Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Fundamentals des kritischen Sachverstands

Es ist schon interessant, was den Autoren kritischer Leitartikel alles so ganz selbstverständlich aus der Feder fließt. Welche Stichworte sie zitieren, die ohne jedes weitere Argument ganze staats- und sozialpolitische Theorien abrufen, für die ganz offensichtlich nicht mehr agitiert werden muss, sondern mit denen man argumentiert. Und zwar schlicht und einfach dadurch, dass man sie erwähnt, an sie erinnert wie an lauter unhinterfragbar gültige Weisheiten, ohne die ein vernünftiges Urteil über den Lauf der Welt einfach nicht zu haben ist. Damit ausgerüstet, lässt sich dann so gut wie jeder Kommentar – zu welchem aktuellen politischen Thema auch immer – bestücken und argumentativ vertiefen.

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Fundamentals des kritischen Sachverstands

Es ist schon interessant, was den Autoren kritischer Leitartikel alles so ganz selbstverständlich aus der Feder fließt. Welche Stichworte sie zitieren, die ohne jedes weitere Argument ganze staats- und sozialpolitische Theorien abrufen, für die ganz offensichtlich nicht mehr agitiert werden muss, sondern mit denen man argumentiert. Und zwar schlicht und einfach dadurch, dass man sie erwähnt, an sie erinnert wie an lauter unhinterfragbar gültige Weisheiten, ohne die ein vernünftiges Urteil über den Lauf der Welt einfach nicht zu haben ist. Damit ausgerüstet, lässt sich dann so gut wie jeder Kommentar – zu welchem aktuellen politischen Thema auch immer – bestücken und argumentativ vertiefen.

Bei den Kommentaren zu dem zum „Skandal aufgeblasenen Armutsbericht“ funktioniert diese Technik jedenfalls ganz gut. Hantiert wird, in beliebiger Reihenfolge, im Wesentlichen mit folgenden 4 Weisheiten:

1. „Wer Arbeit hat, ist nicht arm!“

Da kennt man sich aus in den Redaktionen der seriösen Presse: Die Armutsgrenze verläuft zwischen dem Bodensatz der Gesellschaft und denen, die in der Gesellschaft angekommen und aufgehoben sind. Und wer Arbeit hat, der gehört dazu, kann also nicht arm sein. Völlig ignorant gegen die Art und Weise, wie ihre wunderbare Marktwirtschaft funktioniert, schreiben sie diese tröstliche Botschaft jahrein, jahraus in ihre Leitartikel. Und das ist einigermaßen erstaunlich. Man erwartet zwar nicht, dass sie ernsthaft dem Gedanken nahe treten könnten, dass Armut aus der Lohnarbeit erwächst, ja notwendigerweise zu ihr dazugehört. Aber dass sie auch noch angesichts der Tatsache, dass es hierzulande massenhaft Leute gibt, die selbst von einem Vollzeitjob nicht mehr leben können und in ihren eigenen Blättern als die neuen „working poor“ besprochen werden, das Loblied des „Armutsschutzes Arbeit“ singen und felsenfest an ihrer Antithese von Arbeit und Armut festhalten, macht einiges deutlich über die Logik des Vorurteils. Es steht eben längst vor jeder Beurteilung fest und lässt sich auch durch die härtesten Fakten aus der realen Welt der Ökonomie nicht erschüttern. Wenn die Realität nicht zum guten Urteil über sie passt, werden die Fakten einfach nicht zur Kenntnis genommen oder gnadenlos unter die schon längst feststehende Botschaft subsumiert. Und die lautet nun mal: Es geht nichts über Arbeitsplätze, gerade für arme Leute ist nichts wichtiger. Deswegen ist jeder Euro, der von Staats wegen für diese Leute ausgegeben wird, gerade für die armen Leute selber von Übel. Womit wir bei Dogma Nr. 2 wären, der absolut unanfechtbaren politökonomischen Theorie:

2. „Lohnnebenkosten vernichten Arbeitsplätze!“

Diese Weisheit halten alle, die sie liebend gerne zitieren, sowieso nicht für eine Theorie, sondern für ein Faktum. Mal dahingestellt, ob es überhaupt die Regel ist, dass Unternehmer auf die Benutzung von Arbeitern verzichten, weil die Sozialabgaben zu hoch sind. Die Kommentatoren, die ununterbrochen vor zu hohen Lohnnebenkosten warnen, sind sich völlig sicher, dass sie den Geist der unternehmerischen Kalkulationen erwischt haben. Und sie finden überhaupt nichts dabei, dass sie bei diesem Geist felsenfest davon ausgehen, dass der Lebensunterhalt der Arbeiter für diejenigen, die sie ausnützen, ein einziges Geschäftshindernis ist. Sie leisten sich im Gegenteil den Zynismus, die Abhängigkeit der Lohnarbeiter von ihrer Ausbeutung als guten Grund dafür zu unterstellen, dass die den Rechnungen der Unternehmerseite im eigenen Interesse zuzustimmen haben. So gesehen ist jeder Euro, den Unternehmer für Arbeitslöhne aufwenden müssen, zuviel, auch wenn es sich nur um den Lohnbestandteil handelt, den der Staat für seine Sozialkassen verstaatlicht hat, um die Arbeiterklasse insgesamt für die „Wechselfälle“ des proletarischen Lebens halbwegs abzusichern. Damit steht dann völlig außer Frage:

3. „Umverteilung ist von Übel!“ „Staatliche Regulierung ist schlecht!“

Denn jede Umverteilung ist abwegig, weil der Staat damit die naturwüchsige Verteilung von Armut und Reichtum, wie sie der Kapitalismus in seinem Gang so hervorbringt, nur unnötig durcheinanderbringt. Deswegen ist „Umverteilung“ selber schon ein Schimpfwort, zu dem man sonst weiter gar nichts zu sagen braucht. Wenn sie dann noch eine Abstraktionsstufe höher gehen und ganz allgemein die „staatliche Regulierung“ überhaupt thematisieren, sind sich sämtliche Leitartikelschreiber erst recht sicher, dass sie damit ein Grundübel unserer Zeit anprangern. Dieses Urteil verkünden sie mit absoluter Überzeugung als unverwüstliche Parteigänger einer Wirtschaftsordnung, die keinen Tag funktionieren würde, ohne dass der Staat sie ausführlich und umfassend in tausenden von Paragraphen reguliert.

Soviel zur Ökonomie und zur Sozialpolitik. Außerdem verraten sie uns aber auch noch, was sie so ganz generell von der Demokratie halten, diesem besten aller denkbaren Gemeinwesen:

4. „Dauerwahlkampf schadet dem Durchregieren!“

Wenn kritische demokratische Meinungsmacher sich so ihre Gedanken über die „staatliche Regulierungswut“ machen, dann drängt sich ihnen regelmäßig der Verdacht auf, dass dieser schädliche Unsinn – wann immer er sich um arme Leute kümmert – letztlich nur einer demokratischen Unart geschuldet sein kann: Die verantwortlichen Politiker wollen sich mal wieder „als Gutmenschen im politischen Dauerwahlkampf profilieren“ und versprechen ihrem minderbemittelten Stimmvieh lauter Wohltaten, die jeder vernünftigen Politik widersprechen. So outen sie sich regelmäßig als Opportunisten des niederen Volksinteresses, anstatt im Interesse des Großen und Ganzen eine mutige Reform nach der anderen durchzuziehen. Eine wunderbare Klarstellung dessen, was die Anbeter der demokratischen Gesellschaftsordnung von der heiligsten aller Kühe, ihrer Staatsform, halten: Die Demokratie – eine schlechte Herrschaftstechnik, ein einziges Hindernis für gescheites Durchregieren! Das Volk mit seinen permanenten freien, gleichen und geheimen Wahlen auf allen Ebenen der staatlichen Hierarchie – damit erzwingt es nur unverantwortliche Rücksichtsnahme auf seine Bedürfnisse und macht vernünftiges, staatstragendes Handeln so schwer! Zur demokratischen Elite gehört anscheinend eine verächtliche Stellung zur Demokratie.