§ 218 StGB

Sternstunde demokratisch-parlamentarischer Heuchelei zur Reform dieses Strafrechtsparagrafen als Abwägung höchster Gewissensentscheidungen. Die Debatte tut so, als wäre staatliche Rechtssetzung bloß Diener und Helfer menschlicher Rechtschaffenheit und Moral. Die Wahrheit: der Staat gewährt das Recht auf Leben, somit gehört ihm auch die Liebesfrucht, noch bevor sie auf der Welt ist.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

§ 218 StGB

Wenn im Bundestag nicht einfach ein neues Gesetz beraten und verabschiedet wird, sondern Gewissen angesagt ist; wenn zwar wieder einmal der Staat das Erlaubte vom Verbotenen scheidet, seine Entscheidung aber mit dem Griff in das Archiv der höchsten moralischen Werte begründet wird – dann geht es nicht um Steuererhöhungen oder die Konjunktur.

Wenn die Ausübung der Staatsgewalt von ihren Repräsentanten mit dem Schein versehen wird, sie sei eine unausweichliche Konsequenz ethischer Gebote, dann steht nicht irgendeine für zweckmäßig erachtete Maßregelung des freien Willens an. Dann sind Politiker in einer Sternstunde parlamentarisch-repräsentativer Heuchelei zugange, um in einer grundsätzlichen Sache zu klären, was der freie Wille darf, den der Staat haben will und bestimmt.

Denn um nichts geringeres ist es gegangen, als sich im Sommer 1992 das Hohe Haus der BRD laut Gedanken darüber gemacht hat, wieviel das Interesse einer Frau an einer Schwangerschaft zählt im Vergleich zum Gewissen, das sich StaatsmännerInnen aufladen, sobald sie etwas von einem befruchteten Ei erfahren. Diese merkwürdige Güterabwägung in Sachen Abtreibung hat zwar gar nichts Rührendes an sich, taugte dann aber dazu, daß am Schluß der Debatte, nach der Abstimmung, Schmerzens- wie Freudentränen flossen.

Doch – eins nach dem andern.

1.

Ganz unterblieben sind in der Sternstunde Töne, die auch im demokratischen Deutschland der 80er Jahre schon einmal Konjunktur hatten. Bevölkerungspolitische Entgleisungen, die mit Verheißungen des Typs: „Die Deutschen sterben aus!“ die Notlage einer Nation ohne verläßliche Rentenbeitragszahler ausmalten, fanden nicht statt. Harmlos war die Auseinandersetzung ohne diese scharfe Deduktion des staatlichen Rechts auf Nachwuchs dennoch nicht. Denn eine Auseinandersetzung um die Reform des § 218 lebt von einem Konsens, der der Parole „Recht auf Volk“ durchaus ebenbürtig ist. Immerhin will der § 218 durch Strafandrohung erreichen, daß Befruchtung die Geburt eines Kindes zur Konsequenz hat. Und das ist ein starkes Stück, was wieder einmal niemand so recht gewürdigt hat und ganz bestimmt nicht daher kommt, daß bundesdeutsche Politiker sturzzufrieden mit der Tatsache sind, daß sie ausgetragen wurden.

Wenn ein Staat mit seiner Rechtsgewalt darauf dringt, daß einmal zustandegekommene Begegnungen von Sperma und Ei zum Kindersegen führen, besteht er auf eigentümlichen Auffassungen über seine BürgerInnen und ihr Geschlechtsleben – und zwar praktisch:

