Bemerkungen zur Machart freiheitlich-demokratischer Kriegspropaganda

Die deutsche Öffentlichkeit steht eindeutig zum russisch-ukrainischen Krieg. Sie teilt ihrem Publikum tagtäglich mit, was in der Ukraine vor sich geht und „uns“ aufregen muss. Dabei ist eins klar: Um Krieg geht es bei allen Bildern und Be­­richten aus dem Krieg nicht.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Bemerkungen zur Machart freiheitlich-demokratischer Kriegspropaganda

Informationen zum Angriffskrieg

Die deutsche Öffentlichkeit steht eindeutig zum russisch-ukrainischen Krieg. Sie teilt ihrem Publikum tagtäglich mit, was in der Ukraine vor sich geht und „uns“ aufregen muss. Dabei ist eins klar: Um Krieg geht es bei allen Bildern und Berichten aus dem Krieg nicht. Ein Urteil über die Krieg führenden Subjekte – über den Staat in seiner Eigenschaft als Gewaltmonopolist, der über Leichen geht, als Befehlshaber, der seine Bevölkerung zum Töten und Sterben kommandiert, als Souverän, der in aller Freiheit und mit seinem höchsten Recht Menschen als sein Kampfmittel gegen seinesgleichen benutzt und verschleißt – fällt konsequent nicht; also auch nicht über die brutale Räson einer – wenn’s ernst wird einer jeden – politischen Herrschaft, die im Krieg am Werk ist: über das ganz staatseigene wirkliche Verhältnis zwischen der Selbsterhaltung dieser Macht und dem Überleben ihres uniformierten wie nicht-uniformierten Bürgermaterials. Das alles ist pauschal abgeräumt mit dem Stichwort, ohne das man sich diesen Krieg überhaupt nicht denken darf: Angriffskrieg.

Dass da – wie in noch jedem Krieg – eine Seite losgeschlagen hat, die andere mit allem verfügbaren Personal und allen verfügbar gemachten Waffen dagegenhält, sodass die Berichterstatter ganz viel Sensationelles zu berichten haben, ist allein schon mit dieser Kennzeichnung moralisch eingenordet: eingeordnet auf der einen Seite in das Verdikt über einen Angreifer, über den man außer dem Willen zum Angriff nichts wissen muss, schon gar nicht irgendetwas Kritisches über die existenziellen Bedürfnisse souveräner Herrschaftsmacht, der da eine Regierung eigene Soldaten wie fremde Untertanen opfert; über die andere Seite ist spiegelbildlich ebenso abstrakt alles gesagt mit der Kategorie des überfallenen Opfers, die eine Staatsgewalt, die ihren exklusiven souveränen Zugriff auf Land und Leute verteidigt, indem sie beides opfert, unmittelbar in eins setzt mit den Menschen, die an dieser Benutzung durch ihre nationale Herrschaft zugrunde gehen. Richtig informiert ist der Adressat von ARD bis Zeit, wenn er eine regelmäßig abrufbare Empörung pflegt, mit der er sich jedes Mal aufs Neue demonstrativ ans Hirn greift und nicht fassen „kann“, warum Russland so viel Leid anrichtet und Leichen produziert. Die Berichte über die täglich Getöteten, die seit Kriegsbeginn getöteten Kinder, wann wo eine Rakete einschlägt und wie es den Leuten geht, die zwar überleben, aber ihr Zuhause und Familienangehörige verlieren, illustrieren nicht die Brutalität des Rechts, mit dem Höchste Gewalten ihre Staatsbürger im Ernstfall total funktionalisieren, auch nicht des hoheitlichen Selbstbehauptungswillens, der sie auffrisst: Sie bebildern vielmehr das strafwürdige Unrecht der einen, die Unschuld der anderen Kriegspartei. Alle Informationen übermitteln diese Botschaft, die mit der überhaupt nicht militärischen, überhaupt nicht strategischen, sondern rein moralischen und als solche unverrückbaren Unterscheidung zwischen Angriff und Verteidigung feststeht.

So ganz von allein geben Horrorbilder und Frontberichte diese Botschaft freilich doch nicht her. Da bedarf es schon der Sprachregelung, die das Geschehen stereotyp Angriffskrieg nennt – so wie die Gegenseite auf der Bezeichnung „militärische Spezialoperation“ besteht –, damit die berichteten Fakten unmittelbar schon für ihre Deutung sprechen. Und es gibt im Repertoire der freiheitlichen Öffentlichkeit ein paar Zusätze methodischer Art zu dieser Gleichung: nichts, was in die verfängliche Richtung einer Erklärung der staatlichen Interessen gehen würde, sondern Zusätze, die ganz formell die Stichhaltigkeit der unterstellten Identität von Parteilichkeit und Faktenlage beglaubigen.

