Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Papst in Mexiko: Der Global Prayer schwimmt gegen den Zeitgeist

Der Papst fährt nach Mexiko und übt dort Kapitalismuskritik. Den entdeckt er zwar nicht in der Ausbeutung, sondern in der materialistischen Einstellung der Menschen – womit United Fruits und mexikanische Flüchtlinge gleichermaßen abgestraft werden. Doch allein diese Form der Kritik ist nach Auffassung der Reiseberichterstatter nicht mehr zeitgemäß und fällt deshalb unter Amtsmissbrauch.

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Der Papst in Mexiko:
Der Global Prayer schwimmt gegen den Zeitgeist

Der Papst veranstaltet eine Open-air-Predigt – nicht zum ersten Mal vor Hunderttausenden, nicht zum ersten Mal in Mexiko, aber zum ersten Mal fällt er unangenehm auf. Selbst ansonsten eher geneigte Reiseberichterstatter meinen, das passe nun überhaupt nicht in die Zeit, was der katholische Oberhirte da verkündet habe. Dabei sind es diesmal gar nicht seine unter aufgeklärten Zeitgenossen als mittelalterlich verpönten Vorstellungen über Verhütung, Abtreibung und Priestersex, mit denen der Papst sonst schon mal in Mißkredit gerät. In Mittelamerika 1999 ist es eine sozialkritische Parteinahme für Tagelöhner, Indios und Slumbewohner, die mit Befremden registriert wird:

Nie wieder Ausbeutung der Schwachen, Rassendiskriminierung oder Ghettos für die Armen (Radio Vatikan, 24.1.99), ruft der Papst den darbenden und betenden Volksscharen zu – und geht damit nach Ansicht des weltlichen Zeitgeistes entschieden zu weit. Wer hat sich denn nun geändert: Der Papst oder der Zeitgeist?

Der Papst

ist sich eigentlich ziemlich treu geblieben. Kaum den Boden geküßt, von dessen Früchten die Massen dort bekanntlich nicht viel zu sehen bekommen, hält er eine Rede, deren Textbausteine er bequem dem Manuskript seines ersten Besuches von vor 20 Jahren entnehmen konnte.

