Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Skandale um die Pflegeversicherung
Ein Fall von moderner Dienstleistungsgesellschaft
Zwangsabgaben für die Pflege der Alten und Kranken, organisiert als kapitalistischer Dienstleistungsbetrieb: entsprechend schäbig sieht die Versorgung dann auch aus.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Skandale um die
Pflegeversicherung
Ein Fall von moderner
Dienstleistungsgesellschaft
Im Frühsommer häufen sich Meldungen über skandalöse Zustände in den Alten- und Pflegeheimen Deutschlands. So meldet z.B. die Süddeutsche Zeitung,
„…auf Grund des niedrigen Pflegeschlüssels könne das Essen und Trinken den Heimbewohnern häufig nur serviert werden. Es fehlt die Zeit zum Füttern, zum Glas an den Mund führen. Heimbewohner seien oft unterernährt und litten unter Austrocknung.“ „Entsetzen, Wut und Verzweiflung herrschen bei Angehörigen und Pflegekräften“ über die Bedingungen, unter die die Pflege in den Altenheimen gestellt ist, so daß z.B. „einem Altenheimbewohner trotz Bitten die Windeln nicht gewechselt werden.“ (SZ 5.5. und 6.6.97).
An anderer Stelle wird über die Verwendung der
erheblichen Summen – von 8 Milliarden ist die Rede –, die
sich in der Pflegekasse angesammelt haben, gestritten.
Der Finanzminister freut sich: Es wird erwogen, den
Etat mit Hilfe überschüssiger Milliarden aus der
gesetzlichen Pflegeversicherung aufzufüllen
(SZ),
wogegen der Arbeitsminister Einwände erhebt, von wegen
der Beitragsstabilität
; der Arbeitgeberpräsident
fordert gar eine sofortige Beitragssenkung
, wegen
der Arbeitsplätze natürlich. Zuletzt warnt das
Diakonische Werk der Evangelischen Kirche, das selber ein
Pflegeleistungserbringer ist, vor Billigpflege
und
konstatiert:
„Das politische Handeln sei mit dem Ziel, den betroffenen Hilfsbedürftigen alle erforderlichen Leistungen in einer hohen Qualität zu möglichst niedrigen Preisen zur Verfügung zu stellen und zu rationalisieren, ohne zu reduzieren, in ein Dilemma geraten.“ (SZ 17.6.)
Ein Dilemma
existiert freilich nur in der
interessierten Wahrnehmung jener guten Menschen, die sich
aufs Pflegen als Geschäftszweig verlegt haben. Dem
politischen Handeln
selbst sind nämlich keine
anderen Ziele zu entnehmen als diejenigen, die es mit
Gesetzeskraft angestrebt und erreicht hat:
Der Sozialstaat hat erstens ein Bedürfnis nach einer
neuen Einnahmequelle entwickelt, weil seinen Sachwaltern
die bis dahin praktizierte Art und Weise, die Endlagerung
von nicht mehr ohne Hilfe lebensfähigen Fällen
zu
finanzieren, per Krankenkasse nämlich und vor allem über
die öffentliche Sozialhilfe, allmählich wie eine
unverdiente und zudem völlig falsch verbuchte Gratisgabe
der Allgemeinheit an ihren kostspieligen menschlichen
Ausschuß vorkam. Nach einigem Gezerre wird dieses
Bedürfnis nun nach den Regeln der sozialpolitischen
Systematik befriedigt: Es wurde der Status des
Pflegefalls
geschaffen, der sich von dem des
gewöhnlichen Kranken durch die Aussichtslosigkeit des
eingetretenen Siechtums unterscheidet; die Tatsache, daß
ein Dasein als solcher Fall
– wie alles in dieser
Welt – Geld kostet, wurde zum allgemeinen Lebensrisiko
ernannt; und weil ein sozialstaatlich betreutes
kapitalistisches Gemeinwesen schließlich keine
Solidargemeinschaft ist, die es sich einschließlich ihrer
Alten und Kranken mit dem reichlich vorhandenen
sachlichen Reichtum gutgehen läßt, sondern umgekehrt
Solidargemeinschaft
der ideologische Titel für ein
staatlich erzwungenes Pflichtenverhältnis zwischen
aktiven und inaktiven Erwerbspersonen, wurde in diesem
Sinn eine Zwangsabgabe von jedem privaten Einkommen
dekretiert, mit der dem allgemeinen Kostenrisiko der
Pflegebedürftigkeit vorgebeugt wird. Um effektiv zu sein,
verlangt diese Vorbeugemaßnahme auf der anderen Seite
zweitens eine verbindliche Bezifferung der Kosten, die
entstehen dürfen – also a) eine Festlegung der Dienste,
auf die ein Pflegefall im Maße seiner Hilflosigkeit
Anspruch haben soll, und b) die Ermittlung des gerechten
Gleichgewichtspreises, mit dem diese Dienste zu vergüten
sind.
