Macrons Rede in Bratislava – eine 360°-Wende gegenüber Russland und der NATO
Ende Mai verkündet der französische Präsident in der slowakischen Hauptstadt drei Korrekturen seiner Politik gegenüber der NATO sowie der Ukraine und dem dortigen Krieg. Er nimmt offiziell seinen Spruch vom „Hirntod“ des Bündnisses zurück; es sei von „Wladimir Putin mit dem schlimmsten Elektroschock“ wieder zum Leben erweckt worden und habe für Europa funktioniert. Der Präsident, der im Namen „unseres Europa“ spricht und sich an es wendet, fordert nun Sicherheitsgarantien samt NATO-Beitritt für die Ukraine und deren konsequente Unterstützung für eine siegreiche Offensive.
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Macrons Rede in Bratislava – eine 360°-Wende gegenüber Russland und der NATO
Ende Mai verkündet der französische Präsident in der slowakischen Hauptstadt drei Korrekturen seiner Politik gegenüber der NATO sowie der Ukraine und dem dortigen Krieg. Er nimmt offiziell seinen Spruch vom „Hirntod“ des Bündnisses zurück; es sei von „Wladimir Putin mit dem schlimmsten Elektroschock“ wieder zum Leben erweckt worden und habe für Europa funktioniert: „Von den ersten Tagen des Konflikts an hat die NATO mit großer Effizienz für die Sicherheit ihrer Grenzen gesorgt.“ Gut, dass sie „Russland in Schach hält, und in dieser Hinsicht müssen wir unseren amerikanischen Verbündeten dankbar sein...“ In Bezug auf den Krieg in der Ukraine war Macron zweitens der europäische Politiker gewesen, der am längsten vertreten hatte, dass der Westen Russland nicht demütigen dürfe, weil die EU mit der Großmacht an ihren östlichen Grenzen auch nach dem Krieg auskommen und wieder ein Verhältnis zu ihr finden müsse. Nicht alleine, aber besonders entschieden hatte er sich drittens gegen eine Aufnahme der Ukraine in die NATO gewandt, weil dieser Schritt genau der Angriff auf die russischen Sicherheitsinteressen gewesen wäre, den Putin mit allen Mitteln verhindern wollte. Auch diese beiden Vorbehalte gelten nicht mehr: Der Präsident, der im Namen „unseres Europa“ spricht und sich an es wendet, fordert nun Sicherheitsgarantien samt NATO-Beitritt für die Ukraine und deren konsequente Unterstützung für eine siegreiche Offensive.
In der Begründung, die er für den französischen Standpunktwechsel vorträgt, wird die Bedeutung dieses Krieges für „unser Europa“ klar ausgesprochen und damit auch das Interesse, aus dem heraus er ihn schürt. Während der deutsche „partner in leadership“, der die Ukraine mit noch mehr Geld und Waffen als Frankreich zu ihrem Krieg befähigt und beauftragt, zwar ähnlich kalkuliert, dabei aber ein deutsches Interesse am Krieg hinter einer Solidaritätspflicht gegenüber der angegriffenen Ukraine versteckt bzw. als solches nur allgemein die Verteidigung der „regelbasierten Weltordnung“ und der UN-Charta kennen will, scheut Macron den Klartext nicht: Er sieht den Krieg als Chance für „unser Europa“, auf Kosten Russlands zur strategischen, geopolitischen Weltmacht aufzusteigen.