Er kommt in ein Land, in dem Hunger, Vertreibung und Unterdrückung Alltag sind, und äußert Mitleid mit den Betroffenen. Das tut gut. Er sagt dann aber auch, daß er zu ihnen als Betroffenen spricht. Denn ändern läßt sich an den elenden Verhältnissen nichts. Nicht, weil der Papst das schon ausprobiert hätte und dann an höheren Mächten gescheitert wäre; nein, es gebührt uns Sündern einfach nicht, an den Lauf der Welt Hand anzulegen. Er will damit nicht sagen, daß die Armen an ihrer Lage selber schuld wären; nein, die Sünde ist ein Erbe, das wir Menschen nicht ausschlagen können, weshalb sie auch in allen Landessprachen Erbsünde heißt. Doch müssen die Paupers in den Wellblechhütten von Mexico-City und die Rebellen in Chiapas nicht verzagen. Der Papst beweihräuchert sie als die Mühseligen und Beladenen und hat seinen Schäfchen für ihren beschwerlichen Weg zwei Dinge mitgebracht, die das Leben in einer Submetropole des Kapitalismus zwar nicht weniger strapaziös, aber menschenwürdiger machen sollen: Wenn die südlichen Kinder Gottes die ihrer Sündernatur angemessene Demut aufbringen – Glaube ist in der kleinsten Hütte! –, winkt Erlösung. Gerade die, die für die Erzeugung des kapitalistischen Reichtums weitgehend überflüssig bis störend, in dieser Welt also buchstäblich das Letzte sind, werden in der nächsten und am Tisch des Herrn ganz oben an zu sitzen kommen. Doch nicht nur das: Kraft ihrer Demut verdienen sie sich die Fürbitte von Gottes Stellvertreter auf Erden, im Diesseits nicht über Gebühr ausgebeutet und schikaniert zu werden. Gläubig ertragen sollen sie ihre Armut und ihre Staatsgewalt; eben deshalb will das Christentum aber auch eine Grenze des Erträglichen kennen, jenseits derer der unerschütterlichste Glaube ins Wanken kommen müsse, ob Gott so viel Entbehrung wirklich gewollt haben kann. Grobe Ausbeutung, Rassenhaß und Elendsquartiere sind dem Papst darum kein Wohlgefallen: Ein gewisser Proviant für den beschwerlichen Weg und ein wenig Schonung beim Drangsalieren sollten schon sein. Womit auch klar ist, an wen die bescheidenen Wünsche des Papstes adressiert sind: an die Veranstalter von Ausbeutung und Unterjochung ist der Aufruf gerichtet, ihre Knechte zu füttern, damit die ihren Glauben nicht verlieren: den Glauben an die Gottgewolltheit ihres Schicksals, das ihnen nebst VW Mexico, Feldarbeit und Massenelend auch eine irdische Herrschaft beschert, die selbiges beschützt. An der Gottgewolltheit dieser Macht gibt es nichts zu rütteln; eben deshalb aber warnt der Papst ihre Inhaber: Treibt es bei der Verfolgung Eurer fraglos geltenden Prinzipien von Geschäft und Gewalt nicht zu weit! Die Herren dieser Welt ereilt die apostolische Mahnung, sich an ihren Schutzbefohlenen nicht zu versündigen: Machtmißbrauch und soziale Ungerechtigkeit beim Regieren mißbilligt der Papst – und macht damit einen wirklich guten Witz. Die Aufforderung an die Politik, sich beim Verelenden und Zuschlagen gefälligst zurückzuhalten, erweist in erster Linie den Herrschenden selber einen Gefallen: Wer sie zur Rücksichtnahme ermahnt, unterstreicht und überhöht deren – eigentlichen – sittlichen Auftrag; die Nutznießer und Führer des Gemeinwesens sollen ihren minderbemittelten Brüdern und Schwestern in Christo die Tugend gottesfürchtigen Erduldens nicht vermiesen. Gegen all die notwendigen Dienste, die andere als der Papst dem Christenvolk vorbuchstabieren, soll damit nichts gesagt sein; aber weniger Pomp und materielle Hoffart, dafür eine gerechtere Verteilung des Reichtums stünde den Mächten, denen er ins Gewissen redet, schon gut zu Gesicht. Sonst kann der Papst der Herrschaft über die Mühseligen und Beladenen seinen vollen Segen nicht erteilen. Wenigstens moralisch einwandfrei sollte sie sein.

Die christliche Schelte für Profit und Marktwirtschaft gilt also nicht der Ausbeutung im materiellen Sinn, sondern ist spiritueller Natur. Die Verabsolutierung des Kapitalismus, die Johannes Paul auch in Mexiko anprangert, wird einer menschlichen Einstellung zur Last gelegt, die der Papst weder bei den Herrschenden noch bei ihren Untertanen leiden kann: Ultramaterialismus. Wenn er die üblen Folgen der Globalisierung, Umweltzerstörung und Schuldenlast als zum Himmel schreiende soziale Sünden geißelt, schlägt er zwei Fliegen mit einer Predigt: Er redet über Folgen einer Welt, die nach den Gesetzen der Geldvermehrung und des Kredits funktioniert, meint aber die unerträgliche Gier ihrer Teilnehmer – bei denen er in dieser alles entscheidenden Hinsicht keinen Unterschied zwischen Veranstaltern und Opfern sehen will. Verdammenswürdigen Dienst am Herren Mammon entdeckt die christliche Lehre des Antimaterialismus in den Ausbeutungspraktiken der United Fruit Company genauso wie bei den mexikanischen Flüchtlingen, die auf der Jagd nach dem Dollar ihr Leben riskieren. – Höchste Zeit, daß ihnen mal wieder einer die Leviten liest.