Glaubwürdigkeit

Die deutschen Leitmedien bringen den Verdacht, ihre Berichte seien voreingenommen, selbst ins Spiel, noch bevor er von anderer Stelle erhoben werden kann: Sie versehen die tagesaktuellen Auskünfte über die Kriegsopfer, das neueste Zerstörungswerk und die gegenseitigen Anschuldigungen der Kriegsparteien regelmäßig mit dem Hinweis, die verbreiteten Informationen könnten nicht von unabhängiger Stelle überprüft werden. Offenbar gehen die Redaktionen davon aus, dass beide Kriegsparteien eine verlogene Informationspolitik betreiben und dass ein skeptisches Publikum vor ihren Berichten sitzt, das ihre journalistische Arbeit möglicherweise der Einseitigkeit verdächtigt. Indem sie gemäß presseethischer Standards einräumen, sich mit ihren Auskünften eventuell zum Medium für interessierte Darstellungen der Kriegsparteien zu machen, nehmen sie diese Skepsis vorweg, lenken sie auf ihre Quellen und machen sich selbst damit über jeden Zweifel erhaben. Ihre demonstrierte methodische Skepsis macht sie in puncto Faktentreue glaubwürdig, und ihre Glaubwürdigkeit spricht für die Richtigkeit sämtlicher Urteile, die sie als „die Sachlage“ präsentieren: über den Krieg und seine Gründe, die Kriegsparteien und ihre Zwecke und darüber, was man davon zu halten hat.

Authentizität

Die „unabhängige Stelle“ vor Ort sind die Auslandskorrespondenten. Sie versorgen das Publikum mit Informationen, die ein Qualitätssiegel aufweisen: Sie stammen aus erster Hand. Die Reporter geben darüber hinaus mit ihren Kamerateams Einblicke in die Geschehnisse im Kriegsland. Echte Ukrainer kommen zu Wort vor ihren zerstörten Häusern und am Grab ihrer Verwandten. Ihre erlebbar gemachte Betroffenheit vom Krieg spricht Bände. Und zwar nicht etwa darüber, dass hier ein Staat für seine militärischen Erfolge alles einäschert, worin sich Soldaten des anderen verschanzen könnten, und dass der andere Staat sein Volk und seine Behausungen der Vernichtung preisgibt, um sich als Herrschaft über sie zu behaupten. Nichts läge ferner: Die Opfer sind vielmehr Kronzeugen für die besondere Bösartigkeit der Russen, deren Angriffe ihrem bescheidenen Leben gelten. Umgekehrt steht ihre Unschuld für die unhinterfragbare Gutartigkeit der ukrainischen Kriegspartei – ein Quidproquo, das die Interviewten dankenswerterweise der Kundgabe ihres Elends oft selbst hinzufügen. Sie beglaubigen die Identität zwischen ukrainischer Macht und den Menschen, die sie kriegerisch in Anspruch nimmt. Die deutsche Berichterstattung zeigt zwar vor allem Kriegsschäden in den Gebieten, die unter der Kontrolle Kiews stehen, und das Schicksal der dort ansässigen Bevölkerung. Die Zerstörungen und zivilen Opfer auf russischer Seite braucht sie jedoch überhaupt nicht zu verschweigen. Sie hat alle Freiheit, die lebhaften Aufnahmen des Elends nach Bedarf einzuordnen und auch russische Opfer für dieselbe Hauptbotschaft sprechen zu lassen: Bildmaterial des russischen Staatsfernsehens von ukrainischen Artillerieangriffen auf russische Siedlungen, in dem ebenfalls wehklagende Babuschkas zu Wort kommen, bebildern, dass die russische Staatsführung auch ihr eigenes Volk in einen verwerflichen Angriffskrieg verwickelt. Die entsprechende deutsche Kommentierung aus dem Off hilft der korrekten Interpretation auf die Sprünge.

