Leserzuschrift
Linksradikale Wahlsorgen: Verrät man durch ein Wahlkreuz seine herrschaftskritischen Überzeugungen?

„…Ich war beim Vortrag „Die Krisenwahl 2009 demonstriert die Leistung der Demokratie: Bürger wählen die Opfer, die Staat und Kapital von ihnen verlangen“. Da sind mir Fragen aufgekommen …

Du hast den Vortrag offenbar als ein kompliziertes Plädoyer für den Wahlboykott als antikapitalistische Praxis verstanden und hältst das so gedeutete „Schlusswort des Vortrages“ für „nicht angebracht“. Da können wir dir zustimmen: Auch wir halten das Unterlassen des Wählens nicht für eine politische Tat und schon gleich nicht für einen demonstrativen oder gar echten Schlag gegen den Kapitalismus. Wir meinen nur, dass, wer verstanden hat, was die Wahl ist und worum es bei ihr geht, kein Interesse mehr haben kann, sich an diesem demokratischen Zirkus zu beteiligen...

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog

Linksradikale Wahlsorgen: Verrät man durch ein Wahlkreuz seine herrschaftskritischen Überzeugungen?

Aus einer Zuschrift zu den Aufklärungsbemühungen der GegenStandpunkt-Redaktion zur Wahl 2009:

„…Ich war beim Vortrag Die Krisenwahl 2009 demonstriert die Leistung der Demokratie: Bürger wählen die Opfer, die Staat und Kapital von ihnen verlangen. Da sind mir Fragen aufgekommen … Erstmal will ich kurz was vom Vortrag und dessen Inhalt wiedergeben, sodass meine Frage besser nachvollziehbar ist:

Ich kann nicht Herrschaftslosigkeit wählen, sondern nur ein Kreuz machen, welches keinen aussagefähigen Charakter hat. Die Staatsmacht kann nicht abgewählt werden. Meine Interessen sind bei dieser Wahl nicht vertreten, sondern nur Interessen, die letztlich das Kapital stärken. Es gibt auch keinen besseren / guten Kapitalismus, und deshalb gibt es auch keine guten Herrscher. Den Politikern wird der Rahmen ihrer Arbeit aufgrund der Verfassung vorgegeben, und sie haben sich an bestimmte Regeln wie Wachstum schafft Arbeit (was ich jetzt hier nicht weiter ausführen möchte) zu halten und zu orientieren. Außerdem impliziert die Wahl, so wie sie abläuft, ziemliche Ohnmacht, denn meine eine Stimme hat sowieso keine Wirkungskraft. Damit wird die Wahl als Mittel des Staates und des Kapitals benutzt, um sich den Bürger zum Untertanen zu machen und nicht umgekehrt, wie es in der öffentlichen Presse behauptet wird. Und als Ergebnis … ist dann herausgekommen: Wählen heißt sich bekennen.

