Vom Volksbegehren gegen Temelin zum Besuch bei Saddam Hussein
Haiders austro-nationales Leiden an Europa

Nachdem die Partei Haiders und seiner Freiheitlichen vom Regierungspartner mit dem Abschluss der Verhandlungen in Brüssel vor vollendete Tatsachen gestellt worden ist, mobilisiert sie den von der Politik aufgerührten Nationalismus, der sich in seinem Temelin-Protest über alle Maßen berechtigt weiß, nun gegen das von der Regierung abgeschlossene Abkommen und damit gegen die Regierung und agitiert mit voller Kraft für das Volksbegehren zur Stilllegung von Temelin. Damit stellt sich der kleinere Koalitionspartner gegen den größeren als der entschiedenere und kompromisslosere Vertreter österreichischer Interessen auf.

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Gliederung

Vom Volksbegehren gegen Temelin zum Besuch bei Saddam Hussein
Haiders austro-nationales Leiden an Europa

1. Das Volk soll begehren, was die EU zurückgewiesen hat

Im Januar 2002 greift die FPÖ zu dem für eine Regierungspartei eher unüblichen Instrument, jenseits von Wahlen den Volkswillen aufzurufen und das zu einer außenpolitischen Materie von einiger Brisanz. Mobilisiert wird das Österreicher-Volk zu einem Volksbegehren zum Veto gegen den EU-Beitritt der Republik Tschechien, falls Temelin nicht stillgelegt wird:

„Durch Bundesverfassungsgesetz ist folgendes sicherzustellen: Die bundesverfassungsmäßig zuständigen Organe werden ermächtigt, den Staatsvertrag über den Beitritt Tschechiens zur Europäischen Nation abzuschließen, sobald eine völkerrechtlich bindende Erklärung der Republik Tschechiens vorliegt, das AKW Temelin auf Dauer stillzulegen und diese Stilllegung auch tatsächlich erfolgt ist.“

915220 Österreicher antworten mit Ja und liefern damit den Stoff für die demokratischen Interpretationskünste aller interessierten Parteien, was sie den befürwortenden 15% bzw. den vorwiegend schweigenden 85% entnehmen wollen. Auf jeden Fall hat aber die FPÖ damit drei Fronten neu- bzw. wiedereröffnet: eine innerhalb Österreichs, indem sie die Koalition kurzfristig in Frage stellt; dann die Front gegen Tschechien, dem gegenüber sie die Drohung, den EU-Beitritt zu verhindern, von neuem aufbaut; und schließlich die Front gegen Europa, das bei seinem Projekt der Osterweiterung Querschläger der österreichischen Art überhaupt nicht leiden kann, schon seit längerem die FPÖ anti-europäischer Umtriebe verdächtigt und deshalb vor nicht allzu langer Zeit seinen Partner Österreich, der diese FPÖ am Regieren beteiligt, mit Sanktionen belegt hatte.

Die Heimatfront

Der Erfolg, den die FPÖ mit ihrem Volksbegehren einfährt, ist einerseits leicht zu haben: Schließlich mobilisiert sie in dieser Frage den Ausländerhass im Allgemeinen und den gegenüber Tschechien im Besonderen. Bei ihrem demokratischen Anliegen, sich als die Partei in Szene zu setzen, die sich um ausländische Anschläge auf die österreichische Volksgesundheit am allermeisten und aufrichtigsten sorgt und daher auch mit Kritik an Europa nicht zurückhalten kann, meint sie, im AKW Temelin über eine wunderbare Waffe zu verfügen. Für die Profilierung als kämpferischer Vertreter österreichischer Interessen gegenüber feindseligen Ausländern spannt sie also den nationalen Anti-Atom-Konsens ein.

Auf den Einfall, Österreich durch ein tschechisches Atomkraftwerk für betroffen zu erklären und dessen Nicht-Inbetriebnahme bzw. Schließung zur Bedingung für die Aufnahme Tschechiens in die EU zu machen, hat Haider allerdings gar nicht selbst kommen müssen. Der Einfall bestimmt die österreichische Politik, seitdem Europa das Kapitel Osterweiterung angesetzt hat und Österreich darin eine besondere Rolle, nämlich seine „Brückenfunktion“ reklamiert. Man bringt sich als besonders kenntnis- und hilfreicher Vermittler wegen ehemaliger Vorherrschaft und späterer Nachbarschaft in diesem Großraum in Stellung, und das heißt dann, dass man die Kandidaten als Erstes nachdrücklich darauf aufmerksam macht, dass auch Österreich zu dem Kollektiv zählt, das über die Beitrittsbedingungen zu entscheiden hat, um dann den Beitrittsstaaten die Hilfe einer speziellen Verdolmetschung ihres jeweiligen „Reform“-Bedarfs anzubieten, in dem alle österreichischen Sonderwünsche an die Kandidaten untergebracht werden.