Einige Auslandskorrespondenten wagen sich mit Schutzweste und Stahlhelm an die Front, um dort Soldaten zu interviewen. Daher fehlt es auch nicht an authentischen Einblicken ins Elend des Soldatenlebens: Es ist in diesem industrialisierten Gemetzel dafür zu riskieren, das Leben von anderen Soldaten zu beenden, der Soldat hat immer wieder Angst, im Bombenhagel zu sterben, macht neben Ratten Pause im Schützengraben, siecht im Lazarett und Kameraden sind bereits in erklecklicher Zahl draufgegangen. All das stellt freilich nicht unter Beweis, wie brutal und unwahr es ist, wenn die so oder so an die Front geschickten Handlanger der Gewalt den Sieg zu ihrer höchstpersönlichen Angelegenheit erklären. Im Gegenteil: Die bis ins Wohnzimmer der Zuschauer nachvollziehbar gemachten Härten stehen für das Heldentum der Soldaten, die all das in Kauf nehmen, um ihr Land, Mütter und Kinder zu verteidigen – freilich nur auf der westlichen Seite der Front, auf der die Interviews stattfinden. Das Publikum lernt über Kurzbeiträge immer mehr tapfere junge Männer – und Frauen! – mit ihren Vornamen oder martialischen Kampfnamen kennen. So sammeln sich die Belege: Die ukrainischen Helden im Kampf gegen das Böse gibt es wirklich und sie sind zahlreich. Die Nähe zu den Soldaten und die damit gegebene Authentizität der Reportagen gewährleisten „Sicherheitsbeamte“, die nur den Schutz des Nachrichtenteams im Sinn haben, wenn sie ihm vorgeben, wo es filmen und interviewen darf und wo nicht. Eine Randnotiz, die den Kriegsbericht auch wieder ein Stück authentischer macht. Bei embedded arbeitenden Kriegsreportern auf der Ostseite der Front dagegen spricht die räumliche Nähe zu den Soldaten nicht für die Authentizität des gedrehten Materials, sondern für das Gegenteil: Alles arrangiert vom russischen Verteidigungsministerium. Die bloße Präsenz russischer Soldaten und Beamter zeigt schon das Ausmaß der Zensur und dass die interviewten Anwohner zu eingeschüchtert sind, um auszusprechen, was sie wirklich denken.

Persönlichkeit und Professionalität

Die führenden Medienorgane der deutschen Öffentlichkeit legen auch und gerade in Kriegszeiten großen Wert auf die Abgrenzung zwischen Nachrichten auf der einen Seite und Meinungsbeiträgen, in denen Journalisten persönlich Stellung beziehen, auf der anderen. Mit dieser Einteilung ihrer Tätigkeit untermauern sie nicht nur den Schein, dass ihre Berichterstattung über den Krieg bloß die objektive Wiedergabe der Faktenlage ist. Indem die Kommentatoren dem Publikum vorab ihren Namen mitteilen, ihr Gesicht zeigen oder den Kommentar mit ihrer eigenen Stimme im Radio verlesen, markieren sie ihre Stellungnahme als eine nicht objektive, sondern subjektive, persönliche Sichtweise auf das Geschehen in der Ukraine. Mit einer Relativierung des Gesagten hat das freilich nichts zu tun: Sie stellen damit vielmehr ihre Persönlichkeit und den Respekt, den sie in der bürgerlichen Welt für sich reklamieren kann, hinter ihre vorgetragene Positionierung – sei es als ein Jedermann mit kerngesundem Menschenverstand, dem Herz am rechten Fleck und einem festen Platz im Meinungsteil einer großen Zeitung oder als fachkundiger Journalist mit umfänglichem Faktenwissen, mit gutem Draht zu Politikern und einem hohen Rang in seinem Medienhaus. Der Stellenwert des Kommentators fügt seiner Stellungnahme zwar inhaltlich nichts hinzu, macht sie aber garantiert befassens- und anerkennenswert. Die Quintessenz des Kommentars – Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen, Keine Angst vor Putin, Putin zum Waffenstillstand zwingen – verdient schon von daher nicht nur das Gehör des Volkes, sondern dessen Zustimmung. So wird in der Meinungssparte Klartext gesprochen, welches Spektrum von Haltungen zu Putin, seinen Schergen und den Gegenmaßnahmen der Bundesregierung sich für einen verantwortungsbewussten Staatsbürger gehört.

Die Befassung mit abweichenden Standpunkten

Die Gleichung zwischen der Qualität eines Meinenden und seiner Meinung lässt sich freilich auch polemisch umkehren: Zu einem der schlagenden Gegenargumente in der Medienwelt gehört es, eine Person in ein schlechtes Licht zu rücken, um den missliebigen Standpunkt zu disqualifizieren, den sie vertritt. Eine Technik, die im Jahr der Zeitenwende großzügig zur Anwendung kommt.

