Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der deutsche Geist zum schwarz-rot-goldenen Wir-Gefühl
„Deutschland im Halbfinale!“ – und die Berichterstattung der ‚Süddeutschen Zeitung‘ tags darauf misst etliche Quadratmeter an Text und bunten Bildern. „Die Party geht weiter“, „Jubeltänze vor allen Bildschirmen“, „der ganz normale Wahnsinn“ usw. heißen die Überschriften, die Botschaft der Artikel fasst sich in Wort wie Bild in dem Urteil zusammen, was für eine wunderbar normale, durch und durch natürliche Sache dieser „Ausnahmezustand“ ist, den Hunderttausende mit Fahnen und Schminke Deutschlands Straßen und öffentlichen Plätzen bescheren.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Der deutsche Geist zum schwarz-rot-goldenen Wir-Gefühl
Deutschland im Halbfinale!
– und
die Berichterstattung der ‚Süddeutschen Zeitung‘ tags
darauf (SZ, 1./2.6.06) misst etliche Quadratmeter an Text
und bunten Bildern. Die Party geht weiter
,
Jubeltänze vor allen Bildschirmen
, der ganz
normale Wahnsinn
usw. heißen die Überschriften, die
Botschaft der Artikel fasst sich in Wort wie Bild in dem
Urteil zusammen, was für eine wunderbar normale, durch
und durch natürliche Sache dieser Ausnahmezustand
ist, den Hunderttausende mit Fahnen und Schminke
Deutschlands Straßen und öffentlichen Plätzen bescheren.
Wie einfach nur schön es ist, wenn sie in ihrem großen
Gefühl
nicht nachlassen, ihm immer wieder in
demselben kollektiven Rauschzustand Ausdruck verschaffen
und die Feier kein Ende
nimmt. Dann aber kommt
Überraschendes. In der Beilage zum ‚Wochenende‘ bietet
das Blatt seinen gebildeten Lesern Gelegenheit zu einem
etwas distanzierteren Blick auf den deutschen
Glücksrausch und unterbreitet ihnen unter der Überschrift
‚Die Gier der Patrioten‘ eine
Einladung zur kritischen Deutschstunde mit einem bekennenden ‚Alt-68er‘
Der Autor Christian Nürnberger steigt mit der Frage ein,
was mit dem geschundenen Wort ‚Patriotismus‘ gemeint
ist: der Glaube an die Existenz eines gemeinsamen
Dritten, das dich mit den anderen verbindet
, näher,
ob dieser Glaube bei meinen Kindern auch noch
funktioniert
, und gibt da erst einmal Entwarnung. Wie
schon sein Vater 1958, als es gegen Schweden ging,
zutiefst berührt war, so geht auch ihm hier und jetzt das
Schicksal der deutschen Nationalmannschaft sehr nahe. Das
ist einfach so, bei seinen Kindern ist das nicht anders,
bei sehr vielen anderen gleichfalls nicht, und so steht,
zumindest in Bezug auf die Existenz jenes gemeinsamen
Dritten, das alle mit allen verbindet, für ihn fest: An
ihr ist nicht zu rütteln, denn – meine Kinder sind
euphorisiert, ich bin es auch, und teile mit Millionen
die Freude über dieses gelungene Fußballfest.
