Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Das hat dem politischen Ethos Reformrepublik noch gefehlt:
Volksverarmung auch noch im Dienst an der „Bewältigung der NS-Vergangenheit“!
Im Unterschied zu seinen Kollegen wartet Götz Aly im Gestus des ganz der Wahrheit verpflichteten Tabubrechers mit einer spektakulären Reaktivierung der Kollektivschuldthese auf: Materielle Bestechung seitens des Regimes und die Bestechlichkeit seitens des Volkes präsentiert er als den Kitt, der das „Spannungsverhältnis zwischen Volk und Führung“ bis zum bitteren Ende funktional gemacht hat.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Das hat dem politischen Ethos
Reformrepublik noch gefehlt:
Volksverarmung auch noch im Dienst an
der „Bewältigung der NS-Vergangenheit“!
Geschichte, heißt es, ist das, was als Ergebnis ihrer
Deutung herauskommt, muss also immer wieder neu
geschrieben werden. Und, auch daraus macht die Kunst der
Geschichtsdeutung kein Hehl, jede Neuinterpretation der
Vergangenheit erfolgt nach Maßgabe des Zeitgeists, in
welchem ihr Autor beheimatet ist: Das macht
Geschichtsbilder – ausgerechnet – stets ‚aktuell‘ und
damit auch enorm brauchbar als geistige
‚Orientierungshilfe‘ der Zeitgenossen. Auch Götz Alys
neue Hitler-Interpretation (Hitlers
Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler
Sozialismus, Frankfurt/Main 2005) bereitet derart
die Historie zur moralischen Botschaft für heute auf: Von
dem sehr klassenbewussten Reformgeist
Schröder-Deutschlands lässt sich der unbequeme
Denker
(Die Welt) zu
neuen Fragestellungen und kühnen Thesen
(Der Spiegel) inspirieren,
auf dass Hitlers nationaler Sozialismus
(38), aber auch der heutige
Sozialstaat, in einem völlig neuen Licht erscheinen
können, und siehe da: Das provokante Buch
(Die Zeit) schafft es gleich
am Erscheinungstag in die ‚Tagesthemen‘ und alsbald in
die Bestsellerlisten. Fragt sich nur noch, welches
Bedürfnis nach frischem historischen Sinn da so
erfolgreich befriedigt wird.
Aly will die alte Frage: Wie konnte das geschehen?
(35) ein weiteres Mal neu
beantworten. Grundlage seines neuen Forschens ist somit
auch für ihn die sehr grundsätzliche Antwort, die diese
Frage bereits enthält: Der wuchtige Auftritt des Dritten
Reiches in der deutschen Geschichte ist eigentlich
‚unvorstellbar‘; wenn alles mit rechten Dingen zugegangen
wäre im Staat, hätte es so ein Verbrechen ‚im Namen
Deutschlands‘ nie geben können. Die Grundfrage aller
Faschismusforschung lautet also des Näheren, wie es
trotzdem zu der allbekannten
weltkriegstauglichen Einheit von Volk und Staat kommen
konnte, und diesem tiefen moralischen Rätsel, wie das an
sich Unmögliche dennoch möglich war, stellt sich auch
dieser Forscher: Dass das Herrschaftsgebäude Hitlers
vom ersten Tag an höchst labil gefügt war, ist bewiesen.
Zu fragen ist, wie es stabilisiert wurde.