Die Leitmedien machen darauf aufmerksam, dass es bei aller Aufklärung im Land doch tatsächlich Stimmen gibt, die sich der Empörung über den Kriegstreiber Putin nicht bedingungslos anschließen und stattdessen ihre Sicht der Dinge in die Öffentlichkeit tragen. Solchen Leuten wird in Kommentaren, in Talkshows und bei Interviews publikumswirksam bedeutet, dass ihr Standpunkt – bei der Faktenlage – einfach nicht zu fassen ist. Jedes Mal wird der abweichende Standpunkt in einem Ton vorstellig gemacht, der klarmacht, dass er ein Skandal ist: Die linke Oppositionspartei debattiert (!) lange (!!) darüber, wie sie sich zum Ukraine-Krieg stellt; ein Altkanzler (!) setzt immer noch (!!) auf Partnerschaft mit Russland; Friedensaktivisten behaupten, die NATO (!) habe zum Krieg beigetragen; Alice Schwarzer et al. wollen der Ukraine die Waffen zu ihrer Selbstverteidigung (!) verwehren... Mit demonstrativer Verwunderung verteidigen die Journalisten ihre Vorgaben für das Nachdenken über diesen Krieg. Und das Erstaunen ist auch schon die ganze Zurückweisung der missliebigen Standpunkte. Von da aus geht die Befassung mit ihnen regelmäßig in die Frage über, was das für welche sind, die solche Auffassungen vertreten. Da die Fakten eigentlich alles sagen, ist die Antwort auch kein Rätsel: Hier ergehen sich „Russlandfreunde“, die sich ihre eigenen Fakten erfinden, in ihren Glaubenssätzen. Warum die so ticken, wie sie ticken, darüber ergibt sich über die Kommentare und Talkshowdebatten hinweg eine ganze küchenpsychologische Typologie: Die einen sind naiv und realitätsblind, die nächsten sind empathielos und herablassend – oder es fehlt ihnen gleich ganz an Moral, weil man eigensüchtige Interessen hinter ihren Reden ausfindig macht. Wieder andere sind notorische Realitätsverweigerer und geradezu verrückt. Den Inhabern abweichender Meinungen wird ein fragwürdiger Charakter nachgesagt, der gar kein Urteil über die von ihnen vertretenen Standpunkte nötig macht, um sie zu verwerfen. Für den gleichen Zweck bringen die Journalisten auch die Methode der Denunziation per Assoziation in Anwendung: Wer vom geltenden Konsens der Öffentlichkeit abweicht, ist offenbar für die Russen parteilich, spielt Putin jedenfalls mit der Verbreitung von Missmut gegen die deutsche Russlandpolitik in die Hände und weiß das auch. So gilt ein buntes Sammelsurium von Standpunkten als „fünfte Kolonne Russlands“. Ihre Vertreter verdienen es dementsprechend nicht, als ein Teil der besorgten Bürgerschaft und ihrer sorgeberechtigten Vertretung ins seriöse Meinungsspektrum aufgenommen zu werden. Die kritische Frage ist vielmehr, ob sie im Sinne des Konsenses konsequent genug aus jeder Partei, den Führungsposten und den Ehrenplätzen der Republik entfernt werden.

*

Von der Berichterstattung vom Angriffskrieg über die hautnahen Reportagen vor Ort bis hin zum Umgang mit Andersdenkenden: Jedes Mal „argumentiert“ die deutsche Öffentlichkeit mit der Realität, die im Grunde für sich spricht, nämlich für die bedingungslose geistige Parteinahme in diesem Krieg und dessen Übersetzung in eine Auseinandersetzung zwischen guten und bösen Staaten. Wenn sie auf ihre eindeutige Botschaft und deren Alternativlosigkeit pocht, dient das einem guten Zweck: Es geht den Leitmedien nicht nur darum, dass das Volk die neue Rüstungs- und für es kostenträchtige Russlandpolitik Deutschlands bedingungslos als unumgängliche Konsequenz akzeptiert. Nach ihrer verantwortungsbewussten Selbstauffassung leisten sie auch einen unverzichtbaren Beitrag dazu, dass die Bundesregierung Kurs hält und ihrem Auftrag nicht zaudernd, sondern konsequent nachgeht. Wenn sie eine antirussische Haltung zum Gebot der Stunde erklären und zur gültigen öffentlichen Meinung machen, bringen sie in ihrer Vorstellung die Politiker in Zugzwang, die „eingetretene“ Zeitenwende mit ihrer Amtsmacht zu vollstrecken. Mit ihrer Déformation professionnelle stellen sie das Verhältnis von Politik und öffentlicher Moral auf den Kopf. Der Beschluss der Regierungsparteien in Einigkeit mit der christlichen Oppositionsfraktion, die Zeitenwende einzuläuten, gegen Russland eindeutig Partei und dementsprechend feindliche Maßnahmen zu ergreifen, ist der Grund für die kompromisslose Parteilichkeit der Meinungsbildner.