Offenbar kann auch er nicht anders wie so viele andere:
Das deutsche Fest begeistert ihn einfach; nur hat er im
Unterschied zu allen anderen ein gewisses Problem damit:
„Mitten in dieses Fest platzt die Nachricht, die Allianz werde 7500 Mitarbeiter entlassen, und ich frage mich: Warum soll ein entlassener Allianz-Mitarbeiter patriotische Gefühle entwickeln? Was hat er mit den Vorständen gemein, die ihn auf die Straße gesetzt haben? Teilt der Gefeuerte nicht viel mehr Gemeinsamkeiten mit jenen ausländischen Bank- und Versicherungsangestellten, die sich künftig ebenfalls mit weniger bescheiden müssen, damit es den Milliardären dieser Welt wieder ein bisschen besser ergehe …? Ich fühle mich von solchen Fragen jetzt gestört.“
Der Mann hat bemerkt, dass im alltäglichen Leben der Vielen, die sich da gerade als Kollektiv feiern, überhaupt nicht ein klassenübergreifendes kollektivistisches Drittes wirkt, in dem sie alle vereint wären, sondern ziemlich unversöhnliche Gegensätze zwischen ihnen bestimmend sind. Dass das einzige wirklich für alle verbindliche Prinzip der Lebensführung die Notwendigkeit ist, über Geld zu verfügen, und dieses Prinzip die Gesellschaft in Vermögende und Besitzlose dissoziiert, ist ihm nicht entgangen, wenn er am Gegensatz von Armen und Reichen Anstoß nimmt; gleichfalls nicht, dass mit der Geldmacht der Besitzenden die Verfügungsmacht auch über die Lebensschicksale derer einhergeht, die als Arbeiter oder Angestellte davon abhängig sind, sich für sie nützlich machen zu können. Von daher ist ihm auch die Einsicht der Kommunisten von einst nicht ganz fremd, wonach die ‚Proletarier aller Länder‘ ihre Identität in ihrer ‚Klassenlage‘ und keinesfalls im jeweiligen Vaterland haben, in das es sie verschlagen hat. So gesehen wären die ‚Fragen‘, die ihn da ‚stören‘, glatt schon der Auftakt zu einer Antwort darauf, was es mit diesem ‚Glauben an die Existenz eines gemeinsamen Dritten, das dich mit den anderen verbindet‘, auf sich hat: Zustande kommt der nur über die radikale Abstraktion von allen Gegensätzen, die das wirkliche Leben bestimmen, und vor allem von dem Subjekt, der Gewalt des Staates, das diese Gegensätze in die Welt bringt und umklammert.
Doch kommt es eben sehr darauf an, worin sich da
einer ,gestört fühlt‘, wenn er schon mal registriert, wie
ersponnen dieses alle vereinende nationale ‚Wir‘, das da
begeistert gefeiert wird, angesichts der Erfahrungen ist,
die seine unterschiedlichen individuellen Partikel mit
der kapitalistischen Realität machen. Da macht es schon
einen gewichtigen Unterschied, ob man der Sache,
an der man sich stört, auf den Grund geht und sich
klarmacht, was es mit ihr auf sich hat und was an ihr zu
kritisieren ist: sei es der Skandal, dass diese
kapitalistische Gesellschaft die Produzenten des
Reichtums von der Verfügung über ihn ausschließt und sie,
wie der Autor selbst bemerkt, dem Zwang aussetzt,
immer mehr arbeiten zu müssen für immer weniger
Geld
; sei es die Verlogenheit dieser unter
öffentlicher Anleitung anlässlich einer WM 2006
zelebrierten deutschen Gemeinsamkeit aller mit allen, die
den staatlichen Zwangszusammenhang verhimmelt, der alle
als ‚Deutsche‘ unter ein politisches Kommando beugt und
so ‚vereint‘; oder sei es die Funktion, die die
Einbildung eines höheren, alle in letzter Instanz doch
vergemeinschaftenden Zusammenhangs fürs willige Mitmachen
im ordinären Kapitalismus unter der Regie einer
Staatsgewalt hat, die die Klassengegensätze betreut und
beaufsichtigt. Oder aber ob man das bloße Bemerken,
dass die kapitalistische Wirklichkeit
nicht zu einem als wirklich vorgestellten
kollektivistischen Gemeinsinn passt, schon für
deren Kritik hält. Dann kritisiert man weder den
Kapitalismus, der die Menschen ins Elend stürzt,
noch den Patriotismus, der sie verdummt, auch
nichts von dem, was das deutsche Vaterland ist
und tut, das einem die praktischen Lebensverhältnisse
aufherrscht. Dann möchte man vielmehr nur zum Besten
geben, dass man das Verhältnis von Vaterland und
Vaterlandsliebe für irgendwie nicht in Ordnung befindet.