(35) Von daher begibt sich
auch er auf die Suche nach Methoden der
erfolgreichen Motivierung des Volkes durch seine Führung
und nach den nach Motiven des Volkes für sein
erfolgreiches Mitmachen, so dass er aus dem Konsens der
bürgerlichen Faschismusforschung garantiert nicht
ausschert: Dass Volk und Führung sich in der
politischen Sache vereint haben könnten, das
Programm ‚Deutschland über Alles!‘ mit all seinen
Unterabteilungen womöglich deshalb bei den Massen
verfangen hat, weil es sie in ihrem
Nationalismus ansprach – das schließt die Frage
nach den geheimen Beweggründen fürs Mitmachen ja
grundsätzlich aus. Im Unterschied aber zu seinen
Kollegen, die das doch so einfache Zusammenspiel von
entschlossener nationaler Führung und gesunder
patriotischer Gesinnung der Geführten mit den
Zauberkräften von Manipulation, Verführung und Terror
verrätseln, wartet Aly – im Gestus des ganz der Wahrheit
verpflichteten Tabubrechers – mit einer spektakulären
Reaktivierung der Kollektivschuldthese auf: Materielle
Bestechung seitens des Regimes und die Bestechlichkeit
seitens des Volkes präsentiert er als den Kitt,
der das Spannungsverhältnis zwischen Volk und
Führung
(35) bis zum
bitteren Ende funktional gemacht hat.
Das Dritte Reich – ein „Fürsorgestaat“
Zum Beleg dieser späten Neuentdeckung präsentiert Aly
zunächst eine für den Beweiszweck sorgfältig sortierte
Faktenlage: Er interpretiert Hitler und sein Gefolge als
klassische Stimmungspolitiker
, die sich fast
stündlich fragten, wie sie die allgemeine Zufriedenheit
sicherstellen und verbessern konnten.
(36). Fakten- und fußnotenschwer erfährt
man, wie die nationalsozialistische Politik der
volksnahen Wohltaten
(36)
ein wahres Füllhorn sozialpolitischer Gaben über die
Durchschnittsarier ausgoss: Familienlastenausgleich,
Ehestandsdarlehen, Kindergeld, Erhöhung des steuerfreien
Grundbetrags usw. belegen die Fürsorglichkeit des
Regimes
(38), sogar der
Stand der Gerichtsvollzieher musste sich ein soziales
Empfinden
(21) zulegen.
Gleichzeitig sorgte die braune Politik der sozialen
Gerechtigkeit
(37) für
mehr Chancengleichheit und für eine höhere
Aufstiegsmobilität, verordnete Sonn-, Feiertags- und
Nachtarbeitszuschläge sowie eine Verdoppelung der
Urlaubstage mitsamt tariflichem Urlaubsgeld. Insbesondere
bei der Finanzierung ihres Krieges achteten die Nazis
peinlich genau darauf, dass die ohnehin schon knappen
Kassen der lohnabhängigen Volksgenossen nicht auch noch
mit zusätzlichen Steuern behelligt wurden. Nun haben die
Nationalen Sozialisten überhaupt nicht verhehlt,
weswegen sie sich allein zu diesen
‚sozialstaatlichen‘ Großzügigkeiten haben hinreißen
lassen, nämlich zur Herstellung und Pflege einer
‚gesunden‘ und damit leistungs- und schlagkräftigen
nationalen ‚Volksgemeinschaft‘. Aber da glaubt der
moderne Theoretiker den einschlägigen Quellen kein Wort –
für ihn sind sie ein einziger, monströs dimensionierter
Bestechungsversuch der braunen Gangster: Mit einem
sozial- wie rassenimperialistisch gespeisten und
kriegssozialistisch versüßten Wohlleben
(326) erkauften
sich die Nazis
den öffentlichen Zuspruch oder wenigstens die
Gleichgültigkeit jeden Tag neu
(36) – andernfalls, so darf man vermuten,
hätten die Deutschen an der Front und die KZ-Wächter im
Hinterland wohl von einem Tag auf den anderen einen
Aufstand vom Zaun gebrochen. Die gängigen
Entschuldigungstheorien der Deutschen vom
allgegenwärtigen Befehlsnotstand, der das an sich gute
Volk zum Bösen zwang, oder von einer demagogischen
Genialität des Führers, der es dazu verführte, bereichert
der originelle Denker um so eine Variante, die bei aller
politischen ‚Unschuld‘, in der sich die
Deutschen nach wie vor sonnen dürfen, ihnen doch eine
gewisse moralische Mitschuld am braunen
Verhängnis anzuhängen gestattet: Durch die bereitwillige
und eigensüchtige Annahme sozialpolitischer ‚Vorteile‘
und der damit verbundenen Akzeptanz des Unrechtsregimes
hätten sie sich schuldig gemacht. Verwerflicher
Materialismus wäre es gewesen, der die Deutschen zu
willfährigen Helfershelfern der Schandtaten ihrer
Regierung gemacht hätte – eine Interpretation der
faschistischen Einheit von Volk und Führung, die freilich
nur Auskunft darüber gibt, was der
freiheitlich-demokratischen Überzeugung des modernen
Historiographen nach in Zeiten, in denen eine Nation
zusammenzustehen hat, eigentlich fällig wäre:
Sachgerecht ist ein anständiger nationaler Aufbruch doch
nur durch eine geschlossene nationale Kraftanstrengung,
und das heißt allemal: durch eine bedarfsgerecht
gesteigerte Inanspruchnahme der Massen
hinzubekommen. Staatlicher Notstand – schon gleich im
Krieg – gebietet doch allemal Opfer im Volk, und
was muss der Historiker sehen? Verwöhnt hat
Hitler seine Massen, ihnen Geschenke spendiert!