In ein irgendwie geartetes Dilemma
ist das
staatliche Handeln
mit diesen beiden Problemen schon
deswegen nicht geraten, weil mit ihrer Stellung auch
schon die Lösung vorgezeichnet war. Mit der Einrichtung
einer Zwangsversicherung ist die Pflegebedürftigkeit
siecher Menschen nämlich als Interessenskonflikt
institutionalisiert, ohne daß die verschiedenen Parteien
miteinander überhaupt in Verkehr treten müssen. Auf der
einen Seite stehen die vom Staat zur Zahlung
verpflichteten Einkommensbeziehern. Auf die andere Seite
bugsiert der Sozialstaat die Pflegefälle in einen
Gegensatz zu den Zahlungspflichtigen – und sich selbst in
die Rolle des ausgleichenden Mittlers, der beiden Seiten
Genüge tun muß: den Beitragszahlern mit ihrem Anspruch,
ihr Verdientes selber zu behalten, ebenso wie den
Überlebensbedürfnissen der Leistungsempfänger. Als dritte
Konfliktpartei sind zudem die Pflegedienste im Geschäft:
Mit ihrer sozialstaatlichen Lizenz, die
zwangskollektivierten Versicherungsgelder zu ihrer
Erwerbsquelle zu machen, stehen sie in einem
Interessensgegensatz zu den Beitragszahlern in der Frage
der Bezahlung wie zu den Bedürftigen hinsichtlich der
dafür zu erbringenden Leistungen. Die Kassen, die das
Geld verwalten, schieben sich als vierte Partei auch noch
dazwischen. Dieser komplexen Konfliktlage muß der Staat,
der sie arrangiert hat, gerecht werden – und damit liegt
die Lösung auf der Hand: Er teilt jedem das Seine zu:
– den Zahlungspflichtigen einen umsichtig bemessenen
Prozentsatz, zu dem sie sich ihr Einkommen schmälern
lassen müssen. Dabei wird die nationale Figur mit dem
größten und am wenigsten abweisbaren sozialstaatlichen
Pflegebedarf nicht vergessen: „Der Wirtschaft“ wird ihre
anteilige Beitragspflicht mit der Streichung eines
bezahlten Feiertags kompensiert;– den Pflegediensten
Vergütungssätze, mit denen sie sich bei „rationellem“
Einsatz billiger Kräfte – das Institut der allgemeinen
Wehrpflicht bewährt sich hier erneut, weil es extrem
preiswerte Zivis liefert – aus dem Füttern und Waschen
hilfloser Menschen ein Profit herausholen läßt. Wenn sich
stattdessen liebe Angehörige das Recht auf einen
Familienzuschuß erwerben, indem sie die „öffentlichen
Hände“ von einem Betreuungsfall entlasten, ist es auch
recht;– den Pflegefällen die Einordnung in drei
unterschiedlich dotierte Pflegestufen, die dank
zweckmäßiger und auftragsgemäßer Handhabung durch
Gutachter, die sich nichts vormachen lassen, einen
dermaßen gerechten Ausgleich zwischen Abgaben und
Ausgaben stiften, daß sogar noch einiges übrigbleibt – 8
Milliarden mittlerweile;– den Kassen schließlich die
Aufgabe, dieses Zuteilungswesen zu organisieren und dem
politischen Handeln
die alltägliche Austragung der
eingerichteten Interessensgegensätze abzunehmen.
Damit hat der Sozialstaat seine Ziele erreicht, also
seine Pflicht getan. Den Rest erledigt, systemgemäß, die
Marktwirtschaft: Die Betreiber von ambulanten und
stationären Pflegediensten machen sich über die
Zahlungsfähigkeit her, die die Pflegekassen dem
Hilfsbedarf der Pflegebedürftigen zuordnen, vergleichen,
wie es sich gehört, Erträge und Kosten und erzielen
Gewinne in dem Maße, wie ihnen die allgemein und von
Staats wegen gewünschte Mobilisierung von
Wirtschaftlichkeitsreserven zwecks Kostendämpfung
gelingt. Diese ist auch den Altenheimen z.B. der Kirchen
oder den bisher nicht auf Überschüsse berechneten Häusern
der Kommunen mit der Verpflichtung auf
betriebswirtschaftliche Rechnungsführung
vorgeschrieben. Also wird allenthalben gespart, wo es
geht – am Personal, am Essen, am Zeitaufwand usw. Wenn
dann alles läuft, wie es soll, treten die Profis des
Pflegegeschäfts als sachkundige Anwälte ihrer Klienten an
die Öffentlichkeit und beklagen die zu geringen
Pflegesätze, die ihnen gar nichts anderes übriglassen als
eine Akkord- und Billigpflege
, unter der die
betreuten Fälle verwahrlosen. Sobald ein paar
Journalisten einige notwendigerweise resultierende
Normalfälle zum öffentlichen Skandal machen, erklären
sich deren unmittelbare Verursacher, nämlich abwechselnd
die Kassenvertreter und die Pflege-Verantwortlichen, zu
den wahren Opfern und Leidtragenden der unhaltbaren
Zustände im Pflegebereich
. Und bevor sie die Instanz
kritisieren, die ihrem modernen Dienstleistungsgewerbe
seine – natürlich allemal viel zu schmale – finanzielle
Geschäftsgrundlage verschafft, entschuldigen sie
gemeinsam ihren hoheitlichen Auftraggeber mit einem
Dilemma
, in das der mit seinen allerbesten
Absichten geraten wäre. So bietet die kurzfristige
Betroffenheit über die schäbige Art, in der der Standort
Deutschland seine schwächlichsten Insassen betreut, die
beste Gewähr dafür, daß diese Fälle
als
Unkostenfaktor langfristig unter Kontrolle bleiben.