Die Rolle der Demographie in der Politik

Die Demographie (Wissenschaft vom „demos“, dem Volk) betrachtet „das Leben, Werden und Vergehen menschlicher Bevölkerung“, also die Leute sachgerecht als das Menschenmaterial der Nation. Sämtliche Ansprüche der Politik werden in die Fähigkeiten des Volkskörpers übersetzt, diesen nach Qualität und Quantität mehr oder weniger gerecht zu werden. Speziell das, was der Lohn als Geldquelle des Sozialstaats nicht mehr hergibt, gilt dieser Wissenschaft als Mangel der demographischen Struktur des Volkskörpers: Als Junger lernt er zu lang, ohne zu arbeiten, als Verbrauchter lebt er zu lang, ohne zu arbeiten, als Arbeitsloser arbeitet er gar nicht, und sogar als voll im Saft stehender produziert er zu wenig reinrassigen Staatsbürgernachwuchs.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Die Rolle der Demographie in der Politik

Die Regierung hat es nicht einfach mit ihrem Volk. Es wählt falsch, es ist arbeitslos, es hinterzieht massenhaft Kapitalertragssteuern – und nicht nur das: Der ganze Volkskörper ist nach Auskunft der maßgeblichen Damen und Herren ziemlich vergeigt. Demographen belegen mit übersichtlichen „Bevölkerungszwiebeln“ und versicherungsmathematischen Kurven ständig aufs Neue: Das deutsche Volk ist zu alt, um Rentenbeiträge zu zahlen; zu gesund, um rechtzeitig zu sterben; zu krank und zu arm, um den öffentlichen Kassen nicht auf der Tasche zu liegen; zu egoistisch, um pro Paar mehr als durchschnittlich Eins-Komma-Irgendwas – jedenfalls bei weitem nicht genug – deutsche Kinder in die Welt zu setzen; …usw. usf.

Kurz: Das deutsche Volk ist eine einzige Belastung für seine Regierung, die sich tagein tagaus abmüht, dem deutschen Bürger ein Leben in Freiheit und Selbstentfaltung herbeizuregieren.

Aber betrachten wir die Sache der Reihe nach. Der deutsche Kanzler weiß nicht erst seit gestern, daß er einem „kollektiven Freizeitpark“ vorsteht. Als weitgereister Mann ist er schon vor längerer Zeit bei vorurteilsloser Betrachtung eines durchschnittlichen deutschen Lebenswegs zu erschütternden Ergebnissen gekommen: „Wir haben die ältesten Studenten und die jüngsten Rentner“. Kaum hat der Deutsche mit der Arbeit angefangen, hört er auch schon wieder auf. So kann das nicht weitergehen. Da trifft es sich gut, daß nicht der durchschnittliche Deutsche über Schulzeit, Ausbildungsbedingungen und Prüfungsordnungen befindet, sondern der deutsche Staat in seiner weisen Voraussicht ein paar Bildungs- und Kultusministerien dafür abgestellt hat. Die Schulzeit verkürzen, die Regelstudienzeiten verschärfen, das BAFöG zusammenstreichen, damit kann man die Sache mit den „ältesten Studenten“ staatlicherseits durchaus entkrampfen.

Wenn er dann endlich ausgelernt hat, der Nachwuchs der Nation, dann soll er sich gefälligst nützlich machen. Dafür, daß jeder dazu Gelegenheit bekommt, kann der Staat natürlich nichts weiter tun; schließlich leben wir nicht in einer Planwirtschaft, in der das Individuum durch einen sicheren Arbeitsplatz geknechtet wird, wir leben in Freiheit und Marktwirtschaft. Gerade da kann und muß die Staatsmacht aber einiges dafür tun, daß sich jeder um eine Stelle bemüht, an der er sich nach seinem Gusto selbstverwirklichen kann: Ein paar zusätzliche Erschwerungen beim Zugang zur Arbeitslosenhilfe, ein paar weitere Kürzungen bei Höhe und Dauer der Unterstützung, alles im Sinne des „Abstandsgebots“, wonach die schlechteste Arbeit noch immer mehr Geld abwerfen muß als die beste Sozialversicherung. So bekommt die Freiheit der Bürger, was sie am nötigsten braucht: Orientierung.

