Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Aus unserer Serie 'Grundsatzfragen des kapitalistischen Gemeinwesens' diesmal:
Die Schlacht ums Ladenschlussgesetz
Gegen die Unwidersprechlichkeit der Moral des Profitmachens, die auf die Bedürfnisse des Verkaufspersonals keine Rücksicht nimmt, erhebt sich nur die Moral des Verzichts – vertreten durch den Bundespräsidenten und die Kirche.
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Aus unserer Serie
Grundsatzfragen des kapitalistischen Gemeinwesens
diesmal:
Die Schlacht ums
Ladenschlußgesetz
Der Paradigmenwechsel ist in Gang und nicht mehr aufzuhalten: Für hemmungslose Profitgier rechtfertigt man sich heutzutage nicht mehr. Gewinn einstreichen ist per se soziale Tat und von Staats wegen zu fördern; das Gemeinwohl geht ohne Rest und Unterschied auf im Erfolg privater kapitalistischer Bereicherung. Als entschieden gemeinwohlwidrig erweist sich damit ein Gesetz, das Kaufhäusern die Geschäftszeit beschneidet. Vorbei sind auch die Zeiten, als ein liberaler Wirtschaftsminister noch meinte, für die Abschaffung entsprechender Vorschriften mit dem absurden Argument werben zu müssen, bei längerer Ladenöffnung würde unweigerlich auch mehr gekauft und folglich die Konjunktur angekurbelt, und beim Münchener IFO-Institut den objektiven wissenschaftlichen Nachweis dieser Überzeugung in Auftrag gab (und bekam). Seit SPD-Mann Schröder regiert, langt es, wenn ein großer Kaufladen sich vom Verkauf am Sonntag und spätabends mehr Umsatz auf Kosten der Konkurrenz ausrechnet oder eine Großstadt für ihre City auf Kosten ihrer Nachbarstädte Chancen erhofft: Wer so kalkuliert und Vorschriften entsprechend zurechtinterpretiert oder umgeht, ist im Recht, moralisch zumindest. Denn er wehrt sich gegen eine Gesetzeslage, die längst nicht mehr den Wettbewerb schützt, sondern eine wirtschaftsfeindliche Wettbewerbsverzerrung; was schon daraus schlagend hervorgeht, daß die Wettbewerber dadurch zu etwas hingezerrt werden. Wer sich sein Recht auf längeres Geschäftemachen nimmt, hat daher gute Chancen, von den zuständigen Aufsichtsbehörden auch offiziell Recht zu bekommen. Eine Hürde sind höchstens noch altmodische Verwaltungsgerichte, die die Lizenz zum Geldverdienen kleinlich mit dem Wortlaut des Gesetzestextes vergleichen. Die bieten damit ein Beispiel für jene „staatliche Reglementierungswut“, die bekanntlich das Kapital in Deutschland schon seit Jahrzehnten daran hindert, mit seinen Profitraten die Weltspitze zu übernehmen und Ehre für den Wirtschaftsstandort zwischen Ostsee und Alpen einzulegen. Gegen solchen Atavismus wird seit 1.8. mobil gemacht, nämlich die Kundschaft mobilisiert, die auch sonntags nichts Besseres zu tun hat, als Waren anzugucken, Preise zu vergleichen und Geld auszugeben, soweit sie welches hat. Diese braven Leute werden von der Geschäftswelt, die auf besagtes Geld scharf ist – und um so schärfer, je weniger der deutsche Kunde auszugeben vermag –, als Kronzeugen dafür aufgerufen, daß jede Vorschrift in Sachen Ladenschluß einer Kommunismus-verdächtigen Freiheitsberaubung gleichkommt. Und als gelehrige Adoptiveltern des Zeitgeistes geben sie genau das auch zu Protokoll, sobald ein Fernsehfritze, der schließlich auch keine Sonntagsruhe kennt, ihnen ein Mikrophon vors Gesicht hält.
