VW erfindet das Entgelt-„Modell 5000 x 5000“, der Standort bejubelt neue Arbeitsplätze, die Gewerkschaft leistet hinhaltende Zustimmung, und der „Industriekapitalismus“ bekommt in Deutschland eine neue Zukunft – mit einem Leistungslohn neuen Typs
Lohnform ‚variables Kapital‘ oder: Die Wahrheit über den Lohn als Prinzip seiner Bezahlung

VW erfindet das Entgelt-„Modell 5000 x 5000“, der Standort bejubelt neue Arbeitsplätze, die Gewerkschaft leistet hinhaltende Zustimmung, und der „Industriekapitalismus“ bekommt in Deutschland eine neue Zukunft – mit einem Leistungslohn neuen Typs: einen Leistungslohn, der definitiv so durchbuchstabiert ist, wie er die ganze 150-jährige Geschichte des „Industriekapitalismus“ hindurch schon immer gemeint war und praktiziert worden ist: Maßstab der Entlohnung ist nicht, was das arbeitende Subjekt an produktiven Strapazen auf sich nimmt und aushält, sondern was der Betrieb davon hat.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

VW erfindet das Entgelt-„Modell 5000 x 5000“, der Standort bejubelt neue Arbeitsplätze, die Gewerkschaft leistet hinhaltende Zustimmung, und der „Industriekapitalismus“ bekommt in Deutschland eine neue Zukunft – mit einem Leistungslohn neuen Typs
Lohnform ‚variables Kapital‘
oder: Die Wahrheit über den Lohn als Prinzip seiner Bezahlung

Volkswagen plant zwei neue Automodelle – einen „Van“ und einen „Minivan“ – und für deren Produktion unter der eingängigen Überschrift „5000 mal 5000“ gleich ein neues Leistungs- und Entlohnungs-„Modell“. 5000 neu eingestellte Leute sollen in einer vorgegebenen Frist die neuen Fahrzeuge zur Serienreife bringen, dann in Gruppenarbeit täglich mindestens 1000 Exemplare mängelfrei herstellen und bei Bedarf bis zu 1300 Stück, um sicherzustellen, dass zwischen Bestellung und Auslieferung eines Wagens nicht mehr als 15 Tage vergehen. Dafür wird in drei Schichten sechs Tage die Woche gearbeitet; die individuelle Arbeitszeit richtet sich nach dem jeweiligen Arbeitsanfall, soll im Schnitt einschließlich gewisser Zeiten für „Qualifikation“ sowie für die zu einem reibungslosen Betrieb nötigen Absprachen innerhalb der Arbeitsgruppen und zwischen den Abteilungen im Schnitt bei 42,5 Stunden liegen, kann aber auch die gesetzlich vorgeschriebene Obergrenze von 48 Wochenstunden erreichen. Entgolten wird das alles pauschal mit 4500,- DM brutto pro Monat; wird das Produktionsziel und eine Umsatzrendite von 6,5% „mängelfrei“ erreicht, gibt es halbjährlich 3000.- DM dazu, woraus sich die zweite 5000 für den durchschnittlichen Monatslohn errechnet; wird eine Rendite von 8% erzielt, ist eine zusätzliche Gewinnbeteiligung drin. Befristet auf 3 Jahre, könnten 3500 Arbeitslose in Wolfsburg und 1500 in Hannover in den Genuss dieses wunderbaren Job-Angebots kommen; freilich muss dafür erst noch die andere Tarifvertragspartei, die IG Metall, ihren Ende Juni nach eineinhalbjährigen Verhandlungen eingelegten Einspruch zurückziehen. Schon Anfang August, nach einem freundlichen Wink des Kanzlers, stehen dafür die Chancen nicht schlecht.

Mit diesem „Modell“ wird VW seinem Ruf als innovativer Autobauer in mustergültiger Weise gerecht. Nicht mehr so nebenher im Halbdunkel betriebsinterner Absprachen, sondern demonstrativ öffentlich, und nicht unter dem Vorwand einer andernfalls unabwendbaren Unternehmenskrise mit Massenentlassungen, sondern offensiv ehrlich im Interesse des weiter zu steigernden Unternehmensgewinns senkt die Firma, fürs Erste nur für eine neue Produktionslinie, aber mit der klaren Ansage einer Verallgemeinerung des damit gesetzten Vorbilds, ihre Lohnzahlungen deutlich ab – Zuschläge für Schicht-, Samstags- und Mehrarbeit entfallen von vornherein, der bisherige hauseigene Durchschnittslohn wird um mehr als einen Tausender unterboten und dieses neue Niveau gleich auf drei Jahre festgeschrieben – und sichert sich dafür deutlich mehr Arbeitszeit. Und das – dies die entscheidende Neuerung – tut sie nicht unter Beachtung und im Rahmen des tarifvertraglich vereinbarten Entlohnungssystems: Unter dem Stichwort „Programmentgelt“ führt sie eine neue Methode der Leistungserbringung und Entgeltzahlung ein. Die pauschalierte Lohnsumme errechnet sich nicht mehr aus irgendwelchen Kenngrößen für die nützliche Tätigkeit des Arbeitnehmers, sondern wird direkt auf die beiden Größen bezogen, die den Geschäftserfolg des Unternehmens ausmachen, und davon abhängig gemacht, dass diese beiden Größen ein ansehnliches Niveau erreichen: Entlohnt wird ein für Autofirmen rekordverdächtiges Tempo beim Kapitalumschlag – die 15-Tage-Regel für die Auslieferung bestellter Ware setzt neue Maßstäbe für die Umschlagsgeschwindigkeit des zirkulierenden Kapitals; die Variationsbreite beim Arbeitseinsatz, nämlich zwischen 1000 und 1300 Exemplaren pro Tag, garantiert geringstmögliche Lagerhaltungskosten auf der einen, sofortige Mehrerlöse bei steigender Nachfrage auf der anderen Seite; der Dauerbetrieb rund um die Uhr und sechs Tage pro Woche gewährleistet außerdem die beschleunigte Amortisation des investierten fixen Kapitals – sowie die Erzielung einer ansehnlichen Umsatzrendite; beides zusammengenommen also eine Profitrate, deren Höhe wir gar nicht abzuschätzen wagen. Was üblicherweise und nach allen bislang erfundenen und geltenden Regelungen als Bezugsgröße für die Ermittlung eines „passenden“ Arbeitsentgelts herangezogen wird, die tatsächlich geleistete Arbeitszeit nämlich bzw. die pro Arbeitsstunde erbrachte Leistung einschließlich der für ein perfektes Produkt nötigen Sorgfalt, das wird bei dieser innovativen Lohnform gar nicht mehr extra in Anschlag gebracht, sondern ergibt sich zwingend als abhängige Variable aus der neuen maßgeblichen Bezugsgröße, nämlich der „mängelfreien“ Erwirtschaftung von flottem Umschlag und Rendite: Je nach dem, was dafür nötig ist, wird Arbeitszeit abgerufen, das Arbeitstempo forciert, an anderer Stelle ausgeholfen, Ausschuss nachbearbeitet usw. Damit erledigt sich auch jede individuelle Lohnberechnung und -zumessung; alle 5000 werden gleich und ohne Unterschied als Teile des Kollektivs bezahlt, das als ganzes der Firma das vorgeschriebene Betriebsergebnis schuldet, und jeder haftet gleichermaßen mit 10 Prozent seines Lohns für die Realisierung des Geschäftserfolgs, den das Unternehmen sich mit seinem „Programmentgelt“ einkauft. Die 500 Mark dürften reichen, um in den umgestalteten Werken eine das Ergebnis sicherstellende Kultur der wechselseitigen Kontrolle, Antreiberei und „solidarischen“ Lückenbüßerei bei Personalausfällen und etwaigen Verarbeitungsmängeln zu erzeugen.

