Fragen, die die Welt bewegen
Kann man heute noch links sein?
Die linke, eloquent ausgebreitete Selbstaufgabe wirft ein schlechtes Licht auf die Logik der bisherigen Kapitalismuskritik: vom berechtigten und geschichtlich notwendigen Kampf über die eigene Rechtfertigung mit der Machbarkeit eines realen Sozialismus zur Enttäuschung über dessen letztlich doch bloße Fiktivität. In diesem Licht erscheint der Kapitalismus, weil real, schlagartig viel besser als früher gedacht, und Linke können als moralisch glaubwürdige und verantwortliche, also konstruktive Kritiker endgültig ihren Frieden mit ihm schließen.
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Gliederung
- Linke Logik: Der Reale Sozialismus dankt ab. Der Kapitalismus wird immer wüster. Also: Kritik erledigt.
- Linke Kritik: Kampf um Glaubwürdigkeit im Wandel der Zeiten
- Linker Internationalismus: Sozialismus real, also möglich
- Linke Perspektive: Beachtung in der bürgerlichen Öffentlichkeit
- Linke Bewältigung der Glaubenskrise: Sozialismus fiktiv, Kapitalismus real, also besser als gedacht
- Linkssein heute: Arbeitsbeschaffungsprogramm für Linke, die sich selber wegrationalisiert haben
- Linkes Leben nach dem Tode: Ein selbstgenügsames Sondereckchen im Paradies der Mitbeteiligung am öffentlichen nationalen Leben
Fragen, die die Welt bewegen
Kann man heute noch links sein?
Der deutsche Staat verpaßt den Ostlern ein Billiglohnniveau samt rapide steigenden Kosten und bedient sich mit Steuern und Sozialkassen rücksichtslos am Westlohn. – Linke, die jahrelang vom ausbeuterischen Charakter des Kapitalverhältnisses geredet haben und Sozialstaatsillusionen beseitigen wollten, entdecken jetzt, daß der Kapitalismus Marke Deutschland eine relative Wohlstandsinsel ist.
Das gewachsene Deutschland beansprucht weltpolitische Aufsichtsrechte auf dem Balkan und anderswo, plant Kriegseinsätze und gibt sich den entsprechenden Grundgesetzauftrag. – Ehemalige linke Kritiker eines aggressiven Imperialismus diskutieren über die gewandelten weltpolitischen Pflichten einer vergrößerten Nation.
Deutsche Politiker streiten vereint um den effektivsten Weg, unerwünschte Massen von Deutschland fernzuhalten und dem Elend in ihren Heimatländern zu überantworten. – Linke Ausländerfreunde, die ehemals den Internationalismus hochleben ließen, diskutieren passende Zuzugsquoten im Dienste multikultureller Humanität.
Die USA bomben den Irak zusammen. – Linke, die zu Zeiten des Vietnamkriegs gegen die Unterdrückung der Völker demonstriert haben, finden, daß deutsche Mitverantwortung verlangt ist wegen der deutschen Judenvernichtung.
Die bürgerliche Öffentlichkeit vertritt mit seltener Offenheit, daß soziale Opfer bedauernswerte, aber unausweichliche Begleiterscheinungen sind, wo Arbeitsplätze rentabel sein müssen und sich die Nation im internationalen Wettbewerb zu behaupten hat. – Linke halten es für völlig abwegig, die kapitalistische Notwendigkeit solcher Opfer zu zeigen, und erklären sie zu Folgeproblemen einer erstaunlich leistungsfähigen Marktwirtschaft.
Die Macher und Ideologen eines weltumspannenden Kapitalismus feiern die Durchsetzung ihrer Staatsräson als Beweis für die Richtigkeit ihrer Ideologien von Marktwirtschaft, Wohlstand, Demokratie und Freiheit. – Ideologiekritische Linke wissen auf einmal genau, daß Marx’ Kapitalismuskritik ideologisch und veraltet ist.
Im Osten hält mit dem Streben nach Marktwirtschaft nie gekannte Armut Einzug. Die imperialistische Welt führt sich, weil ökonomisch erfolgreich und politisch siegreich, rücksichtslos wie nie auf. – Linke sehen über die Folgen hinweg und stellen die selbstzweiflerische Frage: Kann man heute noch links sein?
Wieso das? Warum wollen Linke den Ausgangspunkt linker Kritik, die geschädigten Interessen der für Lohn arbeitenden Leute, nicht mehr entdecken? Warum treten sie mit Stellungnahmen an, die eigentlich ins Arsenal ihrer Feinde gehören?
Linke Logik: Der Reale Sozialismus dankt ab. Der Kapitalismus wird immer wüster. Also: Kritik erledigt.
Linke geben selber die Antwort: Kapitalismuskritik ist diskreditiert, seit die SU gescheitert ist.
Ein denkbar schlechtes Argument.
Der Gegenstand linker Kritik hat sich mit dem Verschwinden des Realen Sozialismus nicht geändert. Den Massen hier geht es kein bißchen besser und denen in den neuen Oststaaten schon gleich nicht. Umgekehrt ist die Sache des Sozialismus dadurch keinen Deut schlechter geworden, daß eine Herrschaft, die in seinem Namen ausgeübt wurde, gescheitert ist.
Im übrigen ist die Sowjetunion nicht gescheitert. Immerhin hatte sie es zur alternativen Weltmacht mit einigen Erfolgen an der Produktionsfront und einer nach westlichem Geschmack viel zu schlagkräftigen militärischen Ausstattung gebracht. Sie wurde von ihren Machern aufgegeben. Der Erfinder der Perestrojka und seine Nachfolger erst recht haben Maß genommen am Staatsreichtum des Westens, den reichtumsfördernden Qualitäten der Marktwirtschaft und der Funktionalität demokratischer Prozeduren für die Freiheit des Regierens. Deswegen haben sie die alte Vorstellung, soziale Errungenschaften fürs Volk würden eine bessere Herrschaft begründen, für überholt befunden. Der Westen hat dazu nicht wenig beigetragen. Schließlich hat er mit dem Realen Sozialismus keinen friedlichen Wettbewerb um das überzeugendere System ausgetragen. Er hat seine überlegenen Methoden, das Volk für die Vermehrung des Privat- und Nationalreichtums einzuspannen, sein militärisches Bedrohungspotential und seinen unversöhnlichen Willen in die Waagschale geworden. Davon haben sich die Ostblockführer beeindrucken lassen, nur sicher nicht unter dem Gesichtspunkt, ihre Arbeiter und Bauern damit besser zu stellen.