Sie hat er von Kriegssteuern verschont, während die
Besserverdienenden und Vermögenden belastet und sogar die
exorbitanten Gewinne der Rüstungsindustrie abgeschöpft,
die Körperschaftssteuer erhöht und die Hausbesitzer zu
einer Sondersteuer vergattert wurden. Ein mündiges
Mitglied der heutigen Reform-Republik merkt da sofort: Da
steht ja alles auf dem Kopf!
Zur quellenmäßigen Stützung seiner Bestechungsthese wendet sich der Historiker den Zeugnissen der erfolgreich Bestochenen zu. Extensiv schlachtet er die landläufige Tour noch jeder nationalistischen Gesinnung aus, die das Wohl der Nation als absolute Voraussetzung des eigenen auffasst, deswegen auf eben dieses einerseits sehr prinzipiell zu verzichten bereit ist, sich andererseits aber auch noch im praktizierten Idealismus des Sich-Aufopferns für das Höhere der Nation die Perspektive wahrt, über deren Fortkommen auch das eigene zu befördern. Auf der Grundlage, dass ‚Mitmachen‘ bei allen Unternehmungen der nationalen Heimat sowieso eine kategorische Selbstverständlichkeit ist, sucht und findet noch jeder Staatsbürger seine Anhaltspunkte dafür, dass sich sein nationaler Idealismus auch materiell lohnt, und so lässt sich vom Historiker auch massenhaft zweckdienliches Quellenmaterial auftreiben, das die Zufriedenheit und Freude des arischen Untertanen über alle möglichen Maßnahmen seiner neuen Führung dokumentiert. All diesen Äußerungen glaubt der quellenkritische Historiker aufs Wort: Die Leute fühlten sich gut behandelt, also waren sie es auch. Zuhauf lässt er Zeitzeugen dieser Art zu Wort kommen – der junge Literat Heinrich Böll z. B. fragt auf Dienstfahrt an der Westfront zu Hause an, was er denn Nettes per Feldpostpäckchen schicken solle –, um aus diesen lächerlichen Zeugnissen des Selbstbetrugs ordinärer Patrioten den Grund für ihr ‚Mitmachen‘ bzw. für die Unterlassung ihres eigentlich zu erwartenden Widerstands zu drechseln. So kommt seine Beweisführung bzw. das Konstruktionsprinzip seines Geschichtsbildes denn auch über das ‚cui bono?‘ jeder einfältigen Kriminalstory nicht hinaus, welches hinter jedem nächstbesten Vorteil, der sich aus einem Verbrechen ergibt, gleich das Tatmotiv und dahinter den Schuldigen ausmacht.