Die Lage,

in der er sein Hirtenwort aufsagt, ist allerdings nicht mehr dieselbe wie vor 20 Jahren. Kaum den Boden geküßt, auf dem es damals noch viel Widerstand gegen Ausbeutung und Gewalt gab, wurde dem frischgekrönten Reisepapst aus Polen seinerzeit die Frage gestellt, wem er wohl die Leviten lesen werde: den linken Guerilleros, den sie unterstützenden katholischen Bischöfen, die einer „Theologie der Befreiung“ anhingen, oder den lokalen Machthabern, die den Kontinent im Interesse der Freien Welt vor Sowjetkommunismus und Gottlosigkeit bewachten? Karol Wojtyla beantwortete die Frage salomonisch und keilte versöhnlich nach allen Seiten: Dem bewaffneten Widerstand erklärte er, daß Lateinamerikas Erdenwürmer zwar beschissen dran sind, den Verursachern ihres Elends aber lieber die andere Backe hinhalten sollen als sich aufzulehnen; die Kirchenmänner, die die Grenze menschlicher „Leidensfähigkeit“ überschritten sahen und Gegenwehr der „Verdammten dieser Erde“ mit der Bibel rechtfertigten, wurden exkommuniziert; an die Regenten erging die Mahnung, es dem verarmten und geknechteten Volk nicht gar zu schwer zu machen, das Gewehr abzugeben und sich in christlicher Demut zu üben. Und die ganze westliche Welt war sich einig: Gut gebrüllt, Papst.

Heute ist die Sachlage in dergleichen Hinterhöfen des Imperialismus übersichtlicher. Die revolutionären Umtriebe sind erledigt; dem ketzerischen Zwischenspiel der Befreiungstheologen, die Religion mit Marxismus verwechselten, ist ein Ende gesetzt; um die zapatistische Befreiungsbewegung kümmert sich das Militär, die Bewohner der Armenviertel hungern und stehlen still vor sich hin: Jetzt, wo es keinen Aufruhr mehr gibt, kann der Papst seine Appelle zur Mäßigung gut und gerne auf die herrschenden Sachwalter von Ausbeutung, Diskriminierung und Ghettos konzentrieren. Der eine Teil der Rede konnte ersatzlos entfallen, im anderen Teil hat er die Standardpredigt gehalten – die westliche Presse aber schreit: Schlecht gemacht, Papst.

Der Zeitgeist

ist sich nämlich auch sehr treu geblieben – und wird deshalb so biestig. Weil das christliche Weltgewissen in dieser anderen Lage, die der säkulare Zeitgeist in Zeitung, Funk und Fernsehen schwer begrüßt, stur dasselbe sagt, ist die freie Öffentlichkeit böse mit dem Papst – weiß er denn nicht, daß er mit seinen Worten den Eindruck erweckt, daß doch wieder Systemkritik angesagt sei?!

„Predigt da ein unbelehrbarer Alt-68er zu den Menschen? Sind das nicht verstaubte linke Theorien-Parolen, von denen keiner mehr etwas wissen will?“ (SZ, 27.1.99)

Woran leidet der Mann? Bestimmt nicht an der Welt, die ist ja in Ordnung. Ergo an sich: Arterienverkalkung, Altersschwachsinn, späte Nörgelsucht? Hat dem Papst keiner gesagt, daß Sozialkritik out ist? Weiß er nicht, daß linke Parolen kein Gehör mehr finden, dadurch endgültig widerlegt und zu Recht erfolglos sind? Besitzt der Oberhirte nicht genügend political correctness, um fehlerfrei ‚Marktwirtschaft‘ statt ‚Kapitalismus‘ zu sagen, ‚Erwerbsarbeit‘ statt ‚Ausbeutung‘, ‚Vorstadt‘ statt ‚Ghetto‘? Geistig unverstaubte Vertreter des einzig verbliebenen Systems, das in ist, sich weltweit Gehör verschafft, dadurch endgültig unkritisierbar und zu Recht erfolgreich ist, blamieren den Papst an ihrer Überzeugung, daß der Kapitalismus alternativlos super ist und seine intellektuellen Handlungsreisenden endlich aufhören sollten, das sowieso unvermeidliche Elend in ihren Gebeten und Talkshows wie einen Schandfleck der freien Marktwirtschaft zu behandeln.