Wenn Gorbatschow den alten Staat kaputtreformiert und Zustände herbeiregiert hat, die jedem Gegner der „Marktwirtschaft“ recht geben, ist das kein Argument gegen Sozialismus. Nicht für Parteigänger der alten Sowjetunion. Und auch für Linke nicht, die sowieso für die Sowjetunion nichts übrig hatten.
Aber für Linke jeder Richtung ist es ein Argument, und nach eigener Auskunft das entscheidende. Sie fragen nicht nach den Gründen, warum das alte Programm der SU nicht mehr gehen soll. Sie kritisieren nicht die vom Westen abgeschauten Maßstäbe. Für sie zählt nicht das neue Massenelend. Für Anhänger wie Nichtanhänger der Sowjetunion zählt einzig, daß es sie nicht mehr gibt. Sie betrachten die Selbstaufgabe wie eine unabweisbar notwendige Entwicklung. Und diese Entwicklung kritisieren sie nicht, sondern bescheinigen ihr, weil sie passiert ist, gute Gründe, denen sie sich nicht entziehen können. Damit bekennen sich ausgerechnet Linke zu einer Grundlüge aus dem Arsenal ihrer politischen Gegner: Daß der Erfolg recht gibt und die Bewährung der Macht mit ihren Mitteln über die Güte der Sache entscheidet. Das Grunddogma geschichtlicher Betrachtung – die überlegene Gewalt setzt sich nicht bloß durch, sondern ist damit auch gerechtfertigt, die unterlegene widerlegt – ist der Ausgangspunkt linker Selbstkritik.
Das wirft ein schlechtes Licht auf ihre Kapitalismuskritik von gestern.
Linke Kritik: Kampf um Glaubwürdigkeit im Wandel der Zeiten
Linke haben immer schon daran glauben wollen, daß ihre Kapitalismuskritik mehr darstellt als die Einwände, die sie vorzubringen haben. Kritik haben sie nur dann für überzeugend gehalten, wenn sie beweisen können, daß es gar nicht bloß ihre ist, sondern daß sie einem allgemeinen Bedürfnis der Verhältnisse entspricht, gegen die sie sich richtet. Sie sollte unabhängig von ihnen beglaubigt sein, damit sie selber an sie glauben können. Die Einsicht, daß Kritiker des Systems nicht mehr auf ihrer Seite haben als das Interesse, sich diesen Verhältnissen nicht anzubequemen, und die guten Gründe für dieses Interesse, die sie an den Mann bringen können, war ihnen zuwider. Einfach Dagegensein erschien ihnen verantwortungslos, perspektivlos und destruktiv. Kritik haben sie als Auftrag verstanden, den ihnen die Verhältnisse erteilen und als dessen Stellvertreter sie sich zu Wort melden. Deshalb haben sie die Überzeugungsarbeit, die Kritiker mit Argumenten bei ihren Adressaten zu leisten haben, mit dem Nachweis verwechselt, daß alles, was Linke einzuwenden haben, eigentlich getrennt von ihnen schon als notwendiges, tätiges und anerkanntes, eben als höheres und nicht nur ihr Interesse vorhanden ist. Sie haben sich als Anwalt einer besseren Alternative zum Kapitalismus verstanden, die in ihm schon längst auf der „Tagesordnung“ steht. Davon waren sie überzeugt und damit wollten sie überzeugen.
Entsprechend haben sie untereinander diskutiert. Sie haben sich wechselseitig mit der Frage traktiert, welchen Berechtigungsausweis jemand eigentlich auf seiner Seite hat. Das war ihnen viel wichtiger als die Klärung der einzig entscheidenden Frage, ob ihre Kritik stimmt. Linke haben sich lieber mit dem endlosen Palaver über die Bedingungen der Möglichkeiten linker Politik befaßt als mit den Weltenläuften und deren Erklärung. Die Welt haben Linke sich umgekehrt so zurechtgelegt, daß sie an ihre Mission glauben konnten. Den Gegensatz ihrer Auffassungen zum gängigen Treiben und Meinen haben sie mit der methodischen Vorstellung geleugnet, sie seien „Ausdruck“ eines allgemeinen Drangs nach besseren Zuständen, der für die Berechtigung ihres Anliegens bürgt. Diesen Drang haben sie aus den politischen Verhältnissen allenthalben herausinterpretiert und sich darauf berufen.
Die Betroffenen wollten sie mit der Auskunft betören, Linke würden nur sagen, was das Volk mit seinem Drang nach Gerechtigkeit sowieso schon denkt. Dem Genörgel demokratischer Bürger, das – gar nicht umstürzlerisch – nach besserem Regieren verlangt und am Ende immer nur zum Wählen taugt, haben sie das heimliche Verlangen der Massen nach einer anderen Herrschaft abgelauscht, einer, die endlich die Ideale guter Politik so ernst nimmt, wie es die Linken tun. Im Namen der Massen, die danach gar nicht verlangt haben, haben sie „wahre“ Demokratie, „echten“ Sozialstaat und „wirkliches“ Allgemeinwohl gefordert. Die Kritiker haben sich damit als Spiegelbild der gängigen Politikertour aufgeführt, sich als Anhänger ihrer Anhänger auszugeben, denen man auf diese Tour beibringt, was politische Sache ist. Auch Linke haben mit dem Gestus, sie hätten dem Volk ins Herz geschaut, den Massen ihr angeblich wahres, d.h. linkes Interesse vordefiniert, statt überzeugende Gründe dafür vorzubringen.
Die Berechtigung dieses erfundenen Allgemeininteresses haben Linke allerdings für kein ausreichendes Argument gehalten. Es sollte außerdem auch noch notwendig sein – und zwar im selben Sinne, wie die bürgerliche Öffentlichkeit gültige politische Interessen in einen Dienst an höheren Erfordernissen verwandelt. Ihre Kritik sollte Ausdruck einer geschichtlichen Tendenz sein, die auf Abschaffung des Kapitalismus drängt. Kritik haben sie mit der Auskunft verwechselt, daß die kritisierten Verhältnisse nicht funktionieren können, und aus den periodischen Krisen, also den Konjunkturen des Kapitalwachstums, die Krise des Kapitalismus „erschlossen“. Damit hat sich allerdings auch das Objekt ihrer Anteilnahme verändert: Statt der sozialen Anliegen der Arbeiter und Bauern kommt durch die kapitalistische Reichtumsvermehrung die kapitalistische Gesellschaft selber zu Schaden. So haben sie sich auf den öffentlichen Sorgestandpunkt um den Fortgang von Wirtschaft und Nation gestellt und ihn bloß negativ beschieden. Der Hauptvorzug des Sozialismus war demnach, daß er als einziger geht und sowieso unausweichlich ist.