Mit diesem Entlohnungs-„Modell“ knüpft VW – einerseits – sehr konsequent an die althergebrachten Formen der Lohnzumessung und deren schöpferische Fortentwicklung, nicht zuletzt im eigenen Hause, an: Die Bezahlung nach Stunden, in die der Vorgesetzte nach betrieblicher Anordnung die zu erledigenden Arbeitsquanta hineinpackt, wie nach Leistung des einzelnen, deren „Rhythmus“ von einer auf ein sachgerechtes Tempo eingestellten Maschinerie vorgegeben wird, macht seit jeher die Realisierung der Umschlags- und Rendite-Ziele des Unternehmens zum „Sachzwang“, dem die lohnabhängigen Kräfte bei Strafe ihres Einkommens nachzukommen haben; und für die Anpassung von Arbeitszeiten und Leistungsdichte an den jeweiligen betrieblichen Bedarf haben die „Flexi“-Regelungen der letzten Jahre schon mit Präzision gesorgt. Diesen Errungenschaften sowie der Toleranz, mit der Beschäftigte hierzulande Lohnsenkungen hinnehmen, entnimmt das Unternehmen schließlich die Maßstäbe, die es zu Grunde legt, wenn es nun – andererseits – die Sache gewissermaßen andersherum angeht und die Entlohnung gleich vom Betriebsergebnis her definiert, das es in seinen Bilanzen stehen haben will. Mit diesem Fortschritt praktiziert es eine Kritik am flexibilisierten Zeit- und Leistungslohn – so nämlich, als hätte dieses herkömmliche System der Bezahlung bei der Indienstnahme der bezahlten Arbeit für den Unternehmenszweck, das positive Geschäftsergebnis, noch eine gravierende Lücke gelassen; als wäre es die restlose, zwingende und garantiert erfolgreiche Funktionalisierung des Faktors Arbeit für die Rendite noch immer schuldig geblieben, weil formell andere Größen als der Gewinn, nämlich Bestimmungsgrößen der Tätigkeit des Arbeiters, bei der Zumessung seines Entgelts zu Grunde gelegt werden. Ohne Zweifel gehört schon viel kapitalistischer Fanatismus dazu, um im bundesdeutschen Lohnsystem und erst recht in der Praxis von VW ein solches Defizit auszuspüren. Eben das macht aber das Schöpferisch-Innovative an Deutschlands niedersächsischem Musterunternehmen aus: Es hat da glatt eine Lücke im System entdeckt; es ist entschlossen, sie exemplarisch zu schließen; und es findet einen Weg sicherzustellen, dass es mit seinen Lohnzahlungen eben nicht bloß Arbeit kauft, sondern gleich den kalkulatorisch vorgegebenen und bezweckten Ertrag der Lohnarbeit: Gewinn.

Dass mit diesem Kunstgriff „das Leistungsprinzip“ in den Wolfsburger Werkshallen Einzug hielte, wie es ein Leistungsträger der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung entdeckt haben will, ist hochgradig absurd. Tatsache ist aber, dass VW mit seinem „Programmentgelt“ den Leistungslohn definitiv so durchbuchstabiert, wie er die ganze 150-jährige Geschichte des „Industriekapitalismus“ hindurch schon immer gemeint war und praktiziert worden ist: Maßstab der Entlohnung ist nicht, was das arbeitende Subjekt an produktiven Strapazen auf sich nimmt und aushält, sondern was der Betrieb davon hat. Zum herkömmlichen Leistungslohn stellt die Firma sich so, als wäre die Berechnungsweise, die Lohnform, der wirkliche Bestimmungsgrund der Lohnsumme gewesen; als wäre tatsächlich die subjektive Tätigkeit des Arbeiters entgolten worden und nicht der zweckmäßige Gebrauch seiner Arbeitskraft durch den Arbeitgeber und für dessen Unternehmenszweck; als wäre mit dem falschen Schein einer Bezahlung des Arbeitsaufwands, den der Beschäftigte leistet, auch schon dessen Lohninteresse zum Maßstab der Entlohnung geworden: Diesem „Missstand“ will sie ein Ende bereiten. Und dafür genügt ihr nicht mehr die Palette von Maßnahmen der Lohnsenkung und Leistungssteigerung, mit der sie wie alle anderen kapitalistischen Unternehmen tagtäglich ihre Verfügungsmacht über Zeit und Kraft und Lebensunterhalt ihrer Dienstkräfte exekutiert und den Schein einer Bezahlung der geleisteten Arbeit widerlegt. Mit dem neuen „Modell“ widerruft VW den in den überkommenen Lohnformen enthaltenen altehrwürdigen Schwindel, bei der Lohnzahlung ginge es darum, dem Arbeiter gerecht zu werden, und setzt die praktische Klarstellung dagegen, dass der Lohn sein Maß ausschließlich darin hat, dem Kapitalinteresse Genüge zu tun; eben indem es einen umkehrbar eindeutigen Zusammenhang herstellt zwischen der Lohnzahlung und der – nicht bloß bezweckten und praktizierten, sondern – gelungenen Ausbeutung der gekauften Arbeit. Als könnte nach der Liquidierung des Kommunismus der wahre und einzige Zweck der Bezahlung von Lohnarbeitern in Vergessenheit geraten, macht Deutschlands größter Autobauer sich um Aufklärung verdient und führt vor, dass der Lohn das Mittel des kapitalistischen Zugriffs auf Arbeit ist und folglich der Lohnarbeiter mit seinem Lohn wie mit seiner Arbeit, mit seiner lebenslangen Zeiteinteilung wie mit seinem privaten Lebensunterhalt ein Werkzeug des Profits und sonst gar nichts.[1]