Das Resultat dieser Art Forschung reichert das deutsche
Geschichtsbewusstsein allerdings mit wahrhaft
bahnbrechenden Enthüllungen an: Mit kleinen Geschenken
wurden die Deutschen in Krieg und Völkermord gelockt. Aus
der Heimatfront wird eine Ansammlung von Nutznießern
und Nutznießerchen
(361),
aus dem menschlichen Kanonenfutter wird eine Bande
bewaffneter Butterfahrer
(361). Das deutsche Volk, ein Heer von
verhätschelten Schnäppchenjägern, das sich bereitwillig
für den Endsieg verheizen ließ, solange es den nicht auch
noch aus der eigenen Tasche zu bezahlen hatte, fiskalisch
gerecht behandelt wurde und gelegentlich einen
französischen Haushalt ausrauben durfte. Die Billigung
von Weltkrieg und Völkermord hält der Mann für
erschöpfend dadurch ‚motiviert‘, dass Kriegerwitwen
Spielsachen für die Kleinen und ausgebombte Rentner
Secondhand-Klamotten abbekommen – kein Papst und auch
kein Faschist könnte den Abgrund drastischer auspinseln,
den die Infektion eines an sich gesunden Volkskörpers mit
dem Bazillus des ‚Materialismus‘ für diesen
demokratischen Wissenschaftler begründet!
Krieg und Rassenkrieg – eine Gegenfinanzierung der ‚sozialpolitischen Wohltaten‘
Wenn die braunen Populisten ihr sozialpolitisches
Appeasement
(360) nur als
Funktion ihres Machterhalts betrieben, was wollten sie
dann eigentlich? Die Antwort liegt auf der Hand: Bloß
ihre eigene Macht! Ein einziger Verrat am Staatszweck,
und ein einziger Skandal für den Staatshaushalt
obendrein, denn Hitlers systematische Bestechung
mittels sozialer Wohltaten
(333) stellt nach Alys sachkundiger
Beurteilung eine enorme Verschwendung dar. Und die rächt
sich natürlich, weil sie natürlich, wie man heute weiß,
‚gegenfinanziert‘ werden muss. Die kleinen Geschenke der
Gefälligkeitsdiktatur
(36) zur Erhaltung der guten Stimmung im
Volk erklärt Aly zum Kern von Hitlers Verbrechen, weil er
darin den systemnotwendigen Grund für die Erschließung
unkonventioneller Finanzquellen, sprich: für den
staatlich organisierten Großraub
(346) erblickt: „Daraus ergab sich
der immanente Zwang (!) zu Krieg und Raub.“
(353) Der Beifall, den Aly
gerade auch von jüdischer Seite für seine moralische
Abrechnung mit dem Materialismus seiner Landsleute
bekommt, übersieht allerdings die Tücken, welche in einer
solchen Motivforschung mit ihrer Trennung von Vorsatz und
Tat liegen, denn obwohl sie auf nichts anderes als auf
eine Dämonisierung Hitlers und seine Stilisierung zum
Riesenunhold zielt, schließt sie eine nicht eben geringe
Verharmlosung des Völkermörders ein: Nicht
einmal er mit seiner ‚verbrecherischen Politik‘
wollte hiernach den Krieg oder die Ausrottung
der Juden, nein, er musste den von seinen
eigenen Versprechen geweckten Materialismus der Leute
mittels Raub und Mord bedienen, um sich an der Macht zu
halten. So kann man Alys Geschichte auch andersherum
lesen: Hitler ist bloß wegen seines Machtwillens
– und welcher Politiker verfügte nicht reichlich über
den! – und seiner damit verbundenen
populistisch-fürsorglichen Machenschaften in die
‚unvorstellbaren Verbrechen‘ hineingeschlittert: Die
Sorge um das Volkswohl der Deutschen bildete die
entscheidende Triebkraft für die Politik des
Terrorisierens, Versklavens und Ausrottens.