Mit der Berufung auf Marx haben sie dem humanen Anliegen, das geschichtlich ansteht, die Weihen theoretischer Beglaubigung verleihen wollen. Entsprechend interessiert haben sie Marx gelesen: Seinen Frühschriften haben sie das menschenfreundliche Anliegen entnommen; dem „Kapital“ vor allem die Untergangsprognosen, aber auch die philosophische Einsicht, daß der Mensch im Kapitalismus „entfremdet“ ist, also seine Würde und andere höhere Werte leiden. Marx wurde zum Zeugen dafür hergerichtet, daß es Linken letztlich nur um das Soziale, die Gerechtigkeit, das Gute geht – und die sowieso siegen werden. So paßt ihre Gesellschaftskritik als Fortschrittsglaube sogar in die Tradition polit-philosophischer großer Geister.
Schließlich sollte das gerechte, fortschrittliche, geistig fundierte Anliegen auch schon eine politisch wirksame Kraft in der Gesellschaft unabhängig von den linken Bemühungen sein. Linke haben von Tarifauseinandersetzungen bis zu sozialdemokratischen Jungpolitikern allenthalben „Bewegungen“ und „Widerstand“ am Werk gesehen, an die sie „anknüpfen“ können. Was die „Arbeiterkämpfe“ fürs Kapital, was für die Arbeiter gebracht haben und daß die „oppositionellen Kräfte“ sich entschieden gegen „linke Unterwanderung“ gewehrt haben, war vergleichsweise unwichtig bei ihrer Einschätzung eines „Kräfteverhältnisses“ zwischen rechts und links. Dessen eingebildete Veränderungen sollten beeindrucken und haben doch bloß den hoffnungslosen Selbstbetrug zutage gefördert.
Linker Internationalismus: Sozialismus real, also möglich
Linke haben es ohne Massenzuspruch im erfolgreichen Kapitalismus trotzdem ausgehalten. Tatsächlich haben sie sich gar nicht wirklich unter die Maßstäbe gestellt, die sie für ihre Glaubwürdigkeit ins Feld geführt haben. Sie haben die mangelnde Resonanz so gedeutet, daß es nur am Glauben an die bessere Alternative fehlt, weil Zweifel an ihrer Machbarkeit bestehen. Die Parteilichkeit für die Verhältnisse haben sie sich genau umgekehrt erklärt: Die Mehrheit ist bloß für den Kapitalismus, weil sie meint, daß nichts anderes geht. Also wollten sie den Beweis antreten, daß es doch geht. Ein sehr unkritisches Bedürfnis: Da kümmern sich Linke nämlich nicht mehr um die Zustände, die sie angreifen, klären ihre Kritik- und die Ansatzpunkte, wie sie aus den Angeln zu heben sind, und versuchen, Betroffenen die Notwendigkeit ihrer Lage zu erklären und sie so zu gewinnen. Statt dessen soll die Möglichkeit der Veränderung – an der außer ihnen überhaupt keiner zweifelt – das Interesse stiften, für Veränderung einzutreten. Damit ziehen Linke sämtliche Gründe für ihre Gegnerschaft in Zweifel und arbeiten sich an der Frage ab, ob das, was sie wollen, überhaupt in der Welt, wie sie ist, vorstellbar und einsehbar ist. Sie rechtfertigen sich mit ihrem Anliegen, irgend etwas anders machen zu wollen, vor sich selber und der Welt, problematisieren daran herum, ob es überhaupt geht, und behandeln es damit selber wie einen frommen Wunsch, es doch einmal anders, besser zu versuchen. So arbeiten sie sich an dem Vorwurf ab, daß Kritiker „unrealistisch“ sind, ohne bemerken zu wollen, daß damit die bestehenden Verhältnisse für das einzig Machbare erklärt werden, weil ihre Veränderung nicht erwünscht ist.
Mit diesem Idealismus, der durch Realismus überzeugen will, haben Linke sich durch die Sowjetunion samt dem durch sie gestifteten weltpolitischen Lager beglaubigt gesehen. Die SU zeugte zwar keineswegs vom antikapitalistischen Drang des Volkes hier, hat auch den Kapitalismus nicht zum Scheitern gebracht, hat aber im Namen des Sozialismus und der Massen eine politische Alternative errichtet. Das hat es Linken angetan, unabhängig davon, was die Sowjetunion alles geleistet und verbrochen hat. Sie waren mehrheitlich nicht einmal Anhänger des Realen Sozialismus, haben an ihm kein gutes Haar gelassen, und haben ihm dennoch die Funktion eines historischen Beweises zugestanden: Eine Alternative ist möglich, egal wie schlecht auch immer sie aussieht. Das sollte überzeugen, auch wenn die eigenen Vorstellungen vom Sozialismus ganz anders geartet waren. Sowohl die linken Gegner der SU, die ihr jetzt nachtrauern, wie ihre linken Parteigänger, die sich nicht mehr für sie stark machen wollen, haben an ihr vor allem eins geschätzt: Daß sie „real“ war. Damit war sie in den Augen der Linken das beweiskräftige Dokument dafür, daß der Kapitalismus, nein, nicht kritikabel, sondern kritisierbar ist, weil Sozialismus machbar ist.
Vom Willen, ihn zu machen, kann also keine Rede sein: Ohne die Vorstellung, sie hätten schon eine Macht auf ihrer Seite, die Eindruck macht, kommen sich Linke unglaubwürdig vor. Auch wenn es gar nicht die ihre ist und auch nicht die, die sie meinen. Die Sache des Sozialismus haben sie weniger bei ihrem eigenen Wirken in ihrer eigenen kapitalistischen Gesellschaft oder dem beschworenen Widerstand der Massen, sondern bei der weltpolitischen Auseinandersetzung zwischen den Blöcken beheimatet gesehen. Das Kräfteverhältnis zwischen den Weltmächten hat sie mehr interessiert als der Stand der Dinge zwischen geschädigten Massen und ihren Arbeitgebern und nationalen Führern. Die Lage der Arbeiter, Bauern, Arbeitslosen und Sozialfälle haben sie vom Standpunkt der Machthändel aus beurteilt, in denen die Völker als Manövriermasse dienen. Sie waren alternative politische Beobachter; ihre Anteilnahme galt dem Ringen der verfeindeten Weltmächte um die Führungsrolle in der Weltpolitik. Das haben sie nicht beurteilt, sondern interpretiert: Sie haben die Machtauseinandersetzung wie ein von allen handfesten staatlichen Gegensätzen und Berechnungen getrenntes „welthistorisches“ Ringen aufgefaßt, in dem sich die Überlegenheit des einen oder anderen Systems beweist; nicht bloß auf dem Feld, auf dem in den Sphären politischer Gewalt Erfolge errungen werden, sondern für die Überlegenheit der politischen Ideen, in deren Namen die Systemauseinandersetzung geführt worden ist. Die Systemkonkurrenz war für sie das höhere Schiedsgericht über die Glaubwürdigkeit ihres Eintretens für Sozialismus; der Sozialismus also eine Herrschaftsangelegenheit und keine der Massen.