Seitdem hat sich der nationale Anti-Atom-Konsens zu einer Spezialität der österreichischen politischen Kultur ausgewachsen – wo gibt es das sonst schon, dass die Verurteilung der Atomkraft aus der Protestszene herausgekommen ist und eine ganze Nation hinter sich gebracht hat? Hinter sich allerdings in einer besonderen Zielrichtung, nämlich gegen das Ausland, und zwar ein ganz bestimmtes. Bayerische, slowakische Atomkraftwerke oder das ungarische sind ja auch nicht allzu weit von den österreichischen Grenzen entfernt, außerdem pflegen auch weiter entfernte Anlagen bei ihren Havarien nicht vor nationalen Grenzen Halt zu machen. Aber die in West- wie Osteuropa reichlich herumstehenden Reaktoren haben es noch nie geschafft, einen solchen Sturm der Entrüstung in Österreich hervorzurufen wie das tschechische Temelin.

Schließlich ist in diesem Fall die Furcht vor der Atomkraft politisch beglaubigt und ins Recht gesetzt worden, erst einmal durch die Phalanx der westlichen Atomstaaten in ihrer Eigenschaft als G7, die mit dem Argument „Tschernobyl“ die dieser Technologie eigentümlichen Risiken dem falschen System, sprich: der russischen Technologie zugeschrieben haben, um sich nach Auflösung des Ostblocks in das Energie- und Atomgeschäft dieser Gegend maßgeblich einzuschalten. Zum Zweiten ist die Angst vor einem zweiten Tschernobyl namens Temelin als österreichisches Nationalgefühl von der eigenen Regierung sollizitiert worden. Und das in zunehmendem Maße, seitdem die tschechische Republik nicht nur in der Frage Temelin hinhaltenden Widerstand leistet – in Prag hat man sich mittlerweile um den Preis einer Umrüstung auf westliche Sicherheitsstandards, garantiert durch westliche AKW-Konzerne, Rückendeckung durch die westlichen Aufsichtsbehörden verschafft. Außerdem aber hat sich die tschechische Regierung die Freiheit herausgenommen, sich als Nato-Mitglied und Musterknabe unter den Beitrittsländern während der Sanktionen der EU-14 gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ schon wie ein anerkannter Mitmacher aufzuführen und als einziger Beitrittsstaat den Sanktionen anzuschließen. Diese gespannten Beziehungen haben der nationalen Entrüstungskampagne über Temelin Aufschwung verschafft, das Kernkraftwerk selbst steuert im Zuge seiner Anlaufprobleme periodisch neue Anlässe bei, die Störfallvertuschungsordnung funktioniert einfach noch nicht so gut wie in der BRD. Die Kampagne wird von der Kronenzeitung vermasst, die in Österreich ungefähr dieselbe Rolle für die öffentliche Meinungsbildung spielt wie ‚Bild‘ in Deutschland, und so kommt es dazu, dass Hausfrauen von Linz bis Graz in eine flächendeckende Angst vor dem baldigen Atomtod versetzt werden, den die Tschechen demnächst über die Grenze schicken.

Wie die SPÖ, stellvertretend für die Nation, es so passend ausdrückt: „Tschechien hat kein moralisches Recht, Österreich zu gefährden“, dient der „Schrottreaktor“ in dieser inter-nationalen Affäre rein als sinnfällige Veranschaulichung für das höhere, österreichische Recht, sich beim widerspenstigen Nachbarn einzumischen und dem dessen Recht in dieser elementaren Hoheitsfrage abzusprechen.