  • Er zollt dem Willen von geschlechtsreifen Personen, die sich miteinander hingelegt haben, um ihren sexuellen Genuß aneinander zu haben, keinen Respekt. Im Fall des Falles behandelt er eine Laune der Natur wie eine Pflicht, die sich die Liebenden eingehandelt haben, auch wenn sie gar nicht zur Zeugung eines Kindes angetreten sind.
  • Im Fall des Falles hält das Gemeinwesen der modernsten Sorte also gar nichts von einer zivilisatorischen Errungenschaft, die nicht einmal der Kapitalismus verhindern konnte: Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, die bewußte und willentliche Verwandlung der triebhaften Aufmerksamkeit der Geschlechter füreinander in zwei Hälften – Genuß und Kinderwunsch.
  • Im Fall des Falles macht sich der gar nicht natürliche Souverän zum Anwalt der Folgen, die ein natürlicher Zufall dem innigen Treiben beschert. Er behandelt diesen Zufall wie ein Diktat der Natur, auch wenn die Natur auf diesem Feld wie auch sonstwo dank der medizinischen Kunst, die ein Handwerk ist, überhaupt nichts mehr zu diktieren hat. Und das Diktat ganz allein vom Gesetzgeber stammt. Die Frau, die sich auf eine schöne Stunde eingelassen hat, befördert der Staat nolens zur Mutter. Da hilft es dem inzwischen über Gebühr hofierten Geschlecht überhaupt nichts, daß es durch seinen Organismus durchaus zur freien Pflege seiner Sexualität befähigt ist; gewöhnlich fallen geschlechtliche Erregung und Begattungsbereitschaft nicht in einer unwiderstehlichen Brunst zusammen. Aber der aufgeklärteste Souverän aller Zeiten bringt da wieder alles ins Lot. Für den Fall des Falles macht er die gute Frau haftbar – und buchstabiert ihr strafrechtlich den Sinn weiblicher Geschlechtsreife vor.

2.

Diese kleine Zumutung ist auch in Zeiten, wo sich Verhütungsindustrie, Bildzeitungsorgien und Feminismus in einem bescheuerten Kult der freien Liebe ergehen, erfolgreich zu verkaufen. Mit einem Argument, das die Angelegenheit aus den Niederungen des Geschlechtlichen und Kinderkriegens in die lichten Höhen des staatlichen Alleinvertretungsanspruchs verlegt. Die Definition des Fötus als menschliches Leben und der Staatsgewalt als dessen Schutzmacht tut den Dienst, auf den es ankommt. Nicht ankommen tut es dagegen auf den Wahrheitsgehalt der verwegenen Staatstheorie, die da zur Anwendung gelangt. Wenn die Vertreter der politischen Gewalt, die sich ansonsten bei der Adoption und Ernährung der Opfer ihrer weltweiten Beziehungen sehr zurückhalten und manchen Asylanten heim in den Tod schicken, beschließen, hier einmal energisch für das Leben geradezustehen, so gilt das. Und der Rücksichtslosigkeit gegenüber leibhaftigen, mit Wille und Bewußtsein daherkommenden Figuren entspricht die Ernennung des befruchteten Eies zum menschlichen Leben, das den vollen Respekt des Staats verdient. Dieser organische Teil des Frauenkörpers kriegt seine Würde, zu der er es mangels Entwicklung von Bewußtsein und Willen selber nicht bringt, von der öffentlichen Gewalt verpaßt. Und zwar gegen den Willen des Mädchens, das kein Kind haben will – und sich deswegen nun in der Gesellschaft von Verbrechern befindet, die der Güter höchstes schänden: Im StGB zwischen Mord und Völkermord. Abtreibungsgegner ihrerseits kommen in den Genuß der guten Gesellschaft von Kardinal Ratzinger und dem Papst, welcher dem Fötus immerhin schon eine Seele nachsagt, auch wenn die vorerst der Verdammnis geweiht ist. Gemeinsam können sie dann alle diejenigen des „Zynismus“ zeihen, die beim Stichwort „menschliches Leben“ an ein bißchen mehr denken als an die schiere Existenz von Organismen; und sich bei der Entscheidung bezüglich einer Schwangerschaft die Frage trauen, wie es denn um die Lebensmittel bestellt ist, wenn ein Kind da ist. Solcher Materialismus ist nämlich das Gegenteil des Dienstes, den Kirche wie Staat von Schwangeren verlangen, wenn sie sie im Namen des „Lebens“ aufs Austragen verpflichten.

3.