Linke Perspektive: Beachtung in der bürgerlichen Öffentlichkeit
Und keine, die sie in die Hand nehmen wollten. Sie sollte anerkannt werden. Das unterscheidet sie von den Bolschewiken, die im Namen derselben Berufungstitel aktiv geworden sind. Die russischen Revolutionäre haben nicht darauf gewartet, daß die Massen sich zu ihrer Vorhut bekennen, sondern sich zur politisch bestimmenden Kraft gemacht; sie haben nicht auf den Untergang der alten Gesellschaft gehofft, sondern die „Geschichte“ in die Hand genommen; Gerechtigkeit nicht bloß eingeklagt, sondern durchsetzen wollen, also das alte Rußland zerschlagen. Das Bemühen hiesiger Linker war weniger umstürzlerisch gelagert. Sie wollten sich nicht Geltung verschaffen, sondern zugesprochen bekommen. Sie wollten die vielbeschworenen Massen gar nicht gewinnen, sondern als gesellschaftliche Kraft gewürdigt werden von den berufenen demokratischen Sprachrohren, der bürgerlichen Öffentlichkeit.
Das sind sie in gewissem Sinne auch. Nicht weil die Unzufriedenheit der Massen nach irgendeinem Sozialismus gedrängt hätte, nicht weil der Kapitalismus mit seinen Krisen nicht mehr weitergewußt hätte, und nicht einmal weil die Sowjetunion ihn in die Schranken gewiesen oder gar Linke, die mehrheitlich von ihr gar nichts wissen wollten, mit Macht ausgestattet hätte. Sondern weil die Sowjetunion Eindruck auf die demokratische Öffentlichkeit gemacht hat. Die Auseinandersetzung des kapitalistischen Westens mit dem realsozialistischen Block hat nicht bloß die Weltpolitik bestimmt, sondern auch die ideologischen Veranstaltungen der nationalen Politikbegutachter. Die haben der Existenz des feindlichen Blocks manchen Anlaß zur Sorge um den Bestand und Erfolg der eigenen Herrschaft und den Auftrag entnommen, das eigene System zu legitimieren sowie die Alternative gebührend schlecht zu machen. Sozialismus und soziale Marktwirtschaft waren daher Dauergegenstand des „Systemvergleichs“, einer ideologischen Auseinandersetzung der Machart, wie Parteigänger der eigenen politischen Herrschaft und Zensoren staatsschädlichen Denkens und Forderns sie eben zu führen pflegen. Der Osten wurde an den westlichen Propagandatiteln – Effektivität, Wohlstand, Freiheit, Demokratie, soziale Sicherheit – gemessen und blamiert, manches Ungenügen der eigenen Seite zugestanden, um dann beim vorher feststehenden Ergebnis zu landen, daß am Kapitalismus letztlich doch kein Weg vorbeiführt. Marx wurde als Sozialphilosoph, Wissenschaftstheoretiker, unmöglicher Ökonom, Ahnvater östlichen Terrors ein- und ausgegrenzt, auf jeden Fall aber im Munde geführt. Allenthalben wurde die Demokratie dem Schein nach dem Anspruch ausgesetzt, sich an dem Bedürfnis nach sozialen und sonstigen Verbesserungen zu bewähren, um dann auf die Unterscheidung zwischen berechtigten Anliegen und undemokratischen, staatsfeindlichen Ansprüchen zu dringen. Die Ideale einer schöneren politischen Welt wurden anerkannt, um sie abzuschmettern. Gewerkschaftliche Forderungen nach gerechtem Lohn und mehr Sozialstaat wurden mit sozialistischen Fortschrittsperspektiven überhöht oder mit Verdacht belegt, unliebsame Protest- und Bürgerbewegungen der kommunistischen Umtriebe bezichtigt. Weil jede öffentliche Beschwerde, jedes ausgemachte gesellschaftliche Problem auf die Alternative Sowjetunion und das Firmenschild „Sozialismus“ bezogen wurde, war der Dauerthema der öffentlichen Befürchtungen, Rechtfertigungen und Zensurveranstaltungen.
Aus diesen ideologischen Bemühungen der demokratischen Öffentlichkeit, nicht aus der Macht der Arbeiterbewegung und dem Zuspruch bei den Massen haben Linke ihr Selbstbewußtsein bezogen, mit ihren Ideen eine gesellschaftlich wirksame Kraft zu sein. Den laufenden Systemvergleich und die in seinem Lichte veranstalteten sorgenvollen Deutungen des demokratischen Beschwerde- und Antragswesens haben sie zum Ausweis für die Selbstzweifel des Systems und die zeitgemäße Berechtigung ihrer Alternative uminterpretiert. Die politmoralischen Spiegelungen der nationalen Interessen und Sorgen in der Öffentlichkeit haben sie wie wahre Auskünfte über das politische Leben genommen. Die Selbsttäuschung der Öffentlichkeit, daß die Nation im Dienste höherer Werte unterwegs und sie der berufene Kontrolleur ihrer Erfüllung sei – auf diese moralisierende Weise macht sich die bürgerliche Öffentlichkeit für nationale Interessen stark –, war das linke Lebenselixier. Linke haben also an die demokratische Lüge geglaubt, daß die Öffentlichkeit den Gang der Politik bestimmt, und in ihr eine anerkannte Rolle spielen wollen. Das war die Macht, auf die sie aus waren und die sie sich eingebildet haben.