*

Das neue Konzept steht in Widerspruch zu den geltenden Tarifverträgen. Zum Haustarifvertrag zwischen VW und der IG Metall sowieso; deswegen soll die neue Produktion auch, obwohl in konzerneigenen Werkshallen angesiedelt, formell an eine eigens neugegründete GmbH übertragen werden; aber auch mit dem dann einschlägigen niedersächsischen Flächentarif, insbesondere mit dessen Arbeitszeitregelungen, ist das „Modell“ nicht zu vereinbaren.

Dass von etlichen Vereinbarungen zum Nachteil der Beschäftigten abgewichen werden soll, ist aber gar nicht mal das Entscheidende. Im Grunde wird die ganze Verhandlungsmaterie, um die Unternehmen und Gewerkschaft seit Menschengedenken streiten und über die sie ihre umfangreichen Tarifverträge schließen: Arbeitszeit, Lohnbemessung, Leistungsnormen, Zuschläge … usw., gewerkschaftlicher Einmischung entzogen, wenn das Unternehmensziel eines rasanten Umschlags und einer vorab bezifferten Umsatzrendite als einzige Bezugsgröße für den Lohn geltend gemacht wird und alles andere sich aus dieser Vorgabe zwingend ergibt. Und wenn tatsächlich nur noch die Realisierung des Unternehmensprofits als Kriterium für die Lohnzahlung in Frage kommt, dann ist damit überhaupt die Verhandlungsposition bestritten, mit der die Gewerkschaft seit Generationen den Arbeitgebern als sozialfriedlicher Sozialpartner gegenübertritt, nämlich der in den klassischen Lohnformen verankerte verkehrte Standpunkt, mit der Lohnbemessung müsste und würde den Arbeitern hinsichtlich ihres Aufwandes an Zeit und Mühe, ihrer Qualifikation, ihrer Leistungsbereitschaft etc. Gerechtigkeit widerfahren. Die jahrzehntelang gepflegte Lüge, im Streit zwischen Kapital und Arbeit ginge es letztlich allemal um einen Kompromiss, bei dem neben den Profitinteressen der einen Seite doch auch die Lohninteressen der anderen zum Zuge und zu ihrem Recht kämen, wird mit dem Projekt eines „Programmentgelts“ aus dem Verkehr gezogen – und damit die Verhandlungsbasis, auf der Unternehmer und Gewerkschaft sich in ihrem Tarifstreit immer sozialpartnerschaftlich getroffen und profitdienlich geeinigt haben.

Einer Arbeiterschaft, die auf ihren Nutzen achtet, könnte das egal sein; die käme ohnehin nicht darum herum, das absurde Ziel einer verträglichen bis arbeiterfreundlichen Ausbeutung zu kritisieren, den für sie nur schädlichen falschen Schein eines gerechten Interessenausgleichs zwischen Tarifpartnern aufzukündigen und ohne Rücksicht aufs klassenstaatliche Gemeinwohl für mehr Lohn bei weniger Leistung zu streiten. Da es eine solche Arbeiterschaft am Standort Deutschland aber nicht gibt – statt dessen eine Gewerkschaft, deren Mitglieder und Funktionäre nichts anderes gelernt haben, als für die sittliche Berechtigung ihrer gemeinwohldienlichen Anliegen zu werben –, bleibt es der kapitalistischen Gegenseite überlassen, offen und ohne beschönigende Relativierung auf der alleinigen Gültigkeit ihres Nutzens zu bestehen, die ohnehin immer nur formelle Anerkennung eines dem Profit berechtigterweise gegenüberstehenden Arbeiterinteresses zu widerrufen und ihrerseits dem falschen Schein einer angemessenen Berücksichtigung dieses Interesses in der Lohnbemessung ein Ende zu machen. VW geht in diesem Sinne voran, stellt damit das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit am Standort Deutschland drastisch klar und blamiert die Gewerkschaft, der für ihre Politik des sozialpartnerschaftlichen Einvernehmens allmählich der Partner abhanden kommt.

Das ist die prinzipielle Bedeutung des Wolfsburger „Modells“ für die deutsche Tarif-„Landschaft“; und genau so ist die Sache auch gemeint. Dem Konzern geht es nicht bloß um ein weiteres Experiment in Sachen Flexibilisierung und schon gar nicht um eine singuläre Ausnahme von einer im Übrigen fortgeltenden tariflichen Regel, sondern um Grundsätzliches. Wenn der Erfinder des „Modells“ sich den Journalisten der Frankfurter Allgemeinen folgendermaßen verständlich macht:

„Das Modell 5000 x 5000 stellt bisherige Arbeitsformen und -organisation von Grund auf in Frage. Personalvorstand Hartz will damit nicht zuletzt den Begriff Zumutbarkeit neu definieren“ (FAZ, 9.5.)