Sein erstes und stärkstes Argument für diese Gelegenheit, die Europa natürlich erst noch entschlossen und einig ergreifen muss, ist, dass das jetzt offenbar geht. Macron redet so, als ob das Kräftemessen des Westens mit Russland schon entschieden wäre:
„Was der Krieg in der Ukraine zeigt, ist nicht nur, dass die Versuche, einen Teil Europas zu unterwerfen, illegal und inakzeptabel, sondern auch dass sie – im harten Licht der Machtverhältnisse – unrealistisch sind... Der Krieg ist noch lange nicht vorbei, aber ich glaube, ich kann heute sagen, dass eines klar ist: Die Ukraine wird nicht erobert werden. Was vor etwas mehr als einem Jahr eine ‚Spezialoperation‘ war, ist zu einem geopolitischen Fehlschlag geworden und hat zum Beitritt Finnlands und hoffentlich bald Schwedens zur NATO geführt und so Russlands Zugang zur Ostsee blockiert, das Misstrauen unter den Nachbarländern verstärkt und wegen der Verletzung der UN-Charta zugleich das russische Standing im Konzert der Nationen untergraben. Die Lage auf dem Schlachtfeld bestreitet dem russischen Versuch, durch Drohung einzufordern, was ohnehin von keinem Recht gedeckt ist, jede Glaubwürdigkeit. Es gibt in Europa keinen Platz für imperialistische Fantasien.“
Das Land, dem Macron Imperialismus und die Beanspruchung eines illegitimen „Rechts des Stärkeren“ vorwirft – es habe mit seinen Forderungen an die NATO vor Kriegsbeginn die „Schwächung und Neutralisierung der Ukraine und letztlich die Verwundbarkeit eines ganzen Teils von Europa im Austausch gegen unbedeutende und weithin nicht überprüfbare Verpflichtungen“ durchsetzen wollen –, muss erfahren und soll sich daran gewöhnen, dass das Recht des Stärkeren bei der Gegenseite liegt und deswegen das russische Recht auf ein kooperatives „nahes Ausland“ nichts gilt.
Von dieser Perspektive her entwirft Macron die Agenda für „unser Europa“. Zuerst blickt er zurück und führt den Krieg selbst auf einen unterentwickelten geopolitischen Machtwillen der EU zurück, der schuld daran sei, dass eine Grundfrage europäischer Sicherheit in die Verantwortung der NATO gefallen ist, deren Vorgehen eine vermeidbare Konfrontation mit Russland heraufbeschworen hat:
„Es fehlte uns als Europäern an Kohärenz. Deshalb haben wir bestimmten Ländern, die an unseren Grenzen lagen, nur unzureichende Garantien gewährt. Wir haben Russland nicht auf einen Sicherheitsdialog in unserem eigenen Interesse verpflichtet. Im Grunde haben wir diesen Dialog an die NATO delegiert, was wahrscheinlich nicht der beste Weg zum Erfolg war.“ „Die Reaktion der NATO war zugleich zu viel und zu wenig. Die der Ukraine und Georgien angebotene Perspektive [des NATO-Beitritts] setzte die beiden Länder russischem Zorn aus, ohne sie jedoch zu schützen, und war mit Garantien ausgestattet, die viel zu schwach waren.“
Umso mehr zeigt sich Macron zufrieden, dass Europa den Krieg im Osten als Weckruf verstanden und seine Lektion gelernt hat: Er lobt die Mitgliedsländer dafür, dass sie so schnell und einig und für alle Welt, besonders die Russen, unerwartet hart auf den Einmarsch in der Ukraine reagiert haben; Europa habe da „strategische Klarheit“ gewonnen und schon als das geopolitische Machtsubjekt agiert, das es erst noch werden muss. Denn die nicht so gute Nachricht ist, dass Europa gegenwärtig nur durch die Hilfe, den Kriegswillen und die Mittel der USA Russland als die stärkere Seite gegenübertreten kann; Macrons Rehabilitation der NATO und sein Dank an die Biden-Administration sind nur Ausdruck seines Leidens daran, dass Europa auf sie noch immer angewiesen ist, und daher der Auftakt, daraus den Bedarf nach europäischer strategischer Autonomie, d.h. Kriegsfähigkeit auf Augenhöhe mit den Supermächten abzuleiten:
„Wird es für immer dieselbe Administration bleiben? Niemand weiß es, und wir können unsere kollektive Sicherheit und Stabilität nicht an die Entscheidungen des amerikanischen Wählers der nächsten Jahre delegieren... Ich glaube an ein breites, machtvolles Europa, mit Ländern wie den Ihren, wie Polen und vielen anderen, das seine Sicherheit in wachsendem Maß selbst gewährleistet und die Probleme seiner eigenen Nachbarschaft selbst anpackt.“
Dafür braucht es allerhand, was Macron nicht zum ersten Mal fordert: Viel mehr Geld für die Aufrüstung, europäisch, nicht nur national finanziert, den Aufbau eines europäischen militärisch-industriellen Komplexes, gleiche Normen und Standards für alle zukünftigen Waffen, eine eigene, mit rein europäischen Systemen ausgestattete Luftverteidigung und obendrauf eine Zuschlagsfähigkeit in der Tiefe des gegnerischen Raumes (Lang- und Mittelstreckenraketen sowie Weltraumwaffen). Nur mit solchen Potenzen im Rücken werden „wir Europäer glaubwürdig sein in den Augen der Russen“ – und anderer. Die schöne Qualität, dass man „uns“ glauben darf, steht hier unverkennbar für die Fähigkeit, mit Krieg zu drohen und damit ernst genommen zu werden.