Wem wirklich damit gedient ist, wenn Schwangerschaften nicht unterbrochen werden, sondern Kinder herauskommen, ist eine heikle Frage. Zumindest für demokratische Politiker, die sich ja fürs „Leben“ stark machen, während der Papst dieser Abstraktion noch in äquatorialen Breiten, wo sie als solche millionenfach zu besichtigen ist, einen guten Grund ablauscht: Gottgefällig sind die qualvoll verreckenden extrauterinen Opfer der Weltwirtschaft allemal. Dagegen hüten sich die weltlichen Schutzherren des hohen Gutes, das ohne Qualität nichts wert ist, aber zum höchsten Wert befördert wird, vor der Auskunft, Kinder seien nicht nur Gottes-, sondern zuerst einmal Staatsdienst. Feinfühlig melden sie nicht ihr, sondern das „Recht auf Leben“ an, wo diejenigen, die für die Schaffung und den Unterhalt von Nachwuchs zuständig sind, kein Interesse daran haben. Der rohe Materialismus der Nation, der den staatsangehörigen Nachwuchs als quasi gottgegebene Geschäftsgrundlage behandelt, wird in die bevölkerungs- und familienpolitische Diskussion verbannt, die ihre eigenen Konjunkturen hat. An die Stelle statistischer und anonym adressierter Forderungen, denen „die“ tendenziell immer kleiner dimensionierte deutsche Familie nachkommen soll, tritt die dem Individuum gewidmete Fürsorge des Strafrechts. Wenigstens dann, wenn die geschlechtliche Liebschaft zu einem biologischen Resultat geführt hat, läßt sich auch ein Rechtstatbestand herstellen, aus dem der Staat einen fälligen Dienst ableiten kann. Ansonsten ist er nämlich auf die Moral der beischlafenden Bürger angewiesen, auf die Einstellung zum Kind, die mündige Volksgenossen so an den Tag legen.

4.

Notwendig in dem Sinn ist der § 218 nicht. Der Staat, auch der bundesrepublikanische, leidet keine Not an zeugungswilligen Untertanen beiderlei Geschlechts. Die guten Leute vögeln nicht nur gerne, sondern wollen – Ozonloch hin, Arbeitslose, Armut und Krieg her – als gute, an Hegel geschulte Deutsche auch ein handfestes Produkt ihrer Liebe sehen, dem sie sich dann ein Leben lang widmen können, wenn die Liebe unter ihnen auch nachläßt. Daß die Zuwendung zum Kind auch ordentlich erfolgt, ist – was für ein Zufall – schon wieder eine Angelegenheit der öffentlichen Gewalt. Im Institut der Familie sorgt die politische Macht, der liebe Gesetzgeber dafür, daß im Verhältnis der Geschlechter und in Kinderfragen nichts privat bleibt. Zwar nimmt das bürgerliche Recht „der Familie“, die es ebenfalls zu seinen Schutzobjekten zählt, nichts von den Lasten ab, die sich Eheleute untereinander und gegenüber dem Nachwuchs per Staatsvertrag zur Pflicht machen. Aber daß und wie diese Lasten zu tragen sind, ist der Obrigkeit schon ein paar Vorschriften und etwas Aufsicht wert. Vertraut mit den Fährnissen der Konkurrenz in seiner freien Marktwirtschaft, in der „das Leben“ nachhaltiger vom Dienst am Geld bestimmt wird als von der Liebe und ihren guten Vorsätzen; eingedenk der unausweichlichen Konflikte und Beschränkungen, die manchem die Fähigkeit und die Bereitschaft zur opferfreudigen Fürsorge nehmen, paßt der Staat auf, daß er nicht zu kurz kommt. Gute Bürger sind solche, die auf ihre Brauchbarkeit und die ihres Nachwuchses achten, an Verzicht und Lasten nicht irre werden – und dafür bietet das Recht die nötige Hilfe. Es läßt jeden erfahren, was er muß und nicht darf.

Notwendig ist der § 218 in diesem Sinne. Nämlich für fanatische, leidenschaftliche Gesetzgeber – professionelle wie Amateure –, die der staatlichen Ordnung und Kontrolle der ach so intimen Sphäre des Geschlechtlichen und der Fortpflanzung enorm viel abgewinnen. Diese Menschen sehen in der Verrechtlichung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern und seiner Folgen einen einzigen Segen. Der vom Staat dekretierte Materialismus, sein Interesse daran, daß in der sogenannten Privatsphäre lauter Aufgaben und Kontrakte erfüllt werden, gegen alle Widrigkeiten von Markt und Konkurrenz, auch und gerade den Bedürfnissen der Individuen zum Trotz, hat es ihnen angetan. Er erscheint ihnen als eine unverzichtbare Lebensbedingung, als Hilfe und Quelle des Idealismus, den sie auf seiten der verrechteten Liebes-, Braut- und Ehepaare schätzen. So und nicht anders kommt das Pflichtbewußtsein zu seinem Recht, das in bezug aufs Kindermachen und -kriegen herrschen soll.