Doch was kann noch daraus folgen: Ich halte die ganze Wahldebatte der sog. Linken, ob man nun wählen gehen solle oder nicht, für ein theoretisches Konstrukt. Die Stimme, die ich abgebe, ist nur eine von 62,2 Mio. Stimmen. Praktisch ist sie damit nicht entscheidend. Außerdem leuchtet mir nicht ein, warum ich mich zur Demokratie bekenne, wenn ich zur Wahl gehe. Die Kritik, wie ich sie oben auch schon ausgeführt habe, leuchtet mir ein, und ich vertrete sie auch. Erstmal zählt doch aber meine Stimme sowieso nicht, weil es nur eine unter so vielen ist. Außerdem kann es Gründe geben, die mich zum Wählen veranlassen könnten. Hier möchte ich gerne einen Einschub machen zu diesen Gründen. Erstmal kann ich mit meiner Wahlstimme etwa Parteien wie die Linke wählen, die Stiftungen haben. Diese wiederum unterstützen Aufklärungsarbeit für antikapitalistische Vorträge, etwa vom Gegenstandpunktverlag. Außerdem kann eine Stimme in Richtung soziales Lager die Bedingungen für den Klassenkampf einfacher machen. Da fällt mir etwa der Mindestlohn ein, wodurch Menschen mehr Zeit haben, sich mit antikapitalistischer / antidemokratischer Kritik auseinanderzusetzen, diese praktisch umzusetzen und zu reflektieren. Dann haben sie mehr Zeit zum Nachdenken und können sich dann mit sich selbst und ihresgleichen auseinandersetzen. Aufgrund dessen kann die Wahl des kleineren Übels auch ein kleiner Schritt zur Vorbereitung des großen Klassenkampfs sein. (Ich weiß, dass ich mich mit meine Stimme zählt sowieso nicht im Kreis drehe, da dann Wählen oder Nichtwählen sowieso egal ist, aber ich will die ganze Wahldebatte auch mal von anderen Seiten beleuchten.) Wenn ich dann wählen gehe, stimme ich doch nicht gleich dieser Herrschaft zu, wenn ich die Kritik verstanden habe. Da kommt es doch auf die Gründe an, die mich dazu veranlassen. Deshalb kommt es doch bei der Frage, ob ich mich bekenne oder nicht, darauf an, ob die Gründe dieser Kritik standhalten, und deshalb kann auch nicht pauschal gesagt werden, jeder der wählt, bekennt sich zur Demokratie. Die Frage des Sich-Bekennens sollte auch eher am Alltag ausgerichtet sein und nicht an einer einzigen Entscheidung. Wenn Menschen antikapitalistisch leben, etwa containern gehen, sich über food coops organisieren, Freiräume oder Umsonstläden unterstützen und sich mit vielen Menschen aus vielen unterschiedlichen Kreisen über Systemkritik unterhalten und sie aufklären, ist das kein Bekennen, auch wenn sie aus genannten Gründen (oder anderen, vielleicht auch egoistischen, aber der Kritik standhaltenden Gründen) wählen gehen. Was ich damit sagen will: Das eigene reflektierte Nachdenken sowie täglicher Klassenkampf ist ein weniger Sich-Bekennen zur Demokratie als an einem Tag aus den genannten Gründen wählen zu gehen. Ich halte deshalb das Schlusswort des Vortrages Nicht wählen gehen für nicht angebracht, und es wäre sinnvoller, die Leute aufzufordern, mit der Grundlage ihres Lebens und den im Vortrag genannten Argumenten selbstkritisch und reflektiert ihr Leben zu gestalten und selbst zu organisieren. Denn sonst könnten Tatsachen und Schlussfolgerungen von Hörern des Vortrages übernommen werden, ohne dass sie selbst darüber nachdenken.“

Die Antwort der Redaktion

1.

Du hast den Vortrag offenbar als ein kompliziertes Plädoyer für den Wahlboykott als antikapitalistische Praxis verstanden und hältst das so gedeutete „Schlusswort des Vortrages“ für „nicht angebracht“. Da können wir dir zustimmen: Auch wir halten das Unterlassen des Wählens nicht für eine politische Tat und schon gleich nicht für einen demonstrativen oder gar echten Schlag gegen den Kapitalismus. Wir meinen nur, dass, wer verstanden hat, was die Wahl ist und worum es bei ihr geht, kein Interesse mehr haben kann, sich an diesem demokratischen Zirkus zu beteiligen.

Wir wissen allerdings, dass die große Mehrheit der Bürger, die wählen geht, und auch die Minderheit, die aus nicht besseren Gründen nicht wählt, die Sache anders sieht. Deshalb war die Beweisabsicht der Veranstaltung erst einmal die Erklärung und Kritik der Institution der Wahl: Im demokratischen Staat werden die Bürger periodisch an die Urnen gerufen, damit sie Kandidaten in politische Ämter wählen, d.h. sie mit der Ausübung der Macht betrauen. Dazu werden den Wählern personelle und parteipolitische Alternativen angeboten, zwischen denen sie auswählen dürfen. Wenn sie dann einer Partei oder einem Kandidaten ihre Stimme geben, mögen sie sich denken, was sie wollen; sie ermächtigen mit diesem Akt einen Politiker, souverän die Staatsnotwendigkeiten durchzusetzen – auch gegen seine Wähler. Der Wähler zieht das Angebot der einen Partei einem anderen vor, stimmt für die Partei oder Person, die er kompetenter oder sympathischer findet, in jedem Fall aber stimmt er damit dem Regiertwerden zu, ja, er gibt es durch seine Stimme sozusagen in Auftrag. Und das soll er auch: Im Wahlkampf und eigentlich immerzu wird er ermuntert, seine Unzufriedenheit mit der staatlich gestifteten Ordnung, mit den feindlichen Interessen, die diese Ordnung lizenziert, und den Misserfolgen, die er selbst immer wieder erleidet, in ein Interesse an guter und besserer Regierung zu übersetzen; damit er dann die Leute wählt, denen er das gute Regieren zutraut.