Daß die öffentliche Dauerdebatte eine Absage an das einschlägige Gedankengut war, konnte Linken mit ihrem Drang, eine Kritik vorstellig zu machen, nach der allgemeiner Bedarf besteht, allerdings auch nicht ganz verborgen bleiben. Ebensowenig, daß sich das geheuchelte öffentliche Interesse an einem demokratischen Aufbruch hin zu neuen Ufern mit den Fortschritten der Nation und den Erfolgen bei der Ostaufweichung mehr und mehr gelegt hat. Die sich wandelnden Konjunkturen der öffentlichen Sorgen und der schwindende Zuspruch im Umkreis der Intellektuellenszene hat bei den Linken deshalb frühzeitig den unstillbaren Selbstzweifel genährt, doch nicht ganz auf der Höhe der Zeit zu sein. Mit dessen ständiger Widerlegung haben sie sich daraufhin intensiv befaßt – durch Anpassung an die Öffentlichkeit. Die jeweils öffentlich besprochenen gesellschaftlichen „Probleme“ haben sie zum Inhalt ihres kritischen Interesses gemacht. Der Kapitalismus scheiterte eben nicht mehr an seinem Klassengegensatz, sondern an Friedens- und Umweltproblemen. Insbesondere die Feindseligkeit gegen ihre Beglaubigungsinstanz für die Möglichkeit des Sozialismus hat ihnen zu denken gegeben, weil sie daran festgehalten haben, daß Demokraten ihre Auffassungen aus dem Systemvergleich beziehen und nicht umgekehrt mit ihm ihre feststehende Parteilichkeit bebildern. Allen Beschwerden über den Antikommunismus zum Trotz haben sie ihm recht gegeben. Die einen haben mit einer Ausmalung der Vorzüge des Ostens überzeugen wollen, damit die reale Alternative auch für eingefleischte Frontstaatbürger als farbenprächtiges Vorbild erschien. Die große Mehrheit hat Sowjetunion und DDR die Schuld gegeben, daß sie für den Wunsch deutscher Linker nach öffentlicher Anerkennung so wenig leisteten. Weil hier oppositionelle Regungen der Staatsfeindschaft verdächtigt und mit dem Ruf „Geh doch nach drüben!“ abgeschmettert worden sind, haben sie dem Osten vorgeworfen, linke Kritik verdächtig zu machen – und haben sich öffentlich vom Realen Sozialismus distanziert. Interessiert hat Linke eben nicht die Sowjetunion, sondern der Eindruck, den sie macht, und der Zuspruch, den die Idee des Sozialismus durch sie im öffentlichen Bewußtsein gewinnen sollte.
Linke Bewältigung der Glaubenskrise: Sozialismus fiktiv, Kapitalismus real, also besser als gedacht
Jetzt ist der Osten abgetreten. Die Öffentlichkeit gefällt sich in der Zurschaustellung westlicher Siegesgewißheit. Sie rechnet mit ihren eigenen feindseligen Systemvergleichen ab, als ob sie viel zu viele Umstände um eine von Anfang an zum Scheitern verurteilte Sache gemacht hätte, und sonnt sich in der demonstrativen Gewißheit, daß es zu Demokratie und Marktwirtschaft keine Alternative gibt.
Und die Linken? Es ist, als wollten sie sich nachträglich dazu bekennen, daß die Konkurrenz der Systeme und der aus ihr geborene Systemvergleich der Grund gewesen ist, sich hier als radikaler Kritiker zu Wort melden zu wollen. Wo diese Umstände wegfallen, die um die ideologische Rechtfertigung des Westens gemacht worden sind, sehen sie sich der Berechtigung fürs Einwändemachen beraubt und halten sich deshalb für widerlegt. Für sie hat sich mit dem Verschwinden des Ostblocks die ganze Welt völlig geändert, so daß sie ihre Kritik von gestern gar nicht mehr verstehen können. Ihre gescheiterte Prognose verleitet sie nicht zu dem schlichten Urteil, daß es dann wohl leider nichts gewesen ist mit ihrer Hoffnung auf die selbsttätige Heraufkunft des Sozialismus. Als Beobachter des Kräfteverhältnisses sind sie nicht verzweifelt, sondern bekehrt. Ihr Bedürfnis, Ausdruck der Zeit sein, ist ungebrochen, auch wenn es gar nicht mehr die ihre ist. Sie widerrufen ihre alten Auffassungen über die Verhältnisse und erklären sie zu einer einzigen Täuschung, wie wenn die Verhältnisse ihnen eine neue Sichtweise diktieren würden. Jetzt fällt ihnen auf, daß all die Realitäten, die sie sich zur Beglaubigung ihres Anliegens eingebildet haben, bloße Einbildungen gewesen sind. Nicht, weil sie sie durchschaut haben, sondern weil sie sich zu den Einbildungen der demokratischen Öffentlichkeit bekehren. Das Scheitern ihrer Gewißheit, daß der Sozialismus möglich ist, machen sie zur neuen Bestimmung der Welt. Die sieht von daher ziemlich spiegelverkehrt aus:
Der Sozialismus ist gescheitert, also ist er unmöglich – und zwar mit dem ganzen moralischen Doppelsinn des Wortes, den Linke immer dazugedacht haben: historisch verfehlt, ineffektiv und unsozial. Im verflossenen Realen Sozialismus entdecken Linke jetzt nur noch die systembedingten Schattenseiten einer unzeitgemäßen Herrschaft, die bisher dem realen Kapitalismus anhaften sollten – mit ein paar verschämten Öffnungsklauseln bezüglich der nicht ganz zu ignorierenden guten Absicht. Am realsozialistischen Staatsprogramm, das sich nicht bloß formell dem Dienst am Volk verschrieben hatte, bemerken sie jetzt nur noch die enttäuschten Erwartungen, die unmöglichen Versprechungen und die sinnlose Gewalt, auch wenn es gar nicht einleuchtet, daß ein politisches System ausgerechnet an seiner Gewalt zugrundegegangen sein soll. Damit bestreiten sie der ehemaligen Sowjetunion das moralische Gütesiegel, auf das die Ostkommunisten und hiesige Sozialismusfans immer den größten Wert gelegt haben: 70 Jahre SU sind jetzt nur noch eine einzige Fiktion einer sogenannten „realen“ Alternative.
Umgekehrt stellt sich für Linke jetzt der Kapitalismus wie die Realität dessen dar, was sie sich vormals als ihr Sozialismusideal gedacht haben, bloß noch mit ein paar Öffnungsklauseln. Früher haben sie den Kapitalismus nicht wegen seiner Leistungen und der darin eingeschlossenen Opfer kritisiert, sondern ihm ganz methodisch lauter aus der Hoffnung auf sein gerechtes Scheitern geborene negative Attribute verliehen – unsozial, also ungerecht, also ineffektiv, also geschichtlich überholt, also letztlich unmöglich. Im Lichte ihrer enttäuschten Hoffnung lesen sie dieselbe moralische Gleichung jetzt rückwärts und mit positiven Vorzeichen: erfolgreich, also geschichtlich lebendig, also effektiv, also sozial – kurz: Er ist die reale Alternative zu ihrem fiktiven Gegenmodell, bei der sich alle ihre Berufungstitel besser aufgehoben finden, so daß bei ihm vor lauter Sinn die Gewalt ganz verschwindet.