dann will VW eben nicht mehr mit der Gewerkschaft um Schranken des in Sachen Lohnsenkung, Leistungsverdichtung, Arbeitszeit und deren Flexibilisierung Zumutbaren herumrechten, bis irgendwelche hausfremden Funktionäre allen Unternehmenswünschen zugestimmt haben, sondern die Firma will sich die alleinige Definitionshoheit über das Maß dessen reservieren, was der abhängigen Variablen im Blick auf das zu erreichende Betriebsergebnis zugemutet werden muss, also auch kann. Für den Konzern handelt es sich dabei um eine allgemeine Geschäftsbedingung, auf die er in Zukunft nicht verzichten können will und die keineswegs bloß für das Haus Wolfsburg Gültigkeit besitzt. Dem Erfinder des „Modells“ jedenfalls, dem Arbeitsdirektor Hartz, geht es um nichts Geringeres als um die Schicksalsfrage,

„in welcher Form Automobilproduktion am Standort Deutschland möglich ist“;

er will beweisen,

„dass man am Standort Deutschland Autos zu gleichen Kosten herstellen kann wie beispielsweise in Tschechien oder Portugal“,

wo schließlich der norddeutsche Multi selber für Entlohnungsbedingungen sorgt, die den hierzulande bislang gültig gewesenen und zu Tarifverträgen geronnenen Arbeitsverhältnissen und Durchschnittslöhnen Hohn sprechen. So spielt der Konzern, der sogar zwischen seinen eigenen Unternehmensteilen grenzüberschreitende Konkurrenzkämpfe um intern ausgeschriebene Produktionslinien arrangiert – ein schönes Beispiel, nebenbei, wie „Globalisierung“ als kapitalistischer „Sachzwang“ wirklich funktioniert –, sich selbst die Bälle zu,[2] um am Ende, als wäre das die zwingende Folgerung aus den „internationalen Verhältnissen“, das Diktat zu erlassen, dass der deutsche Automobilbau eine Entlohnung und Leistungserbringung nach Rendite benötigt, um überhaupt Bestand zu haben. Was für VW und die nationale Auto-Industrie, das gilt selbstredend für den Rest der deutschen Wirtschaft erst recht; auch in dem Sinn will der führende Autobauer mit seinem Vorstoß als Vorbild verstanden sein und bahnbrechend wirken, nämlich demonstrieren, dass und wie es

„möglich sein kann, am Hochlohnstandort Deutschland in einer traditionellen Industriebranche … tausende Stellen zu schaffen.“ (Handelsblatt, 16.6.)[3]

Deutschlands industrielle Zukunft liegt in einem Kapitalismus sans phrase, der sich durch keinerlei Tarifverträge mehr „fesseln“ lässt und deswegen nicht einmal für die sozialfriedlichen Repräsentanten eines irgendwie eigenständigen Arbeiterinteresses noch Verwendung hat: Das ist die Botschaft des „5000 mal 5000“-„Modells“ aus Wolfsburg.

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Mit diesem Vorstoß macht VW Furore – im positiven Sinn. Der Standort ist begeistert, als hätte er genau darauf nur gewartet. Der Kanzler ist beglückt, Niedersachsens Ministerpräsident höchst angetan, und die freischaffende Öffentlichkeit empört sich – über die IG Metall, die den Angriff auf ihre sämtlichen Errungenschaften natürlich merkt[4] und erst einmal, durchaus im Dissens mit der konzerneigenen Belegschaftsvertretung, freilich mit viel Wenn und Aber und deutlichsten Signalen für ganz viel Kompromissbereitschaft, ihr Veto einlegt. Damit zieht sie sich ein Presseecho zu, das – neben einem verselbständigten Hass auf den gewerkschaftlichen Interessenvertretungsanspruch überhaupt – den Standpunkt kenntlich macht, der eine ganze Nation dazu bringt, sich vorbehaltlos mit dem unverschämtesten Kapitalinteresse zu identifizieren:

„Hier sabotiert der Chef selbst – nach diesem Motto hat sich der IG-Metall-Vorsitzende höchstpersönlich in die Verhandlungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern des VW-Konzerns eingeschaltet und sie an die Wand gefahren. Trotz Tausenden von Bewerbern für das Modell ‚5000 mal 5000‘ … war Zwickel der Flächentarif und die Prinzipienreiterei wichtiger als Innovation im festgefahrenen Arbeitsmarkt. Die Arroganz seines Auftritts lässt ahnen, wie viel Wasser die Leine runterfließen und Jobs in Deutschland noch über den Jordan gehen müssen, bevor sich etwas bewegt. Schade eigentlich, die Zeche bezahlen in erster Linie die Arbeitslosen. Zwickel könnte bald einer von Ihnen sein, weil das Land solche Leute einfach nicht braucht.“ (Die Welt mit Schaum vorm Mund, 27.6.)
„Vertan ist zumindest vorerst die Chance, den Export von Arbeitsplätzen zu stoppen und den Trend womöglich sogar umzukehren. Gewerkschaften – dies ist eine Lehre der gescheiterten Verhandlungen – vertreten im grauen Alltag eben in erster Linie (Lohn)Interessen der Arbeitsplatzbesitzer und nicht die der Erwerbslosen.“ (Höflich trauerumflort und in der Sache identisch die Frankfurter Rundschau, 27.6.)
„Schröder ist schuld am Scheitern des VW-Modells … Die Bundesregierung dürfe sich … nicht wundern, wenn der IG-Metall-Vorsitzende eine Betriebsvereinbarung, die 5000 Arbeitsplätze geschaffen hätte, verhindert habe, nur weil sie den Interessen der Organisation geschädigt hätte. Es sei Bundeskanzler Gerhard Schröder gewesen, der den Betrieben die Verantwortung für das Entstehen von Arbeitsplätzen vorenthalten habe.“ (Mit klarem Blick auf den Hauptverantwortlichen für den Fortbestand einer unverantwortlichen Gewerkschaftsmacht der Fraktionschef Merz lt. FAZ, 29.6.)
„Der Machtanspruch der Tarifparteien lässt den Arbeitslosen keine Chance … Die Arbeitslosen sind das Bauernopfer der Gewerkschaft im Kampf um die Regelungsmacht am Arbeitsmarkt.“ (Wie immer voller Mitleid mit den Schwächsten der Gesellschaft das Handelsblatt, 27.6.)
„Arbeitslose brauchen eine Lobby … Das ist eiskalte Machtpolitik der IG Metall. Rund 5000 Arbeitslose hätten bei VW … Jobs haben können – mit mehr Arbeit für weniger Geld. Die IG Metall sagt Nein. Sie beharrt auf der 35-Stunden-Woche und auf dem Flächentarifvertrag. Wer so handelt, baut mitten in Deutschland eine neue Mauer!“ (Dem größten anzunehmenden Politverbrechen auf der Spur: die Bild-Zeitung, 27.6.)