Wir arbeiten diese Zustimmung zur Herrschaft heraus, die im Wahlakt liegt, und reiten darauf herum, weil sie nicht das selbstbewusste Motiv der Wählenden ist. In diesem Sinn hast du die Rede vom „Bekenntnis“ missverstanden, an der sich dein Einwand entzündet. Die Wähler wollen durchaus nicht ein Bekenntnis zur Staatsmacht und zu ihrer Untertanenrolle ablegen, wenn sie wählen gehen; das wollen noch nicht einmal die „Stammwähler“, die sich zeitlebens zu ihrer Partei „bekennen“: Sie halten ihrer Partei als einer Gesinnungsgemeinschaft die Treue und sind so frei, eine Machtübernahme des Konkurrenzvereins ganz unerträglich zu finden. Generell halten Wähler die Wahl für ein Angebot an sie und eine Chance, in ihrem Sinne Einfluss auf die Politik zu nehmen. Sie meinen etwas anders zu tun, als sie tatsächlich tun. Darin täuschen sie sich und das sagen wir ihnen, damit sie es lassen.

2.

Ausgerechnet in dieser Hinsicht unterscheidest du dich nicht vom normalen Wahlvolk. Auch du scheinst zu fürchten, ein Fernbleiben am Wahltag bedeute den Verzicht auf einen praktischen Einfluss, den die Wahl dir eröffnet. Wie jeder Wähler hältst auch du es für möglich und lohnend, durch ein Wahlkreuz die Welt in deinem – linken – Sinn ein (kleines) bisschen besser zu machen.

Die Kalkulationen, die du dafür anführst, sind allerdings künstlich und konstruiert. Natürlich weißt du, dass man Antikapitalismus und Klassenkampf nicht wählen kann; das hat keine Partei im Angebot. Aber wenn man schon das, was einem wichtig ist, nicht wählen kann, dann könnte man ja vielleicht die Bedingung der Möglichkeit davon wählen. In den Bedingungen aber, die du durchs Wählen verbessern willst, steckt das Ziel, das du in deinem Brief anbietest, gar nicht drin. Du wählst z.B. die Linkspartei; die wird, wenn es genug Leute machen wie du, eine größere Fraktion in den Bundestag entsenden, vielleicht sogar eine Regierung mit bilden. Das hältst du für eine gute Bedingung für antikapitalistische Politik. Allerdings musst du dir einiges dazudenken, damit man das überhaupt für eine Bedingung halten könnte. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung könnte man sich als eine Bedingung der Möglichkeit von Gegenstandpunkt-Vorträgen denken. Erstens aber gibt es die auch ohne die Hilfe der Linkspartei, und zweitens hat die Linkspartei ihr eigenes Programm – und die Förderung des Gegenstandpunkt gehört wirklich nicht dazu.

Dein zweites Beispiel ist nicht besser. Nun soll die Linkspartei an der Macht mit der Verordnung eines flächendeckenden Mindestlohns eine Bedingung der Möglichkeit der Befassung mit Kapitalismuskritik schaffen. Das ist lächerlich nach beiden Seiten. Weder braucht ein Beschäftigter im Niedriglohnsektor eine Erhöhung seiner Bezahlung auf ein irgendwie definiertes Mindestniveau, um sich seine miese Lage zu erklären und den Willen zum Kampf dagegen zu fassen; noch – die Mehrheit der Arbeitnehmer, die Lohn oberhalb des Minimalniveaus beziehen, sind der Beweis – folgt aus besserer Bezahlung Kapitalismuskritik.

Deine Überlegungen, wie du die Politik mit dem erlaubten Mittel der Wahl beeinflussen könntest, führen dich wie alle Wähler zur Suche nach der personellen und parteipolitischen Alternative, die am ehesten dein Vertrauen verdient. Dem Wahlkreuz, mit dem du dann einem Kandidaten zu einem Posten verhilfst, ist keine deiner Überlegungen mehr anzusehen; und sie wären für ihn in keiner Weise verpflichtend, wenn er sie mitbekommen hätte. Verpflichtet ist der Parlamentarier allein seinem staatsmännischen Gewissen. Die Wahl lässt sich nicht für antikapitalistische Ziele missbrauchen.

3.