(345)
Es bedarf keiner geringen interpretatorischen Rohheit, um
zu diesem Urteil zu kommen. Gezielt ignoriert Aly die
Zweckbestimmung des nationalsozialistischen
‚Volkswohl‘-Programms, das unmissverständlich den Triumph
eines nationalen Kollektivs namens Deutschland über seine
inneren und äußern Feinde meinte und keinesfalls das –
damals als ‚egoistisch‘ und ‚volksfeindlich‘
gebrandmarkte – Wohlergehen des Individuums. Er stürzt
sich ganz auf die zweite Hälfte des Wortes ‚Volkswohl‘,
um aus ihr herauszulesen, dass da mit Sozialismus Ernst
gemacht, also mit viel Geld und Mitteln das ‚Wohl‘ der
breiten Massen befördert und damit das Regime beliebt
gemacht werden sollte, und so wird aus der
Brutalität eines ‚Volkswohls‘, welches in einem
‚ewigen Kampf ums Dasein‘ kriegerisch gegen
konkurrierende minderwertige Völker durchzusetzen ist,
eine einzige Wohltat für die Betroffenen.
Entsprechend apart gerät denn auch seine Interpretation
der faschistischen Ideologie von der Einheit von Volk und
Führer. In Alys Augen war das nämlich gar keine
Ideologie, sondern Realität: Da setzen die Nazis ihr bis
zur letzten Konsequenz ernst gemeintes Rassenprogramm in
die Tat um und verwerten die jüdischen
Hinterlassenschaften, plündern im Zuge ihrer
kriegerischen Wiederherstellung deutscher Größe die
eroberten Volkswirtschaften aus und lassen auch die
Landser bei Gelegenheit auf ihre privaten Kosten kommen,
und das alles nur, um einen Beitrag für die deutsche
Kriegswirtschaft abzuliefern. Wie schon bei den
bestochenen deutschen ‚Nutznießerchen‘ dreht der
Historiker die Sache ganz einfach um – und schon kommt
Sinn in den ‚Wahnsinn‘: Banale Beute wird zum
Zweck eines Krieges, der immerhin die Gewaltverhältnisse
in ganz Europa und der ganzen Welt auf den Kopf stellen
sollte. So mutiert der Krieg zum
konsequentesten Massenraubmord der modernen
Geschichte
(318), als
dessen Nutznießer der NS-Staat und seine
deutschen Herrenmenschen
(318) feststehen, ein Weltkrieg findet
statt, damit der Staat sich Brot und Spiele für sein Volk
leisten kann, und in den Grenznutzen-Kalkulationen der
aufs eigene Wohl und sonst nichts versessenen Massen
finden auch Gaskammern lässig Eingang…
Der heutige Sozialstaat – eine historische Hypothek der NS-Verbrechen
Der Beitrag solch sinnreichen historischen Schwachsinns
für den Moralhaushalt der Nation besteht in der Lehre,
die sich aus ihm für die Gegenwart ergibt. Aly will
drastisch vorführen, wie Populismus Staat und Volk ins
Verderben stürzt, die Begriffe populär und
verbrecherisch
(38) sind
für ihn synonym, weil sich gerade an ‚populistischen‘
Zuwendungen ‚bad governance‘ entlarvt. Der Begriff
‚Gefälligkeitsdiktatur‘ sagt da schon alles: Staatliche
Gefälligkeiten sind nicht nur vom Standpunkt des
öffentlichen Haushalts verantwortungslos, sie führen
sachzwangartig immer mehr ins Verderben und Verbrechen.
Der einzig wirklich zu befolgende Sachzwang ist daher
eine kompromisslos klassenbewusste Führung der
Regierungsgeschäfte. Eine verantwortungsbewusste
nationale Führung versteht sich bei Bedarf ihrem Volk
gegenüber auf die Ansage von ‚Blut, Schweiß und Tränen‘
und widmet im Übrigen ihre Fürsorge ganz den
Geschäftsbedingungen ihrer Unternehmer. Ein Gemeinwesen,
das sich marktwirtschaftlich bewähren will, verträgt
einfach keine Rücksicht auf das Wohlergehen seiner
Mitglieder. Die Konsequenzen des Kapitalismus für die
kleinen Leute mildern zu wollen, ist ein in den Abgrund
führender Idealismus. Umgekehrt: Wer seinem Volk Gutes
tun will, verdirbt es nur, auch das zeigt ein modern
interpretierter Nationalsozialismus. Das deutsche Volk
hat nicht, wie oft gemutmaßt wird, wegen eines verführten
Patriotismus ‚mitgemacht‘, sondern weil es viel zu wenig
von diesem hohen Wert zeigte bzw. weil ihm viel zu wenig
davon abverlangt wurde. So kommen nebenbei damalige
Maßstäbe der selbstlosen Opferbereitschaft für Volk und
Staat zu einer gewissen Ehrenrettung: Eine anständige
patriotische Gesinnung ist belastbar und bedarf zur
Verrichtung großer nationaler Taten keiner materiellen
Zuwendungen, umgekehrt ist ein nur mittels Bestechung bei
Laune zu haltendes Volk nur ein zu jeder Schandtat
bereiter Haufen.