Und so weiter. Wie ein Mann steht Deutschlands Öffentlichkeit hinter Deutschlands Arbeitslosen, die sich sonst von derselben öffentlichen Meinung den Verdacht auf Faulheit, Drückebergerei und Schmarotzertum gefallen lassen müssen. Von wegen also, die hätten keine Lobby: Vom Kanzler über den Oppositionsführer bis zum Moderator der Tagesthemen und vom Massenblatt für Arbeiter bis zum Käsblatt für Börsianer macht sich jeder, der etwas zu sagen hat in der Republik, für die dreieinhalb Millionen stark, von denen VW glatt mehr als ein Promille befristet hätte einstellen wollen, und schüttelt den Kopf über eine Gewerkschaft, die doch wahrhaftig gefragt sein will, wenn die geplanten neuen Arbeitsplätze tarifvertragswidrig ausgestaltet werden sollen, und die dabei auch noch so verstanden sein möchte, als würde sie ernstlich auf einem aushaltbaren Arbeitsalltag und einem zeitgemäßen Lebensunterhalt sogar für neu beschäftigte Arbeitslose bestehen. Solche Konditionen anzumelden, ja auch nur daran zu denken, es könnte einem anständigen Arbeitslosen angesichts von dreieinhalb Millionen Schicksalsgenossen auch nur im entferntesten auf sich selbst ankommen, wenn ihm eine Arbeit winkt – das ist verwerflich; das zeugt von verantwortungsloser Missachtung der Ärmsten unserer Gesellschaft sowie der unvertretbaren Kosten, die sie dem Sozialstaat verursachen. Da ist sich die nationale Arbeitslosen-Lobby bedingungslos einig.

So zahlt es sich aus, dass die Klasse der Arbeitgeber von Berufs wegen keine Skrupel kennt und mangels Gegenwehr auch keine Rücksichten nehmen muss, wenn sie ihre produktivitätssteigernden Errungenschaften ebenso wie allfällige Niederlagen in ihrem immerwährenden marktwirtschaftlichen Konkurrenzkampf von der Klasse der abhängig Beschäftigten gleich doppelt ausbaden lässt – mit höheren Leistungsanforderungen an die noch Beschäftigten und Einkommenslosigkeit für die nicht mehr Gebrauchten. Denn das Arbeitslosenheer, das so zu Stande kommt, personifiziert nichts als das unabweisbare Lebensbedürfnis, wieder oder überhaupt benutzt zu werden, und zwar zu jeder Bedingung, die ein Arbeitgeber an die Gnade eines Arbeitsplatzes knüpft. In diesem existenziellen Massenbedürfnis zahlt sich freilich noch etwas ganz anderes aus, nämlich der zum nationalen Konsens erhobene und von den Betroffenen überhaupt nicht in Frage gestellte Beschluss, dass es keine Alternativen gibt und Widerstand schon gar nicht geben darf. Doch wenn dieser demokratisch-marktwirtschaftliche Grundkonsens verlässlich durchgesetzt ist und eine Kündigung des so verheerenden Abhängigkeitsverhältnisses durch die Lohnabhängigen, seien es die beschäftigten oder die unbeschäftigten, nicht droht, dann werden selbst Massenentlassungen nicht denen zur Last gelegt, die sie aussprechen, sondern allenfalls denen, die das betreffende Unternehmen von seinen Gehaltslisten streicht, die also offenkundig zu teuer waren, und jeder Gekündigte ist nur ein lebender Beweis mehr, wie sehr die Massen der Gesellschaft erfolgreiche Kapitalisten brauchen. Dann tut die große Arbeitslosen-Lobby sich leicht, den Lohnarbeitern und speziell deren erwerbsloser Abteilung den Schrei nach Arbeit! abzulauschen, also in den Mund zu legen und den Verzicht auf jedes eigene materielle Interesse am Ertrag der ersehnten Arbeit als der Weisheit letzten Schluss vorzubuchstabieren. Und dann wird bedingungslose Unterwürfigkeit unter die Ansprüche des Arbeitgebergeschäfts um so fester zur ausschließlichen proletarischen Lebensmaxime, je offenkundiger sie sich blamiert.

Deswegen kann VW sich sicher sein, dass es mit seinem Vorhaben, an ein paar tausend Leuten ein neues Ausbeutungs-„Modell“ durchzuexerzieren, in der nationalen Öffentlichkeit nichts als Beifall findet.[5] Nicht trotz, sondern wegen der neuen Konditionen zum Nachteil der Beschäftigten wird das Projekt als wegweisende Beschäftigungsinitiative gelobt und gepriesen: Das erzwungene und zum einzig berechtigten erhobene Lebensbedürfnis der Lohnabhängigen nach Arbeit sans phrase macht den entsprechenden Kapitalismus zum gesamtgesellschaftlichen Glücksfall. Da rechnet niemand kleinlich nach, dass die Sache noch nicht einmal den Tatbestand des berühmten Tropfens auf den heißen Stein erfüllt und die Erlösung aus der Erwerbslosigkeit erst einmal bloß drei Jahre dauern soll. Außer der IG Metall, die sich ausgebremst findet – und die findet sich mit ihren Vorbehalten prompt einmal mehr im gesellschaftlichen Abseits wieder.

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Damit geschieht der Gewerkschaft freilich Unrecht; und sie ist bemüht, das auch öffentlich darzutun und anerkannt zu kriegen. Denn selbstverständlich zieht auch sie aus den Folgen des kapitalistischen Konkurrenzkampfs, der mit der Einsparung von Lohnkosten, also der Beseitigung unrentabler Lohnempfänger aus den Gehaltslisten bestritten wird, nur den Schluss, dass die Kapitalisten um so nachdrücklicher um die Benutzung von Arbeitskräften ersucht werden müssen; und deswegen ist sie zu jedem Verzicht im Namen und zu Lasten der von ihr vertretenen Abhängigen bereit, der den Arbeitgebern das Arbeitgeben erleichtern könnte. Nur will sie dabei nicht ausgegrenzt werden, sondern eine mitentscheidende Rolle spielen.

