nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat… Ein Beispiel an Weisheit, an Mut und an Standhaftigkeit…“ (AA 9/99)