Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Jelzin-Rede an die russische Nation: Gospodin Eigentlich
Der Präsident beglückwünscht seine Bürger zu ihrer großen Nation und diese zu ihren prachtvollen Bürgern und leugnet bzw. ignoriert den realen Niedergang von Volk und Nation.
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Jelzin-Rede an die russische Nation: Gospodin Eigentlich
Mitte Juni feiert der russische Staat seinen Unabhängigkeitstag. Der russische Präsident beglückwünscht sein Volk, indem er ihm mit einem Schlußwort zur leidigen Nato-Affäre den neuen Großmacht-Status erläutert, zu dem er ihm verholfen hat:
„Eine Großmacht besteht nicht aus einer Ansammlung von Waffen oder ohnmächtigen Bürgern. Eine Großmacht besteht aus aktiven, unabhängigen, begabten und talentierten Menschen, die nicht vergessen, daß sie Teil eines gemeinsamen Vaterlandes sind. Das Gewicht Rußlands in der Welt bestimmt sich durch die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft.“ (SZ 13.6.97)
Im Definieren ist er große Klasse, der russische Präsident, das muß man ihm lassen. Wenn er gegenüber der NATO kapituliert, die russische Militärmacht und damit auch deren Bedeutung in der Welt dezimiert, ändert das für ihn nichts am Großmachtstatus Rußlands. Man muß ihn nur anders sehen. Er definiert den Nutzen seiner Politik für die von ihm beanspruchte Großmacht einfach um, indem er Großmacht umdefiniert. Großmächte zeichnen sich nach seiner Lehrmeinung nicht mehr durch ihren Gewaltapparat aus, sondern durch ein potentes Volk, das hinter ihnen steht. Und wenn er die Potenzen seiner Nation durch sein marktwirtschaftliches Reformprogramm gerade brachlegen läßt, ändert das auch nichts an der „Großmacht“ Rußland. Schließlich hat sie im Nationalismus ihrer Bürger ein großartiges Lebensmittel. Nationen mögen ja im Unterschied zu ihren Insassen manchmal von seltsamen Lebensmitteln zehren, in diesem Fall stimmt aber auch die Behauptung nicht übermäßig. Die Bürger, die Jelzin aus ihrer sowjetischenOhnmachtzuaktiven Menschenbefördert haben will, sind im heutigen Rußland nicht nur gegenüber ihrem Staat, sondern auch gegenüber den eigenen Überlebensnotwendigkeiten so komplett ohnmächtig, daß sie auch ihrem Staat wenig zu Diensten sind. Daher taucht dasselbe Volk, das der Präsident zu seinem Nationalismus beglückwünscht, in der neuen russischen Sicherheitsdoktrin mehr als Problem auf. Die Alltagsversion der Sonntagsrede des russischen Präsidenten vollzieht mit derselben Technik des falschennicht… sondernebenfalls die Verabschiedung von einer russischen Weltmacht und befindet,daß nicht mehr ein äußerer Feind, sondern wirtschaftliche und soziale Probleme die Hauptgefahr darstellten(NZZ 10.5.).
Als wollte er noch eigenhändig den Beweis dafür
erbringen, setzt sich Jelzin Ende Juni ins Fernsehen, um
zu verkünden, daß er – höchstpersönlich – die Gelder für
die seit Monaten ausstehenden Rentenzahlungen an die
lokalen Obrigkeiten überwiesen hätte, um die Schuldfrage
für den Sachverhalt, daß es keine russische
Nationalökonomie mehr gibt, von der russische Bürger
leben könnten, zu delegieren – auf jeden Fall weg von
sich und seiner Regierung. Daraufhin, nachdem das Geld
wieder einmal „nicht angekommen ist“, stürmen russische
Rentner allerorten lokale Verwaltungsgebäude. Aktiv,
unabhängig, begabt und talentiert
sind sie schon, die
russischen Menschen. Sie hören nämlich immer noch auf
ihren Staat. Und wenn der sie aufruft, ein Stück Staat zu
zertrümmern, machen sie das glatt.
Der Zynismus, Völker für das Aushalten der Gemeinheiten
zu loben, die ihre Staatsgewalt ihnen verordnet, ist in
Politikerkreisen zwar normal, weil das Volk, wie sein
Name schon sagt, überall als Material einkalkuliert wird.
Der Zynismus des russischen Präsidenten, sein wüstes
neues Denken, nach dem er äußere Mißerfolge als innere
Erfolge und auch noch als Erfolge seiner Bürger bewertet
sehen will, ist aber nicht ganz normal, weil die
Staatsnotwendigkeiten, die der heutige russische Staat
seinen Bürgern verordnet, noch nicht einmal
staatsnützlich sind. Wahrscheinlich hat sich Rußlands
Präsident bei seiner Einsicht, das Gewicht Rußlands in
der Welt bestimmt sich durch die Stellung des einzelnen
in der Gesellschaft
, ein bißchen zu sehr von seiner
eigenen Stellung beeindrucken lassen. Der Welt
,
die bei der Identifizierung von Großmächten immer noch
von ausgesprochen altem Denken
geprägt ist, kann
das aber nur recht sein. Genau dafür gönnt sie ihm seine
Einbildung.