- Die Erledigung der SU und der Anschluß der DDR ist Ausdruck der Massenbedürfnisse, also muß der Kapitalismus sozialer als gedacht sein. Lieber kritisieren Linke sich selber als die verrücktesten Erwartungen von aufgehetzten Zonis. Lieber nehmen sie von ihrer Vorreiterrolle Abstand, als den Drang nach Marktwirtschaft infrage zu stellen, mit dem sich Ex-DDRler zur Manövriermasse ihrer neuen Herren machen. Seit neuestem haben deutsche Arbeiter erstaunliche soziale Perspektiven, weil Linke zwischen Erwartungen der Massen und wirklichen Verhältnissen nicht mehr unterscheiden wollen.
- Der Markt ist nicht mehr Sphäre der Bereicherung, sondern eine effektive und innovative Erfindung zur Bedienung der Gesellschaft mit Produktivität und Gütern. Die ungeheure Warensammlung, aus der Marx auf die kapitalistische Geldvermehrung und den Ausschluß der Lohnarbeiter vom Reichtum geschlossen hat, ist in linken Augen jetzt der Endpunkt und Zweck dieser Gesellschaft. Daß Lohnarbeiter mit Verdienen und Kaufen nicht reich, sondern relativ ärmer werden, ist höchstens noch eine problematische Begleiterscheinung unbestreitbaren gesellschaftlichen Fortschritts. Die gewinnbringenden Lohn-Leistungsstandards in den Produktionsstätten der „sozialen Marktwirtschaft“ kann man vergessen.
- Neuerdings stiften demokratische Politiker mit ihren Sozialstaatsmaßnahmen einen Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen Schichten und erhalten damit die Gesellschaft stabil. Davon lassen sich bekehrte Linke auch durch den aktuellen politischen Angriff auf das ohnehin bescheidene Lebensniveau über Steuern und Sozialkassen nicht abbringen.
- Außerdem ist der Kapitalismus gar kein -ismus, sondern eine äußerst vielfältige, komplexe und lebendige Gesellschaft. Das sagt zwar nichts über seinen Charakter, aber viel über die Grundeinstellung der Linken: Die erfolgreiche Durchsetzung macht dieses System auch zu einem vorbildlichen Modell für die Lösung des angeblich so schwierigen Problems, eine Gesellschaft zu organisieren und die Bedürfnisse aller zu regeln. Das, was einmal prinzipiell gegen den Kapitalismus gesprochen haben soll, ist nun, wie demokratisch üblich, zum „Folgeproblem“ herabgesetzt. Alles, was einmal als Beweis für die Unhaltbarkeit des Kapitalismus galt, ist jetzt dem Standpunkt untergeordnet, daß seine Lebensfähigkeit, also auch seine Verbesserungswürdigkeit bewiesen ist.
Die neuen, aus der Dialektik von sozialer Gerechtigkeit und welthistorischem Recht geborenen Attribute, mit denen Linke ihren frisch gewonnenen Realismus dokumentieren, sind mindestens so weltfremd und einsilbig wie ihre alten hoffnungsfrohen Kritiken. Mehr als das Lob seiner Existenz und dessen moralische Ausschmückungen bringen sie nämlich nicht zustande. Aber eins kann man ihnen nicht abstreiten: Linke befinden sich damit auf der Höhe des Zeitgeistes.
Linke legen ihr neues Bekenntnis zu den Vorzügen des Systems gleich doppelt ab. So unkritisch sie die kapitalistische Welt betrachten, so kritisch betrachten sie sich. Wie wenn ihnen jetzt die Augen aufgegangen wären, legen sie sich die Frage vor, warum sie dem erfolgreichen Kapitalismus bisher die Vorschußlorbeeren versagt haben, die sie dem gescheiterten Realen Sozialismus angeblich so überreichlich verehrt haben. Getreu dem Standpunkt, daß Marx nicht die funktionierende Reichtumsproduktion kritisiert, sondern ihr notwendiges Scheitern prognostiziert hätte, behandeln sie die kapitalismusträchtige Weltlage wie eine Generalwiderlegung seiner Theorie und ziehen jetzt die Glaubenssätze, die sie ihm entnommen haben, aus dem Verkehr: Seine „Staatsauffassung“ ist einseitig, der „Revolutionsbegriff“ veraltet, die „Klassenvorstellung“ zu eng, das „Menschenbild“ verkürzt. Selbst den Vorwurf der Inhumanität und des Dogmatismus kann man ihm nicht ersparen, weil er den falschen Versuch provoziert hat, politische Kritik durchzusetzen. Linke stören sich inzwischen wenig am bürgerlichen Dogmatismus, das Denken hätte sich nach der herrschenden politischen Gewalt auszurichten. Dabei reicht es für diese Art der Marx-Widerlegung, die rhetorische Frage in den linkspublizistischen Raum zu stellen, ob man angesichts seiner welthistorischen Täuschung noch „unhinterfragt“ von Marx ausgehen könne. Unmöglich! So brechen Linke mit dem Gestus des Aufklärers ein Tabu nach dem anderen – die linken Grunddogmen selbstverständlich, an die sie längst schon nicht mehr recht glauben wollten, nie aber die offiziell gültigen Denkgebote.
Linkssein heute: Arbeitsbeschaffungsprogramm für Linke, die sich selber wegrationalisiert haben
Das Mitteilungsbedürfnis bekehrter Linker ist erstaunlich. Wenn schon alles daneben war, was sie der Welt mitzuteilen hatten, wenn sie schon von Zweifeln an ihren alten Auffassungen geplagt werden oder mehrheitlich ihren Gegnern von einst recht geben und ganz wie bürgerliche Soziologen und Ökonomen daherreden, könnten sie ja auch besser den Mund halten. Linke denken da anders und halten die Mitteilung, daß sie dasselbe sagen wie alle anderen und daß sie, die bekehrten Linken, es sagen, für mehr als interessant: für zwingend geboten. Erstens halten sie das öffentliche Widerruftheater für einen Ausweis von besonderer Aufrichtigkeit und moralischer Qualität. Zweitens meinen sie mit ihren Bekenntnissen schon wieder einen höheren Auftrag zu vollziehen, der Linken als Institution öffentlicher Kritik zukommt. Wenn sich in ihren Augen die Welt total gewandelt hat, dann erwartet die Welt auch von den Linken eine glaubwürdige Stellungnahme. Das Selbstbewußtsein haben sie nämlich nicht aufgegeben, der bessere Teil der Öffentlichkeit und als solcher mitteilungspflichtig zu sein. In diesem Bewußtsein vollziehen sie gerade ihre radikale Kehrtwende. Deswegen sind sie es sich und der Welt auch schuldig, nicht bloß so dafür zu sein, sondern zu erklären, wie heute noch – im Angesicht des unzweifelhaft erfolgreichen Kapitalismus, des Scheiterns des Sozialismus und der Widerlegung linker Kritik – Kritik geht, was links noch heißen kann und wie der „Sozialismus“ zeitgemäß neu definiert werden kann. Was dabei herauskommt, sind lauter Bekenntnisse zur Verantwortung des Intellektuellen, der nicht einfach Ja sagt, sondern besonders sorgenvoll ans Ganze denkt. Ein paar radikalere Töne sind dabei auch noch zu vernehmen.
