Zum ‚Manifest für Frieden‘ von A. Schwarzer und S. Wagenknecht
Warum der Ruf nach Frieden nichts taugt
Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer und andere rufen zu einer Demonstration am 25. Februar 2023 in Berlin auf. Die Autorinnen verurteilen den Krieg in der Ukraine im Namen seiner Opfer. Sie fordern seine sofortige Beendigung, weil er immer mehr Leben und Lebensgrundlagen zerstört und womöglich noch weitere, ganz Europa erfassende Kreise zieht. Das ist menschlich gedacht. Politisch ist es gewollt blind.
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Zum ‚Manifest für Frieden‘ von A. Schwarzer und S. Wagenknecht
Warum der Ruf nach Frieden nichts taugt
Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer und andere rufen zu einer Demonstration am 25. Februar 2023 in Berlin auf:
»Heute ist der 352. Kriegstag in der Ukraine (10.2.23). Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert. Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land. Und auch viele Menschen in ganz Europa haben Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Sie fürchten um ihre und die Zukunft ihrer Kinder.
Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. Aber was wäre jetzt solidarisch? Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden? Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges? Die deutsche Außenministerin sprach jüngst davon, dass „wir“ einen „Krieg gegen Russland“ führen. Im Ernst?
Präsident Selenskyj macht aus seinem Ziel kein Geheimnis. Nach den zugesagten Panzern fordert er jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen? Noch versichert der deutsche Kanzler, er wolle weder Kampfjets noch „Bodentruppen“ senden. Doch wie viele „rote Linien“ wurden in den letzten Monaten schon überschritten?
Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt. Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg? Es wäre nicht der erste große Krieg, der so begonnen hat. Aber es wäre vielleicht der letzte.
Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen. Das sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. Er spricht von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann. Warum dann nicht jetzt? Sofort!
Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören!
Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken. Doch wir können und müssen unsere Regierung und den Kanzler in die Pflicht nehmen und ihn an seinen Schwur erinnern: „Schaden vom deutschen Volk wenden“.
Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem 3. Weltkrieg näher.«
Im Einstieg verurteilen die Autorinnen den Krieg in der Ukraine im Namen seiner Opfer. Sie fordern seine sofortige Beendigung, weil er immer mehr Leben und Lebensgrundlagen zerstört und womöglich noch weitere, ganz Europa erfassende Kreise zieht. Das ist menschlich gedacht. Politisch ist es gewollt blind.
Immerhin sind sie mit drei Kriegsparteien konfrontiert, denen die Opferzahlen noch besser bekannt sind als ihnen und die allesamt Kriegsziele verfolgen, die ihnen die Leichen absolut lohnend erscheinen lassen. Die Kriegsziele von Russland, der ukrainischen Führung und des vereinten NATO-Westens machen die Verfasserinnen des Manifests aber gar nicht zum Gegenstand ihrer Kritik; mit ihnen legen sie sich nicht an. Ihre Absage gilt allein dem Krieg, der aus diesen Zielen folgt.
Im nächsten Absatz greifen sie die Lagedefinition auf, mit der die deutsche Regierung ihre immer weiter reichenden Waffenlieferungen begründet. Der offiziellen Verteilung der Kriegsschuld schließen sie sich an, freilich mit einer kleinen Verschiebung ins pur Moralisch-Menschliche: Den Krieg um die Zugehörigkeit des ukrainischen Staates zu Ost oder West verstehen sie als russischen „Überfall auf die ukrainische Bevölkerung“. Ihr hätte die Solidarität zu gelten, die die Regierung laufend im Mund führt, – und sie hätte anders auszusehen als die bewaffnete offizielle. Weil den Verfasserinnen des Manifests klar ist, dass Solidarität mit den Menschen in der Ukraine hieße, das Schlachten zu beenden, der Krieg also nicht in ihrem Sinn sein kann, stellen sie sich dumm und fragen mit Verweis auf dessen lange Dauer, wozu der überhaupt gut sein soll.
Es hilft nichts, dass die Kriegsparteien ihnen täglich ihre Friedensbedingungen – und das sind ihre Kriegsziele – mitteilen. Weil es im Lichte der Opfer grundsätzlich keinen guten Grund für diesen Krieg geben kann, verweigern Wagenknecht und Schwarzer den Zielen und Gründen, die die kriegführenden Staaten offensichtlich haben, jedes Verständnis. Mit rhetorischen Fragen „Wie lange noch ...“ und „Was ist ... eigentlich das Ziel ...“ machen sie wie selbstverständlich den gar nicht selbstverständlichen Gedankenschritt: Auch im Sinn der Staatsgewalten, die den Krieg ausfechten, kann es keinen wirklichen Grund für ihn geben. Gegen Frau Baerbock, die unvorsichtig formulierend ausspricht, dass wir Krieg gegen Russland führen, bestehen die beiden darauf: Wir gegen Russland – das kann sie doch nicht ernst meinen!