„Es hat mich in den letzten Jahren erschüttert, dass wir Europäer unseren Status der geopolitischen Unmündigkeit nicht überwunden haben... Europa war an Verhandlungen wie denen des Mittelstrecken-Atomwaffen-Vertrags und des New-START-Vertrags nicht beteiligt, obwohl seine Sicherheit auf dem Spiel stand. Deshalb muss es sich nun einmischen. Und es wird viel mehr Glaubwürdigkeit haben, wenn es ein Macher und nicht nur ein Zuschauer dieser Kräfteverhältnisse ist.“ „Wenn wir diese Rolle an andere, Russland, die USA oder ich weiß nicht wen delegieren, werden wir nie glaubwürdige Mitspieler sein.“
Dass Europa den USA und Russland die Entscheidungen über höchste Sicherheitsfragen – den Umgang mit den nuklearen Vernichtungsarsenalen – überlassen musste, dementsprechend dann die Kündigung von Abrüstungsverträgen durch die amerikanische Regierung einfach „mitgeteilt“ bekam, das ist vom Standpunkt des Präsidenten der französischen Atommacht eine nicht länger hinnehmbare Auslieferung eigener Interessen an fremde Mächte, egal ob Amerika oder Russland oder sonst wen. So gibt Macron vor Vertretern der östlichen EU-Staaten, um deren Proamerikanismus er natürlich weiß, unmissverständlich das Anspruchsniveau vor, dem die Mitgliedstaaten der EU folgen sollen: Autonomie als Gewaltsubjekt, darunter geht es nicht!
Der geforderte und schon in Angriff genommene Aufwuchs Europas zum vollwertigen geopolitischen Machtsubjekt kann im laufenden Krieg vor allem eines nicht brauchen: einen schnellen Frieden.
„Wir müssen deutlich klarstellen, was wir Frieden nennen wollen. Frieden in der Ukraine und auf unserem Kontinent kann nicht einen Waffenstillstand meinen, der die gegenwärtige Situation festschreibt, einen eingefrorenen Konflikt wiederherstellt und, wenn Sie wollen, die Besetzung von Territorium unter Verletzung aller Prinzipien des Völkerrechts hinnimmt. Denn letztlich wäre so ein eingefrorener Konflikt der Krieg von morgen oder übermorgen und würde uns alle schwächen. Nur eine Art Frieden ist möglich: ein Frieden, der das Völkerrecht respektiert und der von den Opfern der Aggression, dem ukrainischen Volk, gewählt ist. Das ist ein Frieden, der halten kann, der also das Kräfteverhältnis berücksichtigt, das – ich werde darauf zurückkommen – von glaubwürdigen Garantien gestützt wird. Wir müssen uns also klarsichtig darauf einstellen, dass dieser Konflikt andauern wird.“
Dauerhafter Frieden in Europa hat, nach Macrons Willen, also zwei Bedingungen. Erstens muss Russland zurückgeschlagen, müssen „die Rechte des ukrainischen Volkes respektiert und internationales Recht wiederhergestellt“ und der Anspruch Russlands zurückgewiesen sein, die Sicherheit seines „nahen Auslands“ zu definieren und zu garantieren. Zweitens verlangt dieser schöne Frieden von den Europäern genau das, was man Russland verwehren will:
„Es liegt zukünftig an uns als Europäer, unsere eigenen Fähigkeiten zu unserer Verteidigung zu haben und uns um unsere Nachbarschaft zu kümmern... Die Frage der Sicherheit unserer Nachbarn wird sich stellen. Unsere Umgebung zu sichern ist ein Schlüsselelement der Glaubwürdigkeit eines wirklich handlungsfähigen Europas.“
Und diese Nachbarschaft reicht weit: Sie „betrifft nicht nur unsere östliche Flanke“, sondern auch das Mittelmeer, seine östlichen und südlichen Anrainer sowie neue Konflikträume wie Cyberspace, Weltraum und die Meere.