Daß die Gewerkschaft, die fürs Verkaufspersonal zuständig ist, die neue Ladenschluß-Freiheit nicht haben will und für das Recht ihrer Leute auf sonntägliche Freizeit wirbt, bleibt da als Einwand unbeachtlich. Sie beweist damit nur einmal mehr, was der Zeitgeist sowieso schon über sie weiß, daß sie nämlich mit ihrem sozialen Gejammer Gesichtspunkte vertritt, die längst jedes Recht verloren haben, vor allem jede soziale Berechtigung. Denn wer das Kapital behindert, hindert es eben damit an der Wohltat eines Arbeitsplatzes, mit der es ansonsten die armen Schlucker der Nation überschütten würde. Ein Kritiker, der von seiner Gewerkschaft Sonntagszuschläge für die ganze Woche verlangt und außerdem mehr freie Zeit, findet sich nirgends, dafür allemal ein für die Zwecke einer korrekten Berichterstattung geeigneter Verkäufer, dem die angeordnete Sonntagsarbeit gerade recht kommt – was er zwar nie beantragt, geschweige denn durchgesetzt hat. Aber wenn die Unternehmer einen Extradienst haben wollen, dann kriegen sie den nicht bloß. Ihre Dienstkräfte bilden sich zu allem Überfluß auch noch gerne ein, das Verlangte hätten sie sich eigentlich schon immer gewünscht. Gewerkschaftliche Einwände, das steht damit jedenfalls empirisch fest, sind nicht bloß altmodisch, sondern auch unsozial und arbeitnehmerfeindlich und folglich nicht ernst zu nehmen.
Dennoch wird die Sache ideologisch nicht langweilig. Es gibt da nämlich noch das Grundgesetz, das einen Artikel der alten Reichsverfassung von 1919 fortschleppt, wonach der Sonntag der seelischen Erhebung des Volkes dienen und deswegen von kommerzieller Tätigkeit möglichst frei gehalten werden soll. Und es gibt Anwälte dieser schönen Pflicht zu kollektiver Besinnlichkeit, die auf die platte kompensatorische Negation eines dem Profit und der Konkurrenz gewidmeten Alltagslebens nach wie vor große Stücke halten. Da sind vor allem die Kirchen mit ihrem Herrn Gott, der nach Erschaffung der Welt, was wohl auch so eine Art Geschäftstätigkeit war, einen Tag lang Ruhe gehalten und einen Sabbat angeordnet hat, um sich dafür konkurrenzlos loben und preisen zu lassen. Und da gibt es den neuen Bundespräsidenten, der die Beibehaltung eines eigens der Sinnstiftung geweihten allgemeinen Ruhetags in einer säkularisierten Fassung sozialpsychologisch befürwortet: Irgendwie, meint Herr Rau, steht der Sonntag dafür, daß die deutsche Gesellschaft noch ein höheres Weiß-warum kennt und verehrt als das Geld. Und weil das den Zusammenhalt des kapitalistischen Ladens deutscher Nation erst einigermaßen zuverlässig macht, deswegen dürfen „Arbeit und Konsum (!) nicht alles“ sein.
Diesem Standpunkt ist mit dem Vorwurf der Unmodernität nicht beizukommen. Er will nämlich gar nicht modern sein. Da wird vielmehr darauf bestanden, daß der werktäglich tobende Konkurrenzkampf und Geldmaterialismus, wie modern auch immer, einer Ergänzung durch sein abstraktes Gegenteil bedarf. Und das fällt logischerweise reaktionär aus, nach Form und Inhalt: Methodisch wird ein längst abgestorbenes frommes Brauchtum staatsgewaltsam in Kraft gehalten, um den Gemeinheiten des kapitalistischen Alltagslebens nun gerade nicht irgendwelche Genüsse, des Gebrauchs der geschaffenen Güter und der herausgearbeiteten freien Zeit, entgegenzusetzen, sondern – ausgerechnet! – eine Moral des Verzichts. Verzichten soll der Mensch am Sonntag nämlich, indem daß er nicht einkaufen kann, aufs Konsumieren – eine wunderbar kontrafaktische Gleichung in einer Welt, in der jeder normale Kunde beim Einkaufen die Schranken erfährt, die die kapitalistische Einrichtung des zu entrichtenden Kaufpreises der Freiheit des Verbrauchens setzt.
Damit steht das sittliche Dilemma der Moderne in all seiner erhabenen Größe im Raum. Die Freiheit des Christenmenschen – resp. seines staatsbürgerlich-besinnlichen säkularisierten Wiedergängers – vom versklavenden Zugriff auf materielle Güter, ein Höchstwert und schier unentbehrlich gerade in der „vom Geld regierten“ Welt des Kapitals, steht gegen die praktische materielle Freiheit: die Freiheit des Geschäfts von allen gesetzlichen Einschränkungen. Nur gut, daß dieser epochale Widerstreit ideologisch gar nicht aufgelöst zu werden braucht. Beide Seiten passen so gut und notwendig zueinander, daß sie sich unweigerlich versöhnen werden – zu den Konditionen des unaufhaltsam fortschreitenden Zeitgeistes in einem fortschrittlich-deregulativen Ladenöffnungsgesetz…