Aly will mit solchen Weisheiten nicht nur die unpopuläre
Reformpolitik der jetzigen Führung Deutschlands ins
historische Recht setzen, er will auch das oberste Objekt
der Reformen, den Sozialstaat, ins historische Abseits
stellen. Es geht ihm um die Erkenntnis der historischen
Zusammenhänge, die den modernen Sozialstaat mit dem
‚dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte‘ verbindet.
Hitlers sozialistisches Bestechungssystem hat nämlich
nicht nur in der DDR bis unlängst eine Fortsetzung
gefunden, auch einige wesentliche Teile des heutigen,
inzwischen zur Belastung gewordenen
bundesrepublikanischen Sozialstaats wurden damals
eingeführt, verdanken sich also solchen dunklen
‚Motiven‘: Nationalsozialistische Sozialpolitiker
entwickelten die Konturen des seit 1957 in der BRD
selbstverständlichen Rentenkonzeptes, in dem alt und arm
nicht länger gleichbedeutend sein sollten.
(20) Was lernen wir daraus?
Klar: Lohnabhängigkeit darf eben nicht mit Wohlstand,
sondern nur mit Armut einhergehen. Es waren solche
Gesetze, die den nationalen Sozialismus populär machten
und in denen auch Konturen der späteren Bundesrepublik
Deutschland durchscheinen.
(22) Das wirft ein böses Licht auf den
Sozialstaat. Haben wir womöglich wegen Hitlers
Bestechungsmanöver jahrzehntelang über unsere
Verhältnisse gelebt, die Konkurrenzfähigkeit der Nation
heruntergewirtschaftet und müssen jetzt schmerzhafte
Einschnitte hinnehmen? Ja, verkündet Aly den verwöhnten,
besser: bis dato korrumpierten Deutschen, deren viel zu
hohes sozialstaatliches Anspruchsniveau ebenso zu den
unseligen Nachwirkungen Hitlers gehört wie ihr jammernder
Widerstand gegen die fälligen Korrekturen:
„Vom Kündigungs- über Mieter- bis zum Pfändungsschutz bezweckten Hunderte fein austarierter Gesetze das sozialpolitische Appeasement. Hitler zeichnete damit die politisch-mentalen Konturen des späteren Sozialstaats der Bundesrepublik vor. Die Regierung Schröder/Fischer steht vor der historischen Aufgabe des langen Abschieds von der Volksgemeinschaft.“ (Götz Aly in der SZ vom 1.9.04)
So holt die historische Ideologie die politischen Vorgaben der Gegenwart ein: Längst hat Schröder den Sozialstaat zum Abschuss freigegeben, und Historiker à la Aly gewinnen daraus die historiographische Aufgabe, die guten Traditionen, die dem Sozialstaat lange Zeit nachgesagt wurden, durch schlechte zu ersetzen: Wurde er bislang mit der glanzvollen Tradition seines Gründervaters Bismarck historisch approbiert und stellte er jahrzehntelang einen erstrangigen Beweis für die
Güte des nicht manchester-kapitalistischen, sondern sozial-marktwirtschaftlichen Systems dar, so wird er jetzt in die Tradition Hitlers gestellt, damit in einen ursächlichen Zusammenhang mit den deutschen Großverbrechen gebracht und darüber historisch desavouiert. Das hat der geistigen Lage der Nation offenbar noch gefehlt: Sozialabbau im Namen der Vergangenheitsbewältigung.