„Wenn wir also dauerhaften und zuverlässigen Frieden, wenn wir Einfluss in Bezug auf Russland haben und gegenüber den Ukrainern glaubwürdig bleiben wollen, müssen wir der Ukraine die Mittel geben, weiteren Aggressionen vorzubeugen, und sie in eine verlässliche Sicherheitsarchitektur einbinden – auch für uns selbst.“
So kommt Macron auf den entscheidenden Punkt seines Standpunktwechsels zu sprechen: „Ich bin aus zwei Gründen dafür, die Ukraine mit greifbaren Sicherheitsgarantien auszustatten“, das heißt mit eigenen europäischen Kriegsdrohungen für den Fall ihrer Missachtung. „Heute beschützt die Ukraine Europa und gibt Europa Sicherheitsgarantien.“ Erstens verdient sie unsere Garantien wegen des Dienstes, den sie Europa leistet. Ihre Selbstbehauptung begrenzt russische Macht und stärkt damit die „unsere“.
„Der zweite Grund ist, dass die Ukraine nun über so viele Waffen verfügt, dass es in unserem Interesse liegt, dass sie in einem internationalen Rahmen, mit multilateraler oder bilateraler Unterstützung, verlässliche Sicherheitsgarantien bei uns hat.“
Macrons zweiter Grund, vom ersten kaum zu unterscheiden, unterstreicht den militärischen Wert der von ‚uns‘ hochgerüsteten Ukraine und fordert, die Funktionalisierung des Frontstaats auf Dauer und sicher zu stellen, indem man den potenten Staat in die eigene Sicherheitsarchitektur einbaut. Mit der Perspektive einer gegen Russland mächtigen, zugleich europäischer Kontrolle unterliegenden Ukraine kommt der französische Präsident aus einer anderen Position als zu Anfang des Krieges auf sein altes Ziel einer nicht mehr auf die USA angewiesenen europäischen Weltmacht zurück, die ihr Verhältnis zum großen Russland selbst im Griff hat und damit die Sicherheitsinteressen aller Staaten des Kontinents definiert:
„Ob wir es wollen oder nicht, unsere Geographie wird sich nicht ändern. Wir werden am selben Ort [wie Russland] leben und Russland wird Russland bleiben mit denselben Grenzen und derselben Geographie. Wir müssen einen Raum dauerhaften Friedens schaffen, der uns erlaubt, mit Russland so friedlich wie möglich zusammenzuleben – aber ohne Naivität.“
„Mittelfristig müssen wir ganz klar Stabilität und Sicherheit unseres Europas auf den soliden Frieden in der Ukraine, auf die Sicherheitsgarantien für unsere Nachbarschaft – und morgen wird sich die Frage von Belarus und anderen stellen – und auf einen transparenten Rahmen des Vertrauens [mit Russland] gründen. Der wird die Vermeidung eines zukünftigen Rüstungswettlaufs ermöglichen, an einem gewissen Punkt, wenn Frieden ausgehandelt und stabil ist, auch die Beendigung des Kriegszustandes. Wir haben unsere östliche Flanke nämlich in einem solchen Maß hochgerüstet, und Russland hat so viele Waffen aufgestellt, dass wir – mittelfristig – wieder einen vertraglichen Rahmen für De-Eskalation schaffen müssen. Aber es wird dann Sache der Europäer sein, diesen transparenten Rahmen zu schaffen, in dem wir die Subjekte der Verträge sind, wir müssen am Tisch sitzen, um sie auszuhandeln und um über ihre tatsächliche Befolgung und Fortentwicklung zu entscheiden, anders eben, als wir es in der Vergangenheit gemacht haben.“
Mit Russland auskommen – auf Basis seiner Zurückdrängung aus Europa und seiner Beschädigung als durchsetzungsfähige Militärmacht; als ein Europa, das in diesem Maß eigene Macht gewinnt und seinen Imperialismus nicht weiter auf die mit Unterordnung verbundene, geliehene Macht der USA gründen muss. Das ist die lichte Zukunft, die Macron den in Bratislava Versammelten verheißt. Er endet mit dem Aufruf:
„Lassen Sie uns gemeinsam anerkennen, dass unser Europa eine große, demokratische, diverse, aber vereinte Macht sein muss.“