Du meinst, viel wichtiger als eine Abstinenz am Wahlabend wäre es, dass man anderweitig aktiv wird. Du nennst das den „täglichen Klassenkampf“ und siehst darin ein viel wichtigeres und richtigeres, nämlich antikapitalistisches Bekenntnis als in dem einmaligen Wahlakt in vier Jahren: Eine antikapitalistische Praxis bescheinigst du Leuten, die sich – ohne Einkommen und ohne Geld – aus den Abfallcontainern der Supermärkte ernähren, andere Freiräume nutzen und ansonsten mit Nachbarschaftshilfe über die Runden kommen. Schön, sie leben alternativ; aber was hat das mit Antikapitalismus zu tun?

Wer damit ernst macht, geht manchen Zwängen des Geldverdienens und der Karriere aus dem Weg und handelt sich dafür andere, gemessen am durchschnittlichen Lebensstandard des 21. Jahrhunderts, radikale Entbehrungen und Nöte ein. Immerhin ist, was so jemand freiwillig als alternatives Leben wählt, noch ein bisschen härter als das Elend, das der Kapitalismus anderen Leuten gegen ihren Willen und gegen alle ihre Bemühungen, Geld zu verdienen, aufzwingt, wenn die als unbrauchbar und überflüssig für das Wirtschaftswachstum aussortiert und in Hartz IV verstaut sind. Aber bitte, jeder kommt halt auf seine Weise mit den kapitalistischen Lebensbedingungen zurecht und wird nach seiner Façon selig. Auch für diesen Lebensstil ist Platz im Kapitalismus; Bohemiens und Clochards – so nannte man früher Vertreter dieses Lebensstils – gibt es so lange wie den Kapitalismus.

Den Kapitalismus selbst greift die alternative Art, sich mit ihm zu arrangieren, in keiner Weise an. Er beruht auf der durch die Staatsgewalt gestützten Macht des Privateigentums, die Menschheit zum Dienst an der steten Vergrößerung dieser Macht, d.h. am Kapitalwachstum, zu zwingen, wenn sie Geld in die Finger und Zugang zu den käuflichen Lebensmitteln bekommen will. Diese Macht anerkennt dein alternativer Lebensstil und respektiert sie, wenn er den Dienst vermeidet und dafür auf Zugang zum Warenangebot verzichtet.

Was du „täglichen Klassenkampf“ nennst, wendet sich polemisch nicht gegen das polit-ökonomische Herrschaftssystem, sondern gegen die üblichen Versuche, damit zurechtzukommen: Dem Rest der Menschheit wirfst du Anpassung und Mitmachertum vor, und hältst es für angebracht, ihnen vorzuleben, dass man mitten im Kapitalismus ungestört von dessen Zwängen sein Leben frei, „selbstkritisch und reflektiert gestalten und selbst organisieren“ kann. Aber frag dich mal ernsthaft, wer eigentlich meint, dass er das nicht schon tut. Auf nichts sind die Menschen im Kapitalismus so stolz wie darauf, dass sie – wie du und deine Freunde – aus den oft widrigen Umständen das Beste machen und dass sie den Verhältnissen ein selbstbestimmtes, irgendwie gelingendes Leben abzuringen verstehen. Sie interessieren sich nicht für das Ausbeutungssystem, dem sie unterworfen sind, weil sie sich um den Kapitalismus nie anders kümmern als so, dass sie ihn in Chancen und Hindernisse für ihre Selbstverwirklichung einteilen und die Chancen zu nutzen und die Hindernisse zu überwinden versuchen. Eine reflektierte Gestaltung des eigenen Lebens kommt dabei immer heraus; es braucht dazu ja auch nichts als die billige Einbildung, man habe sich selbst herausgesucht, wohin es einen im kapitalistischen Dschungel verschlägt. In der Überzeugung, im Leben nicht den Imperativen des Kapitals Folge zu leisten, sondern einen ganz selbst gewählten Lebensstil nach eigenem Gusto zu pflegen und „selbstkritisch und reflektiert ihr Leben zu gestalten und selbst zu organisieren“, stehen die normalen Menschen, deren angepasste Sittlichkeit du ungebührlich findest, deinen nonkonformistischen Freunden, die im Sich-Einrichten im marktwirtschaftlichen Elend das „richtige Leben im falschen“ gefunden haben, in nichts nach.

Durch öffentliche Überlegungen und Debatten möchten wir sie ebenso wie dich von dieser Stellung abbringen und zur Befassung mit der politischen und ökonomischen Realität verführen. Das scheint nicht gut gelungen zu sein: Du unterschreibst die ganze vorgetragene Kritik an der demokratischen Wahl – und befasst dich umgehend mit der Frage, wie sich für Linke das Beste aus ihr machen ließe.