Vor diesem Standpunkt ist eine Schwangerschaftsunterbrechung eine unzulässige Kapitulation des Staates – in einer Sphäre, wo seine Gewalt nichts geringeres als Sitte und Anstand zu stiften hat.

5.

Wenn in der Bundestagsdebatte so denkwürdige Sätze fallen wie die folgenden –

„Tötung von Leben ist ein Unrecht, ein strafbares Delikt. Diese Aussage ist wichtig für unser Unrechtsbewußtsein, unsere Ehrfurcht vor dem Leben und den Umgang mit ihm.“ (R. Süssmuth) „Strafrecht schafft Rechtsbewußtsein.“ (I. Karwatzki)

dann bricht sich nicht die Wahrheit über das Verhältnis von Gewalt, Recht und Moral Bahn. Hier will niemand die Moral „ableiten“, Sitte und Anstand als die Leistung des freien Willens erklären, durch die er sich seine Unterwerfung unter die Herrschaft zurechtlegt und seinen Gehorsam als die Befolgung von höheren Prinzipien praktiziert. Hier wird für den menschlichen Knigge Partei ergriffen, als würde er tatsächlich einem Bedürfnis nach menschlicher Rechtschaffenheit entspringen – „tue recht und nichts Böses!“ –, dem dann die Staatsgewalt den rechtlichen Rahmen bereitstellt. Die Kriminalisierung der Abtreibung gerät zur Dienstleistung des Staates, mit der er den Erfordernissen einer unabhängig von seiner Herrschaft gebotenen Moral nachkommt. Allen Ernstes wird von ausgetragenen und ausgewachsenen Politikern deswegen das Strafrecht als Geburtshelfer des Gewissens gefeiert. Und eine Diskussion darüber veranstaltet, wie viel Anwendung von strafender Gewalt es braucht, um die Moral von schwanger gewordenen Frauen auf Kurs zu halten und zu bringen.

Auf diesen Unsinn sind denn auch die BefürworterInnen einer Liberalisierung des § 218 positiv eingegangen.

6.

Zu mehr als einem Lob des Gewissens, das alle Trägerinnen eines befruchteten Eies auszeichnen soll, ist es deswegen auch nicht gekommen, als den Scharfmachern die Unzweckmäßigkeit ihres Anliegens dargetan werden sollte. Das Lob des Dienstes, zu dem sich Frauen anschicken, wenn sie gebären und hinterher ein bißchen „erziehen“, wurde gleich hinterhergeschoben. Wie schon in allen alten Indikationsdebatten schämten sich die Freunde weiblichen Opfersinns nicht, den Fanatikern des strafrechtlich veranlaßten Austragens eines immer wieder vorzurechnen: Daß es in ihrem eigenen Interesse sei, wenn sich der staatlich erwünschte Nachwuchs auch wirklich einem Herzensanliegen gewissenhafter Mütter verdankt, weil nur die in der Lage sind, die staatlich geforderte Leistung zu bringen und die Lasten freudig auf sich zu nehmen. Daß in unserer Gesellschaft, der freien, Kinder eine Last sind und bleiben, war als Konsens zwischen den Lagern geeignet, zwischenzeitlich Harmonie hervorzurufen. Die wurde dann wieder durch die süßen Vergleiche zwischen Auschwitz und einer Abtreibungsklinik gekündigt, allerdings ohne passende Reaktion der anderen Seite. Aber was soll man von in die Politik gegangenen Humanisten auch anderes erwarten. Nur zu gerne verbohren sie sich in den angeblichen Gegensatz von Gewalt auf der einen Seite und Gewissen auf der anderen. Auch die „Liberalen“ haben eben viel übrig für ein gelungenes Zusammenspiel von Politik, deren Zumutungen an „die Menschen“ und letzteren in der Gestalt von BürgerInnen, die wissen, was sie, nach gewissenhafter Prüfung aller Umstände, ihrem Gesetzgeber schuldig sind. Der, wenn sein Haushalt es zuläßt, gar nicht kostenlose Kindergärten einrichtet. Die Nation kann zufrieden sein. Ihr Parlament hat sich in zwei Lager gespalten, die sich zu einem flammenden Bekenntnis – „Ja zum Kind!“ – zusammengeschlossen haben. Darüber haben sie den Anlaß ihrer Sternstunde glatt vergessen gemacht. Manche Frauen wollen kein Kind, und die Politik will, daß sie eines kriegen!