Im Ukrainer Selenskyj finden sie dann doch einen, dem sie einen Willen zum Krieg und ein Kriegsziel zutrauen – ein absolut unerreichbares, größenwahnsinniges, insofern auch gar nicht wirklich ernst zu nehmendes: Er will die „größte Atommacht“ „auf der ganzen Linie besiegen“. Dass das – ihrer Ansicht nach – gar nicht geht, halten die Kritikerinnen für die passende Verstärkung ihrer humanitären Absage. Sie argumentieren damit zwar nicht wirklich auf der Ebene der Kriegskalkulationen der Regierung in Kiew; tun aber so, als hätten sie die bei einem strategischen Widerspruch erwischt: Ein Krieg, der nicht zu gewinnen ist, ist sinnlos – sinnlos nicht mehr im Sinn der Opfer, also nicht, weil Menschen für Souveränität und Reichweite der ukrainischen Staatsmacht verheizt werden, sondern weil die sich damit selbst schädigt, vielleicht ruiniert. Am stärksten wird das Argument der Friedensfreundinnen, wenn sie einen Fachmann für Krieg als Kronzeugen anführen können: US-Spitzenmilitär Milley hat davon geredet, dass der Krieg festgefahren, in ein Patt gemündet, also, so die Kritikerinnen, für beide Seiten ohne Erfolgsperspektive sei: Frieden – weil Krieg nichts mehr bringt! Echt jetzt?
Mehr noch: Durch seine Fortsetzung drohe eine noch größere, unkalkulierbare Gefahr. Für wen? Für „uns“ – Staaten, die Krieg führen, und die Regierten, die davon bedroht werden, eventuell sterben, werden jetzt gar nicht mehr unterschieden. Und so sieht die Gefahr aus: Wenn Putin im Kernland angegriffen zum maximalen Gegenschlag ausholt, „geraten wir ... unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg“. Die Autorinnen beschwören einen Automatismus der Eskalation, von Schlag und Gegenschlag der großen Atommächte, den die Kriegsmächte am Ende selbst nicht mehr steuern können – Weltkrieg als nicht gewolltes Verhängnis, vor dem die Friedensfreunde die Welt retten wollen.
Denjenigen, die sogar angesichts dieser Perspektive die Parole ‚Frieden jetzt!‘ als eine Forderung nach einer ukrainischen Kapitulation auffassen und ihr die Bereitschaft zur Hinnahme russischer Annexionen vorwerfen, versichert das Manifest, dass ihm derlei fernliegt: „Verhandeln heißt nicht kapitulieren.“ Wenn der Krieg nach der kompetenten Auskunft des US-Generalstabschefs sowieso irgendwann mit Verhandlungen beendet werden muss, warum, so der Aufruf, fängt man dann nicht sofort an mit dem Kompromissemachen? Dass die sich ausschließenden Machtansprüche überhaupt kompromissfähig sind, postulieren die Friedensfreunde einfach – gegen die Erfahrung, die sie gerade machen. Ihr Protest demonstriert den unerschütterlich staatsfrommen Glauben, dass auch für die politischen Führungen hier und dort das große „Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern“, ganz gewiss höher rangieren muss als alle Nationalinteressen. Sie halten die staatlichen Gewaltsubjekte so sehr für die Beauftragten und die Schutzmacht des Lebens der Regierten, für so identisch mit „den Menschen“, dass sie ihnen und natürlich im Besonderen ihrem deutschen Staat sogar mitten im Krieg, den sie mit Waffen und der Ausbildung von Bedienmannschaften am Laufen halten, einen Willen und einen Grund zur gewaltsamen Vernichtung fremder Macht einfach nicht zutrauen.
Dabei ist ihnen klar, jedenfalls gehen sie davon aus, dass ihre pazifistischen Ermahnungen für sich genommen nichts bewirken; dann aber doch so viel, daran glauben sie als zur Demokratie erzogene „Bürger und Bürgerinnen Deutschlands“ umso fester, wie das wahlberechtigte Volk an Druck auf seine Herrschaft zu erzeugen vermag. Die Macht, die sie sich wünschen, lügen sie sich in die Tasche – „die Hälfte der deutschen Bevölkerung“ wäre bereits ihrer Meinung – und appellieren als besorgte Deutsche an ihren Kanzler als den zwar leider unzuverlässigen, aber einzig überhaupt irgendwie erreichbaren Verhinderer einer deutschen Beteiligung an der Schlächterei, der zwar schon manche rote Haltelinie nicht eingehalten hat, vor der nächsten aber vielleicht doch Halt macht. Ihn, der Deutschland durch diesen Krieg in Europa und der Welt neu aufstellen will, erinnern sie an seinen Amtseid, „Schaden vom deutschen Volk zu wenden“.
So werben Schwarzer und Wagenknecht für ein Erschrecken vor dem Krieg – vor dem, was die von fast allen Volksvertretern im Bundestag mitgetragene Politik der Zeitenwende über den amtlich festgelegten „Nutzen des deutschen Volkes“ zu erkennen gibt, erschrecken sie nicht.