Dann ist das Interesse, selbst überzeugt an ein
kollektivistisches Wir glauben zu können, Maßstab der
Beurteilung all dessen, was sich im realen politischen
Kollektiv abspielt. 7500 Entlassene sind dann nur mehr
der Anlass dafür, dass ein Patriot sich in
seiner patriotischen Empfindung, die er für
‚natürlich‘, also völlig in Ordnung hält, ‚gestört fühlt‘
– und im Kapitalismus den Schuldigen sucht und findet,
der für diese Entfremdung verantwortlich ist.
Genau das ist die Sorte kritischer Distanz, die sich der Autor der SZ leistet; und so mündet seine Entlarvung des zynischen Verhältnisses von Patriotismus und Klassengesellschaft in lauter Urteile, die sich einzig dem subjektiven Beurteilungsmaßstab des Kritikers verdanken, dem enttäuschten Anspruch nämlich, dass die gesellschaftlichen Gegebenheiten doch bitte seinem patriotischen Gemeinschaftsbedürfnis zu entsprechen hätten: Wo der gewöhnliche Patriot über die Abstraktion von allen realen Gegensätzen zu dem unbedingten Zuspruch zum deutschen Kollektiv gelangt, der sich dann auch als privates Glücksgefühl feiern lässt, ergeht dieser „Alt-68er“ sich im Widerspruch eines kritischen Patriotismus. Er abstrahiert von der Welt erst einmal so, dass er sich Deutschland als ein durch keinerlei Dissoziierung entzweites, harmonisches Kollektiv vorstellt – das wäre es, wozu er ‚Vaterland!‘ sagen könnte. Den Vergleich mit diesem idealen Bild hält das wirkliche Deutschland selbstverständlich nicht aus, schließlich hat man es sich ja fern von aller Wirklichkeit zusammengebaut – und diese Abweichung von den Maßstäben, unter denen der Kritiker mit Deutschland als seinem Vaterland allenfalls glücklich und zufrieden sein könnte, legt er ihm zur Last: Dass die Verhältnisse es einem Patrioten wie ihm schwer machen mit dem vaterländischen Dafürsein, heißt der Vorwurf an die Adresse der Nation.
Dabei ist er dann allerdings doch wenig anspruchsvoll, was die Vorstellung von einer „echten“ Gemeinschaft angeht, in der das Gemeinschaftsgefühl störende Gegensätze nicht mehr zu entdecken sind: Der Kapitalismus von ‚gestern‘ stellt ihn da vollauf zufrieden. So folgt als erster Teil der Schilderung einer zerrütteten Beziehung zwischen ihm und Deutschland die Erinnerung an die goldenen Zeiten, in denen die bedingungslose Vaterlandsliebe noch geklappt hat:
„Wirtschaftswunder-Motor“ … „stetig wachsender Wohlstand“ … „1968 eine Revolution“ … „nur ein kleines Arbeitslosenproblem“ … „Kapital und Arbeit, der Einzelne und die Gesellschaft waren verbunden durch ein Wertesystem, das sich soziale Marktwirtschaft und demokratischer Rechtsstaat nannte und in eine ‚westliche Wertegemeinschaft‘ eingebettet war. Die Gewinne der Unternehmen waren nicht besonders hoch … das Wachstum stetig, die Zukunft planbar, das Leben in den Familien geordnet.“
Sonst war da nämlich nichts. In einer Marktwirtschaft mit
dem Prädikat ‚sozial‘ gibt’s keine Ausbeutung, sondern
nur ‚Verbindung‘ von Kapital und Arbeit. Ein Staat, der
ein Rechtsstaat ist, übt selbstverständlich keine Gewalt
aus, kennt gar kein oben und unten, sondern verbindet
schon wieder nur alle miteinander. Eine westliche
Wertegemeinschaft ist, wie der Name sagt, im Wesentlichen
eine Gemeinschaft von Werten, ein kuscheliges Bett also
für einen Friedensstaat wie Deutschland – kurzum: Die
kapitalistische Weltwirtschafts- und waffenstarrende
NATO-Macht BRD mit ihrem antikommunistischen Kampf- und
‚Wiedervereinigung’programm nach außen und ihrem
demokratischen Säuberungswahn von allen linken Umtrieben
im Innern war mal ein wahres Eden, ein Glücksfall für die
Deutschen, nämlich ein Kapitalismus mit menschlichem
Antlitz
: eine gesellschaftliche Idylle also, in der
sich ein jeder an seinem Platz gut aufgehoben wissen
konnte und die daher als arbeitsteilig-gemeinschaftliches
Werk aller von allen völlig zurecht früher einmal
Heimat genannt wurde
. Schon toll, was einer so alles
über ein Land weiß, welches er unbedingt als seine Heimat
betrachten will, also als Ensemble von Verhältnissen, in
denen er sich einfach ‚aufgehoben‘ fühlt.