Der Zeitgeist bekennt sich zu seiner berechnenden Gedankenführung: Damals mag das Herumreiten auf dem Widerspruch von Ausbeutung und christlicher Nächstenliebe noch nötig gewesen sein, aber heute? Heute, wo die Aufständischen stillgestellt sind: Sieht da einer noch Ausbeutung und Gewalt? Wozu dann noch die Heuchelei rücksichtsvoller Selbstbeschränkung der Herrschaft, die die Oberen ihren Knechten schuldig wären, damit sie, außer beim Beten, die Schnauze halten? Man kann die Not in Mexiko und anderswo ja betränen, aber bitte so, daß es garantiert keiner mit einem Einwand gegen das System verwechseln kann, das sie hervorbringt. So gerät der Papst mit seiner verstaubten Wortwahl in Verdacht, unter seiner Kutte den Muff von 31 Jahren zu verbergen und Widerstandsparolen wiederaufzurühren, die jeder FAZ-Schreiber froh ist, von hinten gesehen zu haben:

„Seit einem Jahrzehnt nimmt er in einem Crescendo der Kritik eine Ideologie ins Visier, die der Kirche zur herrschenden Lehre der Zeit zu werden droht, den Kapitalismus, nicht als Wirtschaftsform, sondern als Weltanschauung. In Mexiko wurden in den Reden des Papstes viele Stichwörter für diese Frontstellung gegen den Kapitalismus als Ideologie geliefert. Mehr noch nicht. Aber das reicht, um zunächst die Gläubigen auf den Feind zu konzentrieren, gemäß dem alten biblischen Verdikt über den Götzendienst vor dem Goldenen Kalb.“ (FAZ, 28.1.99)

Es ist die pure antikritische Zufriedenheit mit einer Lage, in der jede Kritik am Kapitalismus als Wirtschaftsform ausgestorben ist, die an der Kritik des Kapitalismus als Weltanschauung die feine Botschaft kaum mehr heraushören will. Weil der Papst seine Standpauke in Sachen Goldenes Kalb, das des Menschen Höchstes nicht zu sein hat, an Unten und Oben richtet, vermißt die FAZ glatt die rechte Sinnstiftung und wittert die Auferstehung polizeiwidriger Systemkritik. Also warnt sie, der Papst solle seine Position als anerkanntes Moralinstitut nicht überziehen: Den Herrschenden ins Handwerk zu quatschen, fällt unter vermessenen Amtsmißbrauch.

Daß er am Ende doch noch auf sein Lieblingsthema kommt, hilft ihm da auch nichts mehr. Die Verstocktheit, mit der er Pille und Abtreibung als Todsünden geißelt, rückt seine Kritik der Marktwirtschaft endgültig ins selbe Licht: Verbohrt wie in allen Lebensfragen, beschädigt der Papst den heiligen Ruf des Kapitalismus. Gegenüber der Toleranz, die der freiheitliche Zeitgeist dieser rundum gelungenen Welt entgegenbringt, ist die mahnende Zeigefingerdogmatik eines „Alt-68er“-Kirchenfürsten total von gestern.

Versöhnung

zwischen Zeitgeist und Papst ist damit durchaus in Sicht. Der Mann muß sich nur daran erinnern, wohin einsame Rufer laut Altem Testament gehören: In die Wüste. Dort, sprich: neben und über dem alltäglichen Betrieb, soll er seine Gewissenswut austoben – sich aber nicht anmaßen, der Herrschaft ins Gewissen zu reden. Er soll sich freuen (der lästigen Konkurrenz linker Weltanschauungen nunmehr ledig), Monopolist auf den Jammer im Jammertal zu sein – aber nicht so tun, als wären Hungersnöte und Flüchtlingsströme irgendwie ein Skandal. Der Papst soll einfach bei seiner Rolle als Auskunftsbüro reiner Moral bleiben und eine Runde Trost spendieren. Dann ist das Elend da, wo es hingehört: mitten in dieser Welt – und der Papst auch: oben auf der Kanzel. Wenn die Elenden dem „78-jährigen Polen“ dann noch einen Massenauftrieb bescheren, den „keine Rockband der Welt“ hinkriegt, dann sind Unterbau und Überbau endgültig im Lot: Die Heilung des Elends findet im Jenseits statt, dessen ideelle Linderung im Diesseits.