Und nicht nur das: Wenn Tschechien sich in der Temelinfrage nicht beugen will und auch nicht beugen muss, dann ist der Status Österreichs nicht genügend anerkannt. Von Tschechien nicht, das in völliger Verkennung seiner Inferiorität vergessen hat, dass sein Interesse, in die EU aufgenommen zu werden, auf die Zustimmung aller EU-Mitglieder, folglich auch auf die österreichische, angewiesen ist. Aber auch von Europa nicht, das das nationale Interesse Österreichs an Bevormundung der Anschlusskandidaten im Zuge der Osterweiterung nicht genügend würdigt. Auf Grundlage des Rechtsstatus eines EU-Mitglieds, das gegenüber Nicht-Mitgliedern Rechte im Genehmigungsprozess in Anschlag bringen kann, möchte Österreich seine Forderung, Temelin stillzulegen, in die Beitrittsverhandlungen einbringen. Sie wird aber im Sommer 2000 von der EU zurückgewiesen und als eine nicht EU-konforme, österreichische Außenseiterposition blamiert.

Kanzler Schüssel lenkt daraufhin ein und dividiert die österreichischen Sonderansprüche auf das Maß herunter, das sich in Verhandlungen mit Tschechien um Konzessionen in Sachen Nachrüstung, Information etc. unter der Moderation von EU-Kommissar Verheugen durchsetzen lässt. Schließlich stellt die EU die reelle Grundlage österreichischer Ansprüche gegenüber der Außenwelt dar; auf Europas Einverständnis zu verzichten, geht einfach nicht – was man in Wien nicht zuletzt während der schmerzhaften Phase der Sanktionen zu spüren bekommen hat. Im kooperativen Umgang mit der Brüsseler Kommission will Schüssel umgekehrt einiges erreicht haben:

„Schüssel bezeichnete die Vereinbarung als ‚gutes Ergebnis‘. Er wisse die Mehrheit der Österreicher dabei hinter sich. Die 29-Punkte Vereinbarung gelte unabhängig davon, wer Temelin nach der Privatisierung betreibe. Sie werde als Teil der tschechischen Beitrittsakte auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterworfen sein.“ (Wiener Zeitung, 30.11.01)

Erreicht hat er nämlich immerhin so viel Anerkennung für das österreichische Anliegen, dass die EU ein eigenes Kapitel Sonderdiplomatie gegen Tschechien, also die Anerkennung des österreichischen Rechts auf Betroffenheit und Dialog im Rahmen der tschechischen Energiepolitik, genehmigt und die bilateralen Ergebnisse in den Rechtsbestand der EU-Osterweiterung aufnimmt. Ende November wird der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen gemeldet, gleichzeitig erklärt die EU-Kommission das Energiekapitel aus ihrem Osterweiterungskatalog für abgeschlossen, und damit ist der Streit auf europäischer Ebene wie zwischen Österreich und Tschechien erledigt.

Aber nicht für Haider und seine Freiheitlichen. Nachdem die Partei vom Regierungspartner mit dem Abschluss der Verhandlungen in Brüssel vor vollendete Tatsachen gestellt worden ist, mobilisiert sie den von der Politik aufgerührten Nationalismus, der sich in seinem Temelin-Protest über alle Maßen berechtigt weiß, nun gegen das von der Regierung abgeschlossene Abkommen und damit gegen die Regierung und agitiert mit voller Kraft für das Volksbegehren zur Stilllegung von Temelin. Damit stellt sich der kleinere Koalitionspartner gegen den größeren als der entschiedenere und kompromisslosere Vertreter österreichischer Interessen auf, zwingt die ÖVP dazu, sich dazu zu stellen, und handelt sich damit ein zweischneidiges Ergebnis ein.

Es ist ihm gelungen, die Nation in Aufruhr zu versetzen, die nationalistischen Ressentiments gegenüber dem slawischen Nachbarn hochzukochen, einen Monat lang mit der Veto-Debatte das Bewusstsein der Nation zu schärfen, was sich der von Europa gedemütigte und zurückgewiesene Nationalismus eigentlich nicht gefallen lassen dürfte und und bei welcher Partei der nationale Groll also am besten aufgehoben ist.