Die Dauerveranstaltung, sich öffentlich den Auftrag zur konstruktiven Kritik zu erteilen, eint sie alle. Linke geben ohne Scham zu Protokoll, daß sie nichts Gewisses mehr wissen, nicht einmal, ob sie das Attribut „sozialistisch“ noch im Titel einer linken Zeitschrift führen sollen. Eines aber wissen sie genau: daß es eine „Konzeptionierung“ braucht, die selbst eingefleischte Anhänger des Kapitalismus ansteckt, und daß dafür alles immer wieder „neu zu durchdenken“ und „aufzuarbeiten“ ist. Das ist auch schon das ganze Programm: die permanente Aufforderung, beim Kritisieren auf Glaubwürdigkeit zu achten; und der argumentlose Generalzweifel an allem, was bisher links geheißen hat. Wer auch nur den Anschein erweckt, er wüßte schon noch was dagegen, schließt sich automatisch aus. Das methodische Beharren auf der endlos schwierig gewordenen Möglichkeit, „anders“ zu denken, landet umstandslos bei der Zensur abweichenden Denkens. Diese Methodendebatten dienen also nicht mehr der endlosen Suche nach einer zeitgemäßen Rechtfertigung ihrer Kritik. Sie verpflichten darauf, daß das, was zeitgemäß ist, vorgibt, was Kritiker einwenden dürfen. Mit der Mitteilung dieser Pflicht ist dann auch das Mitteilungsbedürfnis erloschen. Linke pflegen das Selbstbewußtsein, als verantwortliche Geister zur Kapitalismusverbesserung beauftragt zu sein.
Die Mehrzahl der Linken hat aus dieser Pflicht längst ihre Neigung und den neuen Inhalt ihrer linken Perspektive gemacht. Sozialismus ist jetzt der Name für den ideellen Auftrag, die bisher angeprangerten „Mißstände“ nicht mehr auf das System zurückzuführen, sondern als Probleme für die Gemeinschaft zu sehen, um die sich im Rahmen der Verhältnisse gekümmert werden sollte. Umwelt, soziale Gerechtigkeit und Frau firmieren jetzt als Attribute eines Sozialismus, der ein getreues Abziehbild des öffentlichen Verantwortungsgetues ist, in dessen Namen demokratische Politiker Atomkraftwerke bauen, Arbeitslose und Berufsgeschädigte kassenmäßig verwalten und weltweit für Geschäft und Kontrolle sorgen. Er ist nur noch das Ideal eines Kapitalismus mit „menschlichem Antlitz“, der gemeinschaftlich alle Opfer und Zerstörungen berücksichtigt, die die Grundrechnungsarten profitablen Umgangs mit Mensch und Natur gebieten. Ohne lauter Versicherungen, wie der Ruf nach einer besseren Welt nicht mehr aufzufassen ist, kommt keinem das Wort „Sozialismus“ mehr über die Lippen: keinesfalls als ernsthafte Alternative. Statt dessen werden alle kapitalistischen Gegebenheiten in heilsame Funktionen und schädliche Nebenwirkungen auseinanderdividiert, die nach entschiedener politischer Führung und Kontrolle verlangen. Demokratischer Staatssozialismus – garantiert nicht real: So verrückt konstruktiv denken auf „Realismus“ bedachte Linke, die keinesfalls mehr den Fehler des Realen Sozialismus wiederholen wollen, alles zu verstaatlichen, und die zugleich das verstaatliche Leben hier für das Reich der Freiheit halten – zumindest der Möglichkeit nach, und das reicht ja wohl. Das weltverbesserische Anliegen hat sich vom alten Bewußtsein losgesagt, mit seinem Veränderungswunsch eine alternative welthistorische Tendenz zu repräsentieren. Statt der Kritik von gestern widmen sich Linke also den Problemen von heute und begleiten ihre Anträge mit der laufenden Versicherung, nichts Unmögliches mehr zu beanspruchen. Die alte linke Suche nach Übereinstimmung hat sich damit umgedreht: Man ist dafür, aber mit dem Gestus kritischer Differenz. So wie Intellektuelle ihr Dafürsein eben vortragen: mit lauter Anträgen an die Politik im Namen der Menschheit und mit dem habermasischen Selbstbewußtsein, die „Fähigkeit der Selbstkritik und -kontrolle bürgerlich-kapitalistischer Systeme zu gewährleisten“, also besonders verantwortlich, weil fürs dauerhafte Funktionieren unentbehrlich zu sein.
Eine Minderheit will sich den Glauben an eine menschenfreundlichere Alternative allerdings nicht rauben lassen, auch wenn ihr das, was zum Inventar einer überzeugungskräftigen Idee gehört hat, abhanden gekommen ist – die bewiesene Möglichkeit des Besseren, die Unmöglichkeit des Schlechten und die Vorstellung von einem schon auf dem Weg befindlichen Widerstand. All diese Ausweise der Berechtigung des Sozialismus gab es immer schon bloß in ihrer Einbildung. Bei entsprechender Interpretation stellt sich all das auch glatt wieder ein, allerdings nicht mehr als Notwendigkeit, sondern als Möglichkeit, von der zumindest sie nicht lassen wollen. Nach bewährtem Muster konstruieren sie eine historische Tendenz, die sich ausgerechnet dadurch auszeichnet, daß sie nirgendwo richtig greifbar ist. Aber wenn man nur weit genug vorausdenkt, dann läßt sich das Scheitern des erfolgreichen Westens dennoch prognostizieren, auch wenn nicht abzusehen ist, wann es soweit sein wird. Sie versehen das eingestandene Funktionieren des Kapitalismus mit einem trotzigen „Aber wohl nicht für immer!“ – und sind damit kein bißchen klüger, sondern bloß selbstgenügsame Prognostiker geworden. Die Möglichkeit des Sozialismus lassen sie sich nicht nehmen – als unbewiesenen, aber auch unwiderleglichen Glauben: Der „reale“ Sozialismus war eben nur ein vorläufiger Vorgriff im Epochenkalender. Mit Karikaturen ihrer verflossenen Selbstgewißheit basteln sich solche Linke eine weltabgehobene Trostperspektive, die sich lässig im Rahmen von Jahrhunderten bewegt, statt auch nur einmal die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß die Gegenwart Argumente genug fürs Dagegensein bietet. Auch eine Weise, sich verantwortungsvoll mit den Verhältnissen abzufinden! Statt ihrem alten berechtigten Dagegensein begründen solche Linke die Notwendigkeit, „vorläufig“ wenig dagegen machen zu können, bekennen sich also weitblickend zur leeren Hoffnung auf bessere Zeiten.