Bleibt noch das andere Ende des durchschnittlichen deutschen Berufslebens – die Geschichte mit den „jüngsten Rentnern“. Es ist zwar nicht gerade eine Geheimnis, daß Vorruhestandsregelungen in deutschen Unternehmen ausgehandelt wurden, um möglichst billig unbrauchbare Arbeitskräfte loszuwerden. Es ist erst recht kein Geheimnis, daß die sogenannten Vorruheständler nichts anderes sind als „schwer vermittelbare“ (= chancenlose) Arbeitslose, die möglichst kostengünstig auf ihr Altenteil rangiert werden. Die Fanatiker eines rundum dienstbaren Volkes stört das aber überhaupt nicht. Eine Rentenreform mußte her, mit der die gesetzliche Altersgrenze für den Ruhestand wieder nach oben – auf 65 Jahre – angehoben wird. Dadurch stehen zwar in Zukunft auch nicht mehr Alte an deutschen Fließbändern, aber auf jeden Fall ist die Rente für alle, die vor Erreichen des 65. Lebensjahres „aus dem Erwerbsleben“ ausgemustert werden, durch diese Regelung schon mal gekürzt.

Denn eines ist auf alle Fälle klar: „Reform der Rentengesetzgebung“ – das heißt Verbilligung der Alten und nicht, daß denen durch eine Verlängerung ihres Arbeitslebens die Gelegenheit geboten wird, ausgerechnet im Alter ihr Einkommen zu verbessern. Völlig verfehlt, ja geradezu ein kaum entschuldbares Versehen, war deswegen eine Gesetzesänderung, die dem Bonner Altenministerium unter der Führung der „Altersforscherin“ Lehr unterlaufen ist. Mit dieser Gesetzesänderung war Leuten über 65 Jahre erlaubt worden, weiter zu arbeiten und trotzdem schon Rente zu kassieren. Offensichtlich hatte man nicht alle Konsequenzen bedacht. Jetzt ist der Skandal da: Es gibt tatsächlich ein paar Leute, die Lohn und Rente beziehen, keinen Pfennig Rentenbeiträge bezahlen müssen und noch dazu ihre Arbeitgeber auf Abfindungen verklagen können, wenn die sie loswerden wollen. So ist sie nun wirklich nicht gemeint, die öffentliche Klage über die „viel zu kurze Lebensarbeitszeit der Deutschen“. Die entsprechende Überarbeitung des Gesetzes ist im Eilverfahren in Arbeit.

Sind die Alten dann in Rente, ist der Ärger mit ihnen noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil, jetzt kommen sie erst so richtig als „demographisches Risiko“ in den Blick. Sie neigen nämlich nicht nur dazu, immer älter zu werden; sie werden mit zunehmendem Alter auch immer kränker und pflegebedürftiger – ein Zustand, den sie sich finanziell im Grunde gar nicht leisten können: Der durchschnittliche Deutsche – das haben die Demographen ausgerechnet – versagt mit seiner durchschnittlichen Rente hier auf der ganzen Linie. Früher sterben tut er aber auch nicht – auch das haben die Experten vom „Deutschen Zentrum für Altersfragen“ herausgefunden. Im Gegenteil, es ist mit einer „zunehmenden Lebenserwartung zu rechnen“. Und es bleibt nur die Hoffnung, „daß die Alten von heute nicht nur länger leben, sondern auch gesünder sind“ (SZ, 26.3.94). Verlassen kann man sich bei diesem für jede neue Krankheit aufgeschlossenen Volk allerdings auf gar nichts: „Untersuchungen, inwieweit neue Krankheitsrisiken, wie etwa Osteoporose oder psychische Erkrankungen, diese Tendenz wieder aufheben, gibt es bislang nicht.“ (a.a.O.) Die Last dieses Risikos tragen mal wieder die Politiker, die sich mit der Frage herumzuschlagen haben: „Wer soll das bezahlen?“ Beantwortet haben sie diese Frage wie immer genial einfach: Das deutsche Volk soll für seine „demographisch bedingte Pflegehäufigkeit“ (a.a.O.)[1] gefälligst selber aufkommen. Und zwar nicht wie bisher in seiner Eigenschaft als Steuerzahler, sondern mit einer zusätzlichen Zwangsabgabe für eine neue Pflichtversicherung. Eine Pflichtversicherung, die im Unterschied zu den bisherigen die ungute demographische Entwicklung des deutschen Volkes versicherungstechnisch zu nutzen weiß: „In diesem neuen System werden nicht nur die Erwerbstätigen …, sondern auch die Alten selber Beitragszahler sein, sofern sie nicht pflegebedürftig sind.“ (a.a.O.) Da weiß man doch schon, wo noch Luft ist für künftige Beitragserhöhungen – bei den Pflegebedürftigen selbst. Wenn die so weiter machen mit ihrer „demographisch bedingten“ Hinfälligkeit, ist das nur gerecht und die konsequente Fortsetzung der Logik, die auch bei den jetzt schon beschlossenen Zwangsbeiträgen angewandt wird. Leute, die zu wenig Geld verdienen, um sich eine „zunehmende Lebenserwartung“ leisten zu können, müssen ganz einfach ein paar Mark dafür übrig haben, daß sie so ein unwägbares Risiko für den deutschen Volkskörper darstellen.