Das wird ihr von VW auch offenherzig konzediert, soweit sie nämlich in ihrer konzerneigenen Ausprägung als Betriebsrat auftritt. Der ist fest in den Händen der IG Metall, was aber vor allem umgekehrt bedeutet, dass die IG Metall erst einmal im Konzern zu Hause ist und dort eine dermaßen konstruktive Rolle spielt, dass der Personalchef sie gleich als tragendes Element in sein „5000 mal 5000“-„Modell“ eingebaut hat: als Bestandteil der „flachen Hierarchie“, die dafür zu sorgen hat, dass auch wirklich pünktlich und mängelfrei geliefert wird.

Frage Frankfurter Rundschau: „Das Modell möchte die Betriebsratsarbeit ins Management integrieren. Führt das nicht zu Rollenkonflikten für die Arbeitnehmervertreter?“
Antwort Hartz: „Wir tragen der Realität Rechnung. Unser Betriebsrat regelt ohnehin schon viel in der Personalverwaltung, der Arbeitssicherheit oder im Gesundheitsschutz. Da kann man das doch gleich in der Arbeitsorganisation ordentlich einteilen. … Man kann so die Fixkosten optimieren. Da müssen doch nicht zwei Apparate parallel laufen.“ (FR, 15.5.)

Frei gewählte Betriebsräte sind Unternehmensmanager – was denn sonst! Und als solche funktionieren sie nicht bloß, sondern machen sich so ihre Gedanken. Unter anderem ganz ausführliche zum Konzept des „Programmentgelts“, das immerhin den Tarifvertrag aushebelt. Und kommen zu dem Schluss: So muss man es nicht sehen! Richtig gedeutet, enthält das neue „Modell“ lauter gewerkschaftsseitig höchst begrüßenswerte Aspekte. Fassen wir uns in Geduld und lassen die Herren Volkert, Vorsitzender des Konzernbetriebsrats, und seinen Referenten Widuckel die Sache mal erklären:

„Aus der Konzeption des Projektes wird erkennbar, dass die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit nicht durch einen Dumpinglohn und auch nicht durch die isolierte Optimierung einzelner Prozesse erreicht werden soll, sondern durch deren systematische Verknüpfung. (Einschließlich Dumpinglöhne?) Die wesentlichen Nahtstellen des ‚integrierten Geschäftsprozesses‘ sind: Die Übernahme der vollen Vertriebsverantwortung in die eigenständige Unternehmenseinheit dieses Projektes und die damit möglich gewordene bessere Abstimmung der Produktionsprogramme und der logistischen Verknüpfung, eine auftragsbezogene Arbeitszeitflexibilität bei optimaler Ausnutzung der Kapazitäten, eine Modularisierung des Fahrzeuges und Integration der wesentlichen Lieferanten in einen Lieferantenpark und eine selbstorganisierte Gruppenorganisation zur zeitnahen Bewältigung von Fehlern, Mängeln und Störungen sowie zur optimalen Gestaltung von Arbeitsbedingungen und Arbeitsorganisation kennzeichnen diesen Prozess. Von der Kundenbestellung bis zur Auslieferung folgt der integrierte Geschäftsprozess kurzen Regelkreisen und der Maßgabe permanenter Information und Kommunikation an den Nahtstellen.“

Dass den soziologisch gebildeten Herren die Logik des Projekts verborgen geblieben wäre, kann man ihnen in der Tat nicht vorwerfen; in der Sache handeln sie von den Techniken, mit denen VW seine Dienstkräfte für seinen beschleunigten Kapitalumschlag haftbar macht; und dass sie bedingungslos dafür sind, ist überhaupt nicht zu übersehen. Mit ihrer gewerkschaftseigenen Interpretation des Betriebszwecks gehen sie aber andere Wege. Für sie handelt es sich beim neu durchorganisierten Gewinnstreben ihres Konzerns nicht um dieses schnöde Interesse, sondern um ein Kunstwerk von Regelkreisen, wie sie es sich schon immer gewünscht haben:

„Damit“ (das ist der nächste Satz, ohne böswillige Auslassungen. Mit all der ‚permanenten Kommunikation‘ und ‚selbstorganisierten Organisation‘ also) „sind wesentliche Forderungen, die von unserer Seite an einen Vorschlag des VW-Vorstandes gestellt worden sind, erfüllt.“

Die Forderungen würde man ja gerne mal genauer kennenlernen – und wird eine Spalte später bedient:

„Folgt man für die Arbeitsorganisation der industriesoziologischen Typologie, die zwischen ‚taylorisierter‘ und ‚strukturinnovativer, selbstorganisierter‘ Gruppenarbeit unterscheidet“ (hoffentlich tun das die neu eingestellten Arbeitslosen auch!), „dann bieten sich durch das Projektkonzept eindeutig Chancen zur Durchsetzung des zweiten Typs. Die zentralen Definitionsmerkmale dieses Typs sind der auf größere Arbeitsumfänge ausgerichtete Verantwortungsbereich unter Einschluss indirekter Tätigkeiten“ (auf die freut ein braver Arbeitsmann sich bekanntlich besonders), „der hohe Grad der Selbstorganisation und der Koordination der Arbeit durch die Gruppe“ (wann darf wer zum Arzt? wer hat die meisten Fehler auf dem Konto und muss nacharbeiten? …), „die freie Themenwahl bei Gruppengesprächen“ (Windows 2000, Weiber, Der eindimensionale Mensch, Sein und Zeit…) „sowie die Beteiligungsmöglichkeiten und Beteiligungsrechte der Gruppen bei der Gestaltung von Arbeitsabläufen und Arbeitsbedingungen“ (Lüftung an oder aus? …). „Für die Durchsetzung dieses Typs spricht, dass Technologieeinsatz und die Fertigungsorganisation dem Prozess selbstorganisierter Gruppenarbeit folgen, indem sie hohe Spielräume für Eingriffe in den Fertigungsablauf bieten“ (schließlich sollen Kundenwünsche prompt befriedigt werden, und das garantiert mängelfrei!). „Diese Spielräume sind als Rahmenbedingungen für eine lernende Organisation konzipiert.“