Andererseits findet der Regierungschef in der Art, den Nationalismus aufzurühren auch wieder das Mittel, ihn abzuregen. Jedenfalls widmet er sich ganz dezidiert der energiepolitischen „Sachfrage“ und führt den Nachweis, dass er mit seinem Kompromiss alles herausgeholt hat, was unter den derzeitigen Gegebenheiten zu haben ist. Nachdrücklich verweist die ÖVP darauf, dass sie die Partei ist, die Probleme nicht nur aufwirft, sondern das Anliegen der FPÖ-Energiepolitik praktisch vorantreibt – was einfach zu haben ist, nachdem die Haider-Partei in Europa nicht empfangen wird und somit aus der Außenpolitik ausgeschlossen ist. Schon zu Beginn der Kampagne wird das Volksbegehren in seiner vorgestellten praktischen Bedeutung entwertet, indem der nationale Einspruch gegen Temelin von neuem in Europa eingebracht und in Gestalt eines fortgesetzten nationalen Vorbehalts in Brüssel deponiert, damit aber auch dem EU-Entscheidungsprozess überantwortet wird.

„Ferrero-Waldner wird ermächtigt, im EU-Rat für Allgemeine Angelegenheiten zu deponieren, Österreich behalte es sich vor, das Energiekapitel mit Tschechien wieder aufzuschnüren.“ (Neue Kronenzeitung, 9.12.2001)

Der Nation wird vorstellig gemacht, dass Einfluss auf die tschechische Republik in Sachen Temelin ein für alle Mal nur auf dem Weg über die EU auszuüben geht und dass eine neuerliche Isolation Österreichs innerhalb Europas die Geschäftsgrundlage für sämtliche Interessen der Nation massiv beeinträchtigen würde. In einem Brief an 2500 ÖVP-Bürgermeister droht Schüssel damit, als Garant des Einvernehmens mit Europa eher die Koalition zu verlassen, als eine Vetodrohung als Regierungsposition zuzulassen.

„Das FPÖ-Volksbegehren gefährdet die Sicherheit, schadet der Anti-Atom-Politik, verringert unsere Chancen, schwächt unsere Position, missbraucht die Sorgen.“ (Wiener Zeitung, 11.1.02)

So wird der nationale Aufruhr wieder zur Ordnung gerufen bzw. in ein Mandat für die ÖVP-Europa-Politik überführt.

Die FPÖ-Drohung, die Koalition aufzukündigen – immerhin hat man ja die Volksmeinung zur Änderung der Regierungslinie abgerufen, während die ÖVP klarstellt, dass sie bei ihrer Linie bleiben wird –, liegt zwei Tage lang als Regierungskrise in der Luft. Aber die eigene Beteiligung an der Macht will die FPÖ dann doch nicht opfern. Also setzt sie ihre Linie fort, sich als unverzichtbare nationale Kraft sowohl in der Regierung, wie als schärfste Opposition gegen die Regierung zu betätigen.

Der Schlagabtausch mit Prag

Worum es den österreichischen Parteien geht: einmal exemplarisch mit Hilfe der EU die Statusfrage zwischen Österreich und Tschechien auszustreiten und den Nachbarn zu deklassieren, das hat der tschechische Ministerpräsident Zeman nur zu gut verstanden und kontert auf derselben Ebene. Tschechien legt gewissermaßen einen Beleg für die eigene EU-Reife ab: Man ist dazu bereit, sich bei einer gewichtigen Materie wie der nationalen Energiepolitik auswärtigen Einsprüchen zu beugen, aber auch nur solchen der höheren Instanz, d.h. soweit und insofern, als die EU das Interesse Österreichs zum europäischen erklärt. Weitergehende Unterwerfungsaktionen sind nicht im Angebot:

„Wir haben den Melker Prozess durch die Weisheit des Bundeskanzlers Schüssel und auch jene des tschechischen Premierministers mit einer Vereinbarung abgeschlossen. Es war ein vernünftiger Kompromiss, zu dessen Umsetzung ich mich verpflichtet habe. Ich erwarte, dass sich auch die Österreicher daran halten… Ich halte Bundeskanzler Schüssel für einen erwachsenen Politiker, der auch die Parole aus der Römerzeit ‚Pacta sunt servanda‘ kennt.“ (Zeman, alle folgenden Zitate aus dem Interview in Profil 4/02)

Schließlich hat die tschechische Republik ihrerseits die EU-Sanktionen gegen Österreich mit Interesse zur Kenntnis genommen und als einziger Beitrittskandidat gewagt, sich anzuschließen. Heute teilt man dem österreichischen Erpresser mit, dass man die Kräfteverhältnisse ganz gut einzuschätzen vermag: Österreich ist selber so sehr darauf verwiesen, ein einvernehmliches Verhältnis mit der EU wiederherzustellen, dass es sich ein Veto gegen die EU-Linie gar nicht leisten kann; und so groß ist der Abstand in der EU-Hierarchie, auf den die Wiener Parteien pochen, dann doch nicht, belehrt Tschechien das EU-Mitglied Österreich. Und wenn man sich in den so genannten Erweiterungsverhandlungen schon lauter Zurechtweisungen und Einmischungen gefallen lassen muss, so gilt es erst recht die Gelegenheiten auszukosten, bei denen man selbst einmal ein Stückchen EU-Macht hinter sich weiß, und der gegnerischen Nation deren Niederlage in Europa hinzureiben:

„Wenn Österreich wirklich daran interessiert sein sollte, seine Splendid Isolation in der EU zu verstärken, indem Sie den Beitritt Tschechiens verhindern wollen, dann sind Sie auf dem richtigen Weg… Wenn ihr … ein Veto gegen unseren EU-Beitritt einlegt, dann wird Tschechien vielleicht außerhalb der EU bleiben. Ihr werdet aber dann Temelin ohne international verankerte Sicherheitsgarantien haben und neuerlich eine Isolation in der Union erleben, weil ihr gegen die Erweiterung seid.“

In Prag hat man auch schon mitbekommen, welcher Verkehrsformen man sich unter echten Europäern zu bedienen hat: Im Geschäft der wechselseitigen Erpressung kommt man dort nur so weit voran, wie man sich mit Hilfe von Zweckbündnissen Rückendeckung durch gewichtigere Mächte in der Hierarchie der Staaten verschaffen kann.

Eine österreichische Herausforderung an die Adresse Deutschland und Europa, dort abschlägig beschieden

Bei der Initiative, Europa auf die Anerkennung zu verpflichten, dass Österreich gegenüber den Beitrittskandidaten spezielle Rechte besitzt und geltend machen kann, hat man in Wien durchaus auch auf Deutschland mit seinem sogenannten „Ausstieg“, auf die Unterstützung durch die Anti-Temelin-Koalition Stoiber/Trittin gesetzt; aber die Berechnung ist an anders gelagerten Berechnungen des großen Nachbarn gescheitert. Haider gibt wieder einmal der nationalen Enttäuschung Ausdruck und scheut nicht davor zurück, sich in Missachtung diplomatischer Regeln mit den deutschen Kollegen anzulegen:

„Unterdessen warf Haider deutschen Politikern Feigheit im Streit über Temelin vor. In Deutschland seien ‚Politiker zwar offiziell auch skeptisch gegenüber Atomkraftwerken, aber in Wirklichkeit sind sie zu feige, das auch mal in der EU durchzudiskutieren und durchzustehen‘, sagte Haider.“ (FAZ, 21.1.2002)

Gegen die „Feiglinge“ in seiner Regierung besteht er darauf, dass weiter auszutesten ist, ob man in der EU nicht mehr Parteien hinter sich bringen kann, ob den österreichischen Interessen dort nicht doch mehr Anerkennung zu verschaffen geht. Zwar ist er nicht handlungsbefugt und hoffähig in der EU, aber in Österreich Themen hochzukochen, die dann eventuell in Bayern Resonanz finden, das vermag er schon. Das mit der Feigheit lässt Trittin natürlich nicht auf sich sitzen, spricht Haider jedes sittliche Recht auf Atomprotest ab und denunziert dessen niedere Absichten –

„Das Motiv der FPÖ ist doch nicht die Angst vor den Gefahren der Atomkraft, sondern die Fremdenfeindlichkeit“ (SZ, 23.1.) –,

reaktiviert also die gegen Haider erlassene europäische Disqualifizierung, um Österreich das Recht auf ein Veto in Europa abzusprechen:

„… kontraproduktiv … Denn nur, wenn Tschechien EU-Mitglied wird, ist gewährleistet, dass die hohen umweltpolitischen Standards der EU auch dort gelten.“

Die gibt es in Sachen Atomkraft zwar gar nicht, aus gutem Grund, nämlich wegen der Interessen der Atommächte Deutschland, Frankreich und England, die sich auf dem Gebiet keine Vorschriften machen lassen wollen. Herausgekehrt wird auch hier wieder nur der Status-Unterschied zu Österreich: Deutschland hat vitale Interessen an der Erweiterung und hat es nicht nötig, Tschechien gegenüber mit der Veto-Drohung herumzufuchteln, um dort Entgegenkommen zu erreichen. Es gebietet über andere Erpressungsmittel, die auch dann wirksam sind, wenn die Beitrittskandidaten einmal aufgenommen worden sind.

Negativ beschieden worden ist der österreichische Vorstoß, die tschechische Republik als Bedingung für ihren Beitritt auf die Stilllegung von Temelin zu verpflichten, auch aus Brüssel. Zum einen verbitten sich die Atommächte in der EU nicht nur europäische Standards in Sachen Atomkraft, sondern auch jeden Versuch zur Verallgemeinerung der Ausstiegsheuchelei – was Österreich verlangt, steht deshalb im berühmten ‚acquis communautaire‘ einfach nicht drin. Zum anderen sehen auch die geschäftlichen Kalkulationen ihrer Stromkonzerne mit dem neuen Markt Tschechien und seiner Stromindustrie anders aus.

Darüber hinaus aber hat sich Österreich mit seinem Anspruch, die Erweiterungsverhandlungen für seine nationalen Interessen zu funktionalisieren und bei Nicht-Genehmigung die Veto-Drohung ins Spiel zu bringen, auf ein Feld vorgewagt, das das Exekutivorgan der Gemeinschaft für enorm bedenklich hält: Der Prozess der Osterweiterung ist ohnehin eine heikle Angelegenheit, weil bei der euro-imperialistischen Ausdehnung nach Osten lauter Interessensgegensätze zwischen den beteiligten Nationen auf den Tisch kommen. Da ist vieles auszuschachern, um den von den beteiligten Nationen ebenso gewollten Fortschritt hinzubekommen, und dabei möchte man sich nicht auch noch von Anträgen weniger bedeutender Nationen, versehen mit einer Veto-Drohung, belästigen lassen. Auch soll und darf der österreichische Vorstoß in Europa nicht Schule machen.

Nachdem aber die Entscheidungen über die Osterweiterung eben noch nicht von einem europäischen Souverän getroffen werden, Europa immer noch ein Staatenbund ist, in dem auch die „Kleinen“ ihre Stimme haben, gibt die Brüsseler Kommission dem österreichischen Standpunkt so viel Raum, sich in Sonderverhandlungen mit Tschechien um Konzessionen streiten zu dürfen, und nimmt die Schlusserklärung aus Melk als Zusatzprotokoll in den Beitrittsvertrag Tschechiens mit der EU auf. Aber damit soll die Geschichte dann auch erledigt sein. Der EU-Moderator versieht den Abschluss mit Spitzen gegen den EU-Partner, und auch das Protokoll verzichtet nicht auf einen leichten Ton der Herablassung:

„Dann, sagte Verheugen nicht ohne Ironie, werde die Reaktorsicherheit auch ‚der österreichischen Auffassung europäischer Standards‘ entsprechen. ‚Mit dem Ziel, die Stressgefühle vor allem in der österreichischen Öffentlichkeit zu mindern‘, heißt es in dem Dokument…“ (FAZ, 1.12.2001)

Österreich soll bloß nicht glauben, dass es mit seinem Einspruch nun EU-Standards definiert hätte.

Zum nachträglich von der FPÖ angezettelten Volksbegehren gibt die EU bekannt, dass sie „demonstrative Gelassenheit“ für angebracht hält. Eine Einmischung der Völker in die Frage der Osterweiterung ist so ziemlich das Letzte, was man sich in Brüssel bestellt hat. Dort kennt man nämlich sowohl die heimischen Nationalisten wie auch die der Erweiterungsländer: Denen ist der Nutzen der Erweiterung überhaupt nicht geläufig, stattdessen kennen sie eine Masse von Schäden – das imperialistische Projekt darf also einfach nicht von der Seite in Frage gestellt werden, indem die Volksmeinungen aufgerührt und auch nur zum Schein zur Entscheidung über die Sache aufgerufen werden.

In dem Sinne kommentiert Verheugen das Ergebnis:

„Der