Radikale Linke nehmen schweren Herzens Abstand von der Illusion, gesellschaftlichen Widerstand zu repräsentieren und die Kräfte des Guten schon am Werk zu sehen. Was übrig bleibt, ist entschiedener Moralismus und das gute Gefühl, sich selber treu zu bleiben – trotz allen Erfolgen des Kapitalismus. Dem wollen sie auch weiterhin den Vorwurf nicht ersparen, gegen alle Ideale einer geist- und verantwortungsvollen Politik zu verstoßen. Statt die Notwendigkeit kapitalistischen Treibens aufzudecken, halten sie ihm seine Unmoral vor, entdecken überall Zerstörung, Ungerechtigkeit und Sittenwidrigkeit – und legen damit das Bekenntnis ab, daß sie vom Glauben an eine bessere demokratische Politik nicht lassen wollen, die sie in der stattfindenden Demokratie vermissen. Aus lauter Verantwortung für die Menschheit sind sie dagegen – und trösten sich mit dem Bewußtsein, garantiert die besseren Deutschen zu sein, irgendwo zwischen Kants kategorischem Imperativ, Judenfrage, Sandino Dröhnung und Kulturkritik.
Nicht einmal auf Marx brauchen Linke, die keine „Marxisten“ sein wollen, zu verzichten. Schließlich haben sie schon lange daran gearbeitet, Marx in die Tradition großer Humanisten, Geschichtsphilosophen, Soziologen und Wissenschaftsmethodiker einzureihen. Jetzt befreien sie Marx von den letzten Anklängen an eine Kritik kapitalistischer Reichtumsproduktion und halten fest, was dann an ihm noch „bleibend“ ist: die Vision von einem besseren Zusammenleben, wo der Mensch dem Menschen und das unentfremdete Subjekt dem Objekt usw.; der Glaube an die Offenheit der Geschichte nach vorn; sein Beitrag zur Frage, wie man denken darf, nämlich dialektisch immer auch die Möglichkeit des Anderen. Ganz dialektisch Geschulte kommen sogar darauf, daß Marx’ eigentliche Leistung in einer grandiosen Themaverfehlung liegt: Alles, was er im „Kapital“ zum Besten gegeben hat, paßt haargenau auf den Realen Sozialismus, so daß er der Kronzeuge der Bekehrung von Marxisten zur Überlegenheit und Menschengemäßheit des Kapitalismus ist.
Linkes Leben nach dem Tode: Ein selbstgenügsames Sondereckchen im Paradies der Mitbeteiligung am öffentlichen nationalen Leben
Die Linke hat sich für die Überwindung des Kapitalismus ausgesprochen, weil sie meinte, ihr beizuwohnen. Gegen den Kapitalismus war sie nicht seinetwegen, sondern wegen der erwiesenen Möglichkeit seiner Alternative. Für den Sozialismus war sie nicht seinetwegen, sondern wegen des prognostizierten Scheiterns des Kapitalismus. Weil statt diesem der Reale Sozialismus das einmalige Kunststück fertiggebracht hat, sich abzuschaffen, hat sie die Konsequenz gezogen, sich zu ändern und die Welt neu zu interpretieren. Darin bleibt sie ihren Fehlern treu.
Die Beglaubigungsmethoden ihrer alten Kritik sind noch im Gebrauch. Allerdings ist die Einheit, zu der sich diese Berufungstitel einmal zusammengefügt haben, der Glaube, mit seinem Veränderungsbedürfnis zeitgemäß zu sein, und damit das kritische Anliegen dahin. Jetzt sind es die Versatzstücke, mit denen Linke ihre positive Einstellung auf den neuen Zeitgeist vollziehen. Der Wunsch nach Weltverbesserung ist lebendig – als mehrheitlicher Antrag von Verantwortungsethikern an die Regierenden und Auftrag an sich selber zur Mitwirkung; und als Minderheitenvotum von Gesinnungsethikern, die zur radikalen gesellschaftlichen Umkehr mahnen. Die geschichtsphilosophische Deutung des Weltengangs ist nicht totzukriegen – als folgenlose Besserwisserei im Bewußtsein, im Unterschied zu anderen besonders weit zu blicken. Die unendliche Suche nach Beglaubigung der eigenen Kritik findet weiterhin statt – als Bekenntnis zum Standpunkt der Sorge um den Fortgang des Systems. Die geistige Autorität ist noch im Gebrauch – als museale Tradition und ziemlich außer Mode gekommener, aber immer noch brauchbarer Beitrag zum Wissenschaftspluralismus.
Damit haben Linke sich selber abgeschafft und mehrheitlich eingereiht in die öffentliche Besprechung und Problematisierung der nationalen Politikfortschritte. So sind sie schon wieder bloß das Spiegelbild der Öffentlichkeit, die sie nie selber schaffen, sondern in der sie eine Rolle spielen wollten. Jetzt stören sie nicht mehr und wollen mehrheitlich auch gar nicht stören, sondern beitragen. Damit ist aber auch ihre Rolle vorbei. Selbst das kurzzeitig interessante öffentliche Abschwören ist nicht mehr gefragt. Dennoch, sie haben noch einen bescheidenen Platz im öffentlichen Leben, an dem ihnen so viel gelegen ist. Als Szene, die sich immer noch und schon wieder mit sich beschäftigt. Neben verwechselbaren Beiträgen zur nationalen Verantwortung – in Kriegsfragen, beim kapitalistischen Ostaufbau, beim Weltwirtschaften, beim gewerkschaftlichen Mitregeln von Lohn und Leistung, beim Hungerbetreuen und Asylantenabschieben, beim Atomstrom und Müllverschieben: kurz bei allem – leisten sie weiterhin ein paar unverwechselbare Zusätze und Nachworte durch die unverdrossene öffentliche Abkehr von den Idealen, Hoffnungen und Bemühungen von gestern. Linke betrauern, was sie als „realistische Linke“ nicht mehr können, besprechen, was sie als „verantwortliche Linke“ noch dürfen, bekräftigen, was sie als „verantwortliche Linke“ müssen. So gibt es „die Linke“ weiterhin: in der „nachsozialistischen“, „postfordistischen“, „nichtmarxistischen“, unzufrieden-selbstzufriedenen, leicht manisch-depressiven Selbstbespiegelung notorisch konstruktiver Kritiker.