Und so weiter. Man merkt schon, was es diesen klugen Köpfen angetan hat: selbstorganisiert, eigenverantwortlich, Spielräume – haben davon gewerkschaftliche Schulungsleiter nicht immer geträumt? Da hilft es gar nichts, dass der unverwüstliche „Modell“-Erfinder Hartz den wirklichen Zusammenhang zwischen betriebswirtschaftlichem Nutzen, zusätzlicher Inanspruchnahme und Belastung der Arbeitskräfte und schönfärberischen Etiketten so direkt ausspricht, dass es einer zynischen Klarstellung gleichkommt:

„Es liegt in der Natur dieses Modells, dass jeder aufpasst, damit Mängel sofort abgestellt werden und nicht erst eine Reihe von Autos mit schadhaften Teilen produziert werden, die anschließend in teurer Nacharbeit wieder ausgetauscht oder nachgebessert werden müssen. Die Mitarbeiter erhalten mehr Verantwortung, aber auch mehr Souveränität über ihre Arbeit – doch wohl ein Fortschritt.“ (VW-Personalchef Hartz, Spiegel, 21/01)

Ebenso eineindeutig seine Bemerkung zum Ideal des „lebenslangen Lernens“, das in der neuen Fabrik institutionell und per passender Einteilung der Gesamtanwesenheitszeit verwirklicht werden soll:

„Die Qualifizierung als Dauerzustand hält Hartz für notwendig, weil der Arbeitsumfang der Beschäftigten zunimmt.“ (FAZ, 9.5.01);

außerdem sollen arbeitslose Ungelernte ohne Gehaltsansprüche zum Einsatz kommen:

„VW sucht Talente zum Autobauen, die handwerklich begabt und lösungsorientiert sind. Der Gedanke ist, dass z.B. ein Schlachter aus Ostdeutschland, der früher in seiner Freizeit an Trabis herumgetüftelt hat, vielleicht mehr Talent hat als ein Facharbeiter.“

Das hindert unsere gebildeten Betriebsräte jedoch überhaupt nicht, im Namen der Ideologie die Sache zu preisen:

„In dezentralen Lernstätten und drei so genannten ‚Lernfabriken‘ steht in den Fertigungsbereichen eine Infrastruktur und ein Organisationsrahmen zur Verfügung, der den Gruppen selbst organisiert und selbst gesteuert die Möglichkeit bietet, Wege zur technisch-organisatorischen Problembewältigung zu entwickeln und zu erproben, selbst erkannte Qualifizierungsdefizite zu beseitigen und Beteiligungsmöglichkeiten zur Organisations- und Personalentwicklung wahrzunehmen und sich auch intranetbasiert mit betrieblichen ExpertInnen zu vernetzen.“

Man sieht: Das Ideal eines Arbeitnehmers, der nicht bloß mit Haut und Haaren, sondern total mit Sinn und Verstand im Dienst am reibungslosen Umsatz des Betriebskapitals aufgeht und am Ende gar kein anderes „Selbst“ mehr kennt, geschweige denn geltend macht als dasjenige, das sich und seinesgleichen zur „Optimierung betrieblicher Abläufe“ hinsteuert – dieses Ideal ist den gewerkschaftlichen Submanagern von VW genau so geläufig und genau so teuer wie dem innovativen Personaldirektor. Wobei ihnen in aller Bescheidenheit die Wichtigkeit der eigenen Rolle auch nicht schlecht gefällt:

„Die lernende Organisation und das dahinter stehende Konzept der Gruppenarbeit verlangen ebenfalls eine systematische Verknüpfung zur Mitbestimmung, zumal das Projekt ‚5000 mal 5000‘ in einem gesellschaftsrechtlich separaten Teil des VW-Konzerns verantwortet werden soll.“

So bleibt nur noch die eine Frage offen:

„…warum die IG Metall im Tarifgebiet Volkswagen AG einen neuen tariflichen Regelungsrahmen verhandeln sollte, der materiell unterhalb des geltenden Haustarifvertrages angesiedelt sein dürfte; denn die Gefahr einer Aushöhlung des Haustarifsystems ist nicht von der Hand zu weisen.“

Doch wo es um so viel Selbstelei geht, können materielle Dinge nicht den letzten Ausschlag geben; und außerdem ist durch das Versprechen „zusätzlicher sozial geschützter Beschäftigungsverhältnisse“

„für die IG Metall wie für den VW-Gesamtbetriebsrat … eine machtpolitisch sehr schwierige Konstellation entstanden, die allerdings zu Recht nicht mit einer Verweigerungshaltung beantwortet worden ist.“ (Das alles und noch mehr von der Art ist nachzulesen in der FR, 11.8.)

Vom Betriebsrat sowieso nicht; und im Gewerkschaftsvorstand ist man ebenfalls hin und her gerissen. Dort hat man zwar gemerkt, dass man, wenn schon VW ein solcher Abschluss konzediert würde, die Tarifverträge in Deutschland ziemlich bald ganz vergessen könnte, und deswegen erst einmal ein Veto eingelegt. Auch Zwickel erkennt und anerkennt in dem „Modell“ jedoch eine tiefere Bedeutung weit jenseits der banalen Renditefrage; nämlich – seiner Profession als Vorsitzender einer deutschen Industriegewerkschaft entsprechend – eine industriepolitische Innovation, auf die der Standort schon lange gewartet hat:

„Die Neuartigkeit des Ansatzes zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass VW den Mut besessen hat, bei der anstehenden Planung des neuen Werkes in einem ganzheitlichen Ansatz alle relevanten Elemente von Automobilproduktion auf den Prüfstand zu stellen.“ (Alle Achtung, meint der Gewerkschaftsboss: Die trauen sich glatt an die althergebrachten Lohnformen heran, wenn es ihnen um ihren Vorteil geht… – Oder wie meint er es sonst? So:) „VW hat versucht, im Zusammenspiel der einzelnen Bereiche alles zu optimieren – eben in einem integrierten Geschäftsprozess –, d.h. von der Bestellung über die Anlieferung des gesamten Vormaterials, über die eigentliche Produktion im traditionellen Sinne, bis hin zur Auslieferung des Produktes an den Kunden.“ (Und was geht das die Gewerkschaft an? Viel; denn die zerbricht sich ständig den Kopf der Unternehmer:) „Diese Vorgehensweise deckt sich in vielen Punkten mit der Einschätzung und den Positionen der IG Metall, die sie bereits 1998 thesenartig zusammengefasst als eine Entwicklung von der Automobilindustrie hin zur Automobilwirtschaft dargestellt hat. Sie gehen davon aus, dass der klassischen Automobilproduktion relativ eine immer geringere und den anderen vor- und nachgelagerten Bereichen entlang der Wertschöpfungskette eine immer größere Bedeutung zukommt. Insofern hat VW einen innovativen Vorschlag unterbreitet.“

Die Gewerkschaftsspitze registriert also durchaus, dass es bei dem VW-„Modell“ um eine neue Variante der kapitalistischen Herrichtung des Standorts geht. Zu diesem Vorstoß besitzt sie jedoch, und das schon seit drei Jahren, eine eigene Lesart, die es ihr erlaubt, sich mit einem eigenen industriepolitischen Konzept zustimmend einzubringen. So beweist sie sich einmal mehr als Säule der kapitalistischen Gesellschaft, auf die doch niemand ernstlich will verzichten können:

„Die Diskussion um die Zukunft der Automobil-/Industrieproduktion hat erst begonnen. Die bislang äußerst konstruktive und innovative Art und Weise, mit der VW in Zusammenarbeit mit der IG Metall schon oft zukunftsweisende Lösungen gefunden hat (z.B. 28,8-Stunden-Woche), ist eine gute Grundlage dafür, dass es auch dieses Mal gelingen wird, das Projekt letztlich zu einem Erfolg für alle Beteiligten werden zu lassen. Ich gehe davon aus, dass die Würfel noch nicht gefallen sind.“ (FR, 2.7.)

Die für ein Nein der Gewerkschaft sind es jedenfalls nicht – nur die verflixte Sache mit dem demonstrativ ausgehebelten Tarifvertrag muss sie noch loskriegen. Dann steht der innovativen Lohnform des VW-Konzerns Lohn für Rendite nichts mehr im Weg.

[1] Ganz in diesem Sinne rechnet der zuständige Arbeitsdirektor dem Spiegel mit professionellem Zynismus vor, dass einer, der sich an einem der neuen Arbeitsplätze ausbeuten lässt, per Saldo kaum im Betrieb sein muss: Wir verlangen nichts Unmenschliches …Bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren, von denen rund 40 mit einer durchschnittlichen Jahresarbeit von 1500 Stunden gearbeitet werden, verbringt man weniger als ein Zehntel seines Lebens mit Arbeit. (Spiegel, 21/01) Zählt man dann noch die 9 Monate als werdender Staatsbürger im Mutterleib hinzu und berücksichtigt die Tatsache, dass die Einstellung auf einen der 5000er-Plätze erst einmal auf 3 Jahre befristet ist, dann stellt sich heraus, dass der Arbeiter fast gar nicht dem Betrieb gehört. Dass er ihm eigentlich komplett zur Verfügung zu stehen hätte, ist in der Rechnung freilich fest vorausgesetzt; sonst stellt man sie nämlich gar nicht an. Ähnlich dialektisch verhält es sich mit der menschenfreundlichen Einrichtung, die der Mann sich für die paar Prozente Lebenszeit ausgedacht hat, die ein 5000er dann doch im Unternehmen verbringt: Die neuen Mitarbeiter sollen eine besondere Rolle im Konzern wahrnehmen, auch äußerlich, gewissermaßen als Arbeitnehmer der Zukunft. Sie erhalten einen mobilen PC sowie eine spezielle Arbeitskleidung, die mit Sensoren für Blutdruck und andere Werte ausgestattet ist. So fest kalkuliert das Unternehmen mit seinen inskünftigen Arbeitskräften als seinen puren Anhängseln, dass es ihnen sogar die Rücksicht auf ihre Gesundheit abnimmt und elektronisch die Wahrnehmungs- und Kommunikationsorgane wachsen lässt, die sie für ihre „vernetzte“ Gruppenarbeit in dem aufgenötigten Perfektionsgrad benötigen. Offenbar will der Erfinder der neuen zukunftsweisenden Lohnform „Programmentgelt“ den total subsumierten „Arbeitnehmer der Zukunft“ nicht bloß haben – er kann ihn sich glatt schon bildhaft vorstellen!

[2] Wir messen uns nicht mit dem Flächentarifvertrag und nicht mit dem Haustarifvertrag. Unsere Messlatte sind die günstigeren VW-Standorte außerhalb Deutschlands. (Hartz)

[3] Darin, dass ausgerechnet VW mit seiner zu 90 Prozent in der IG Metall organisierten Belegschaft seinen ‚Torpedo‘ zum Angriff auf VW-Haus- und Flächentarifvertrag (Zwickel) abfeuert, entdeckt Die Zeit folgendes Kalkül der Arbeitgeber: Ein Modell, das sich hier durchsetzen ließe, würden die Gewerkschaften an Orten, an denen sie schwächer sind, nicht ablehnen können. (5.7.)

[4] Ausnahmsweise verständnisvoll die Süddeutsche Zeitung: Für die Gewerkschaft bedeutet das Wolfsburger Pilotprojekt, dass erstmals mitten in ihrem Tarifgebiet eine Insel entsteht, auf der sie keinen Einfluss mehr hat. (30.6.)

[5] Der zuständige Arbeitsdirektor jedenfalls ist sich seiner Sache absolut sicher: Wir haben den Begriff sozial bei VW neu definiert: als das Erhalten und Schaffen von Arbeitsplätzen und das Erhalten der wettbewerbsorientierten Beschäftigungsfähigkeit der Belegschaft. (Hartz in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau, 15.5.) Auf so einen Gedanken muss man auch erst einmal kommen: Die Belegschaft braucht die Fähigkeit, nach Maßgabe des Konkurrenzerfolgs der Firma beschäftigt zu werden. Oder: sich zu beschäftigen? Gleichviel: Genau dafür wird sie nach dem neuen „Modell“ bezahlt.