Die andere Seite des „demographischen Risikos“ lassen verantwortungsbewußte deutsche Bevölkerungspolitiker selbstverständlich auch nicht aus den Augen. Es ist nämlich nicht nur so, daß die Deutschen – wegen „zunehmender Lebenserwartung“ – einfach nicht sterben. Es droht ja auch schon seit Jahren der bevölkerungspolitische Super-GAU: „Die Deutschen sterben aus!“ Davon ist bis jetzt zwar weit und breit nichts zu sehen – im Gegenteil, 17 Millionen echte Deutsche wurden neulich eingemeindet. Allerdings lassen diese Zonis, die zu Honeckers Zeiten so fleißig kleine Deutsche produziert hatten, auch in dieser Hinsicht schwer zu wünschen übrig, seit sie im großen richtigen Deutschland leben dürfen. Daraus darf allerdings keineswegs der Schluß gezogen werden, die DDR sei im Vergleich zur BRD ein kinderfreundliches Land gewesen. Solche Bemerkungen sind „eine unerträgliche Verklärung der sozialistischen Diktatur“ (Familienministerin Röntsch während einer Talk-Show im deutschen Fernsehen). Frau Röntsch weiß nämlich, daß die BRD ein extrem kinderfreundliches Land ist: Sie selber sorgt schließlich dafür, indem sie heftig Pläne ausarbeiten läßt, wie man Kinderlose mit einer neuen Sondersteuer zur Kasse bitten kann. Die Bevölkerungsexperten der SPD haben entsprechende Pläne in ihren Schubladen – und schon ist im Lande eine muntere Debatte darüber im Gange, auf welche Weise man furchtbar gerecht „egoistische Singles“ und mindestens genauso egoistische „gutverdienende kinderlose Ehepaare“ oder auch „Leute, deren Kinder schon aus dem Haus sind“, wenn schon nicht zur Gebärfreudigkeit, so doch zumindest per Steuergesetzgebung zu einem finanziellen Extra-Beitrag im Namen des „demographischen Risikos“ veranlassen kann. Gut im Rennen liegen verschiedene Vorschläge, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und den Kindermangel mit den Mitteln der Rentenversicherung zu bekämpfen: durch entsprechende „Korrekturen“ am Prinzip der „lohnbezogenen Rente“, oder durch Rentenkürzung zugunsten der Familienförderung – ein Vorschlag vom Präsidenten des Deutschen Familiengerichtstags, der gar nicht verstehen kann, weshalb ausgerechnet Deutschlands Rentner noch was zu sparen haben –, oder vielleicht durch beides…

Absolut keinen Platz hat in dieser Debatte die Überlegung, wenn denn schon angeblich ein Mangel an Jungvolk herrschen soll, dann solle Deutschland doch seine Grenzen für alle die Hungerleider öffnen, die derzeit durch Grenzschutz mit Infrarotgerät vom deutschen Gelände ferngehalten werden. So funktionalistisch ist die Klage über die „ungesunde Altersentwicklung“ in diesem Lande dann doch nicht gemeint. Es kommt nicht auf irgendeinen Nachschub an Menschenmaterial an; nein, gewünscht ist ein gesunder deutsch-rassischer Volkskörper. Das müssen sich auch die Politiker sagen lassen, die aus lauter Sorge um die demographische Entwicklung Deutschlands für eine Reform des deutschen Ausländerrechts plädieren und etwa fordern, „integrierte Ausländer“ (also solche, denen man ihr Ausländerdasein gar nicht mehr anmerkt) mit einem deutschen Paß zu beglücken.

So paßt es denn durchaus zusammen, einerseits jedem Türken die Einbürgerung in dieses Musterland so schwer wie nur möglich zu machen und auf der anderen Seite auf die Suche nach Schuldigen zu gehen, die sich mit ihrer egoistischen individuellen Lebensführung am deutschen Volkskörper versündigen, indem sie ihm den schuldigen Nachwuchs vorenthalten. Neben den berüchtigten kinderlosen Ehepaaren, die schamlos die Früchte ihres Steuersplittings verprassen, ist verantwortlichen Politikern insbesondere der „Single, der durchschnittlich in deutschen Großstädten 39,5 qm Wohnfläche“ (Originalton Röntsch) okkupiert, ein Dorn im Auge. Man möchte ja gar nicht fragen, wieviel Quadratmeter Frau Röntsch so im Durchschnitt bewohnt. Man möchte nur zu gerne einmal wissen, inwiefern einer kinderreichen Familie damit gedient ist, wenn sich in Zukunft auch singuläre verantwortungslose Individuen nur noch die durchschnittlich 18,2 qm leisten können, die nach Auffassung von Frau Röntsch „pro Person für eine Familie durchaus großzügig sind“? Aber selbstverständlich ginge diese Frage mal wieder völlig an den wirklichen Problemen der Nation vorbei.

Frau Röntsch und ihre KollegInnen sorgen sich eben um ihr deutsches Volk, das ihnen mit seinem Individualismus das Führen so schwer macht. Anstatt seine individuelle Lebensplanung freudig den Ansprüchen der Politik unterzuordnen, neigt der Deutsche – nach Meinung seiner demokratischen HerrInnen – offensichtlich immer noch viel zu sehr dazu, den Staat für ein Dienstleistungsinstitut für mündige Bürger zu halten. Das hat zwar noch nie gestimmt; behauptet wurde es aber immer wieder gerne. Doch was geht die demokratische Führungsmannschaft ihr Geschwätz von gestern an. Heute muß sie ihrem widerspenstigen Volk das moderne Bild vom guten Deutschen nahebringen. Um ihre Ansprüche einigermaßen zu befriedigen, hat diese Gestalt ungefähr so auszusehen:

Der Deutsche tritt so früh, wie es irgend geht, in den Arbeitsprozeß ein und arbeitet solange, wie er gebraucht wird. Dabei ist er heimatliebend und bodenständig und zeichnet sich gleichzeitig durch ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität aus, das es ihm erlaubt, jedem Arbeitsplatz „nachzureisen“, der ihm angeboten wird. Als allseits mobiler Arbeitnehmer achtet er selbstverständlich darauf, deutsche Städte nicht als Wohnraumreservoir für „Singles“ (39,5 qm!) zu mißbrauchen. Er hat stattdessen das „demographische Risiko“ im Auge und sorgt ausreichend und freudig für zahlreichen deutschen Nachwuchs. Die Aufzucht dieses Nachwuchses ist sein Problem – das Familienglück ist nämlich ein hohes, unbezahlbares Gut. Wird er als Arbeitskraft nicht mehr gebraucht, hat er erst recht das „demographische Risiko“ nicht zu vergessen, das jetzt endgültig er selber ist; insofern nämlich, als er mit seiner „zunehmenden Lebenserwartung“ einfach nicht sterben will. Zumindest hat er finanziell für sein Dasein als langlebiger Krüppel ausreichend vorgesorgt und begnügt sich damit, seine Rente aufzuzehren.

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Und kein Demograph warnt Deutschlands Eltern davor, Kinder in die Welt zu setzen, die so werden sollen.

[1] Ein schöner Einfall: die Demograhie als Krankheitsursache!