Aber das war ja früher. Heute dagegen – ‚Globalisierung‘
heißt das Stichwort – hat die Kapitalseite der
Gesellschaft die Solidarität (gekündigt)
, auf der
ganzen Welt gilt nur noch eine Spielregel: die des
Marktes
, und das hat Folgen, die exakt so übel sind,
wie der Zustand vor diesem Sündenfall umgekehrt
vortrefflich war:
„Dieses Gesetz kennt kein gemeinsames Drittes, weiß nichts vom Allgemeinwohl, der Sozialpflichtigkeit des Eigentums und dem Vorrang der Arbeit vor dem Kapital. Das Schicksal von 7 500 Mitarbeitern samt Familien darf die Lakaien des Kapitals so wenig tangieren wie das Schicksal der Stadt, der Region und des Landes, in dem ihr Unternehmen sich am globalen Rattenrennen um die höchste Rendite für die Reichen dieser Welt beteiligt. Den willigen Vollstreckern dieses Gesetzes zur globalen Gleichschaltung erscheinen die im Grundgesetz verankerten Werte nicht als schwer erkämpfte kulturelle Errungenschaften, sondern als Wettbewerbshindernisse, die dem Wachstum der Renditen entgegenstehen und darum abgeschafft gehören. … Patriotismus unter solchen Voraussetzungen ist nichts weiter als Opium fürs Volk, und die das Gift verabreichen, müssen gottverdammte Zyniker sein.“
So konstruiert sich die moralische Kritik des frustrierten Patrioten ihr anti-kapitalistisches Weltbild zusammen: National und so, wie bis gestern noch, ist der Kapitalismus sozial und menschlich und stimmt mit all den feinen sittlichen Prinzipien überein, die ein demokratisches Gemeinwesen adeln; transnational und global, wie er heute ist, ist exakt das Gegenteil der Fall und er entartet zur asozialen Unmenschlichkeit. Als ob ‚Allgemeinwohl‘ jemals etwas anderes gewesen wäre als bloß ein anderer Name für den kapitalistischen Erfolg der Nation, der auf Kosten derer geht, die ihn mit ihrer Arbeit erwirtschaften; als ob es deutschen Kapitalisten je um die Versorgung und den Wohlstand der Menschen ginge oder überhaupt um etwas anderes als ihre Rendite, wenn sie für Lohnarbeit Verwendung finden; wie wenn der ‚Vorrang der Arbeit vor dem Kapital‘ irgendwann mehr gewesen wäre als eine Floskel aus dem Brevier der katholischen oder gewerkschaftlichen Soziallehre, zeichnet der Mann vom Kapitalismus ‚heute‘ ein Bild, vor dem alle Gutmenschen einfach nur erschrecken können: Er ist die pure Negation – all der feinen Wert- und sonstigen Idealvorstellungen nämlich, die jemals zu seiner Schönfärbung erfunden wurden und an die ein moralisches demokratisches Gemüt doch so gerne weiter glauben können möchte.
Das breitgetretene Leiden daran, dies so schön unbefangen
wie bis neulich noch nicht mehr zu können, das ist sie
also, die ganze Kritik, die dieser Mann an den
kapitalistischen Verhältnissen anzubringen hat. Selbst
dermaßen bekifft von dem Stoff, der dem Volk
missbräuchlich – nur unter solchen Voraussetzungen
natürlich! – in Überdosis verabreicht wird, hält er
seinem kapitalistischen Vaterland als Spitze aller
Einwände seinen tiefen Seufzer nach heimatlicher
Geborgenheit entgegen – es ist nicht mehr mein
Land
. Und wenn er die Schuldigen an der tiefen
Entzweiung namhaft macht, unter der er leidet, sind von
ihm Töne zu hören wie von einem anderen von Deutschland
groß Enttäuschten, der es vor den 68-ern ins
Geschichtsbuch gebracht hat – nur dass sie diesmal nicht
mehr ‚raffendes Kapital‘ oder ‚jüdisch-bolschewistische
Weltverschwörung‘ heißen. Nürnberger geht bei der
Identifizierung der un-patriotisch-materialistischen
Kreise, die dem echten Patrioten das Leben schwer machen,
nämlich mit der Zeit: Bei ihm heißen sie eine
anglo-amerikanische Wertpapiergesellschaft
sowie
die Weltherrschaft der Krämerseele
ohne nähere
nationale Spezifikation. Er macht sich ja auch gar nicht
für eine rechte Volksbewegung stark, auf dass die
Deutschland von der Fremdherrschaft befreie. Als einer
der Alten, die wir aus 68 gelernt haben
, ist und
bleibt er ein ‚Linker‘, und weil er als solcher seit 1968
einfach überhaupt nichts dazugelernt hat, schwebt ihm als
Revolution
eine Neuauflage des famosen Umsturzes
vor, mit dem er und seinesgleichen damals erst die
Universitäten, dann die ganze deutsche Republik
erfolgreich zu ihrer Heimat verinnerlicht haben:
„Macht lieber eine intelligente, gewaltfreie, lustvolle Revolution, werde ich meinen Kindern sagen, erobert das Land zurück, das uns genommen wurde … Nehmt den Milliardären dieser Welt die Pfeife ab, nach der wir alle tanzen müssen, betätigt euch als Aktionskünstler, mauert die Eingänge der Frankfurter Börse zu … gründet eure eigenen Banken und Versicherungen …, feiert internationale Partys in den Bankenvierteln von London, Paris und Zürich … veröffentlicht im Internet die Tabellen, die zeigen, wie wenig die Starken noch zu den Lasten des Gemeinwesens beitragen … tretet in die Kirchen, Parteien und Gewerkschaften ein, feuert deren Funktionäre und organisiert den weltweiten Widerstand gegen die Tyrannei der Krämerseele.“
Anti-Kapitalismus als Kindergarten einer alternativen Spaßgesellschaft, Aufstand mit Ringelpiez und Anfassen, phantasievoller Marsch durch einfach alle Institutionen und frischer antiautoritärer Wind im kapitalistischen Getriebe: Als ob mit den lustvollen Aktionskünstlern in den schwarz-rot-goldenen Fanmeilen nicht schon genug Blödsinn unterwegs wäre, sollen deutsche Patrioten das Land jetzt auch noch in eine Theaterlandschaft verwandeln und zum Freilichtmuseum der Gaudiveranstaltungen ausbauen, mit denen ein Alt-68er sich seine Erinnerungen vergoldet – nein, bitte, liebe Kinder, nicht auch noch das!
*
Deutschland im Halbfinale
gescheitert
– danach ist wieder Wochenende,
und wieder bringt die ‚Süddeutsche Zeitung‘ neben ganz
viel Stoff über die Weltmeister der Herzen
,
Besinnliches zum Thema Vaterland. Nobelpreisträger,
Fußball- und Patriotismus-Experte Günter Grass gibt sich
die Ehre, im Sportteil diesmal, und verrät – ganz
nationaler Vordenker – in einem 2-seitigen Interview dem
geneigten Leser:
Woran eine feine Dichterseele Geschmack findet
Der Dichter glaubte, seine Deutschen zu kennen: Ein
muffiges Pack von Nörglern, Miesmachern und ewigen
Bedenkenträgern. Es ist auch gar nicht so lange her, als
er diese verbiesterten Hartz-IV-Protestler mit ihrer
Parole ‚Wir sind das Volk!‘ – zusammen mit einigen
anderen Vertretern der geistig-kulturellen Elite – per
Zeitungsannonce wissen ließ: Auch wir sind das
Volk!
Schon mit Nachdruck hat er sich da verbitten
lassen, dass der Pöbel sich anmaßt, an den nationalen
‚Notwendigkeiten‘ herumzunörgeln, bloß weil er sie
auszubaden hat, oder gar auf die Geschicke der Nation
Einfluss zu nehmen, die doch seiner
kritisch-geistigen Oberaufsicht unterstellt sind. Und
dann das:
„Und dann lief alles ganz anders. Sehr heiter, sehr locker. Die Deutschen waren sogar bereit, auf eine fröhliche Art und Weise Flagge zu zeigen und haben aus dieser Flagge ein vielfach verwendbares Kleidungsstück gemacht: vom Wickelrock bis sonst wohin. Füllige ältere Damen hatten eine neue Schminkmethode, sie haben sich schwarz-rot-gold auf die Wangen gemalt, manche hatten Irokesen-Frisuren in den Landesfarben, ein Baby sogar den Schnuller. Diese völlig unorganisierte spontane Art war überzeugend. … Und ich hoffe, dass sich die Politiker im Nachhinein zurückhalten, nicht auf dieser Welle mitreiten und das Ganze zu etwas stilisieren, was es nicht sein kann und nicht sein wollte.“
Er hat schon einen speziellen Blick auf die Dinge. Sieht
zwar auch nur, was alle anderen sehen, doch allein ihm,
dem Kenner der schönen Gestalt, ist es gegeben mitteilsam
zu machen, was die Dinge einem sagen wollen. Die
Flagge – als Schnuller! Das Symbol des
höchsten Respekts gegenüber der Anonymität des Staats –
als Wickelrock! Als Haarschmuck! Welch spielerische
Heiterkeit beim Zusammenfinden von Volk und Obrigkeit
kommt da doch zur Anschauung, wie locker sich da der
Schulterschluss einfindet, auf den es in einem echten
Kollektiv ankommt! Die 3 Farben, die für Deutschland
stehen – was für eine Sinnespracht für einen deutschen
Dichter, wenn sich so viele so gleich deutsch maskieren;
denn: Keiner hat es ihnen angeschafft! Völlig
unorganisiert haben sie erst bei Aldi und Lidl die mit
dem schönen Schmuck gefüllten Regale, dann die spontan
für sie freigemachten Plätze gestürmt – welch großartiger
Ausdruck freier völkischer Schaffenskraft bei der längst
fälligen deutschen Kollektivwerdung von unten! In jeder
Hinsicht überzeugend
jedenfalls für einen, der
sich auskennt im ästhetischen Spannungsverhältnis von
Form & Inhalt. Daher will er auch nicht, dass sich
andere, die Politiker
, anders über das große
Kunstwerk hermachen, zu dem er die nationalistische
Herzensergießung von Millionen stilisiert: Für ihn war es
einfach nur die große Laienspielgruppe namens Volk, die
da ihre waldursprüngliche Kollektivität so schön genossen
und gefeiert hat, und das hat mit Politik aber auch so
was von gar nichts zu tun. Beziehungsweise allenfalls
das, was der Dichter über die vollkommene Kunst des
Augenblicks hinaus länger konserviert haben möchte. Zum
Beispiel den Genuss des Umstands, dass dank des spontanen
deutschen Volksauftritts auf der Bühne der
Weltöffentlichkeit so große Themen
wie ‚deutsche
Nation‘ und ‚deutsches Nationalbewusstsein‘ endlich aus
der Schmuddelecke der Rechten herausgeholt und wieder dem
grundgesunden gesamtdeutschen Kollektivbesitz zugeführt
worden sind:
„Ich bin immer dafür gewesen, das Thema ‚Nation‘ den Rechten wegzunehmen. Das ist von links und von rechts, jenseits des Rechtsradikalismus, vernachlässigt worden. … Das Thema Nationalbewusstsein haben wir ohne Not den Rechtsradikalen überlassen. Sicher ist diese Kollektivleistung während der Weltmeisterschaft nicht erbracht worden, um den Rechtsradikalen eins auszuwischen. Ihnen ist auf ganz freiwillige, spontane Art das Wasser abgegraben worden. Sie konnten nicht mehr mithalten; jedenfalls nicht in ihrer Form, sie hätten sich lächerlich gemacht.“
Den rechten Extremisten das Wasser abgraben, indem man
sie einfach im eigenen Patriotismus ersäuft – was für
eine geniale Kollektivleistung
! Wie alt sie im
Wettbewerb pur nationalistischen Dafürseins mit ihrer
Parole ‚Deutschland den Deutschen!‘ aussehen, wenn diese
Deutschen das Thema Nationalbewusstsein
endlich
einmal selbst in die Hand nehmen, also ihre
allernatürlichsten Regungen frei herauslassen und sich
darin feiern, wie eins sie mit ihrem Vaterland schon
längst sind! Einfach nicht mehr mithalten
können
da gestandene Rechtsradikale; wo deutsche Muttis schon an
ihren süßen Kleinen feinste vaterländische Gesinnung
zeigen, da machen sie sich mit ihren braunen Runen und
Riten doch nur noch lächerlich
! So kommt auch noch
der demokratische Geschmack des Dichters voll auf seine
Kosten, einerseits zumindest. Denn andererseits kann
einer wie er sich bei dieser spontanen
patriotischen Aufwallung anlässlich einer
Sportveranstaltung dann doch nicht ganz sicher sein, ob
das, was da so schön aufwallt, wirklich Patriotismus ist.
Der Kanzlerin Wort vom unverkrampften Patriotismus
mag er sich daher nur höchst bedingt anschließen:
„‚Unverkrampft‘ stimmt auf jeden Fall. ‚Patriotismus‘ klingt mir jetzt ein bisschen draufgesetzt, weil es bei vielen sicher unbewusst geschieht. Aber sie sehen Anlass, Flagge zu zeigen. Das reicht doch schon mal, ja? Da sich sonst wenig Anlass bietet, Flagge zu zeigen, lädt der Sport und die sportliche Veranstaltung dazu ein. Mein Begriff von Patriotismus beruht auf einer Formel, die der Philosoph Jürgen Habermas erfunden hat und die – leider – nicht angenommen worden ist: der Verfassungspatriotismus. Ich brauche für Patriotismus keinen Fußball.“
Tja, Volk, wirst deine niedere Natur auch dann nicht los,
wenn du für deinen Nationaldichter einmal alles richtig
machst: Zu wahrem Flagge zeigen
fehlt dir einfach
die Klasse. Dein Patriotismus entfährt dir allzu oft
unbewusst
, wie ein Furz, und auch das nur, weil
gerade ein Anlass
da ist. Die echte patriotische
Gesinnung aber braucht keinen Anlass, schon gar nicht
einen so primitiven wie Fußball. Wer sein Vaterland
wirklich liebt, muss schon, und das können halt nur
wenige, die wahre sittliche Größe seines demokratischen
Gemeinwesens einmal erfasst und auf Dauer verinnerlicht
haben. Der bekennt sich dann nicht nur aus einer
spontanen Laune heraus und nur für einen Monat, sondern
tagaus, tagein und bei jeder sich bietenden Gelegenheit
zu „Deutschland!“ als dem wirklich Wesentlichen aller
seiner Belange wie der aller anderen. Der braucht sich
die Flagge nicht umzuhängen, weil er Schwarzrotgold als
tief be- und ergriffene, also ‚echte‘ Substanz in sich
fühlt, im Stadion mithin nicht einfach so in den Chor der
Hymne einsteigt, sondern mitsingt, weil er diese
Strophe mag
. Davon, liebes Volk, bist du weit weg.
Ansonsten aber, wie gesagt, war dein Auftritt so schlecht
nicht, und das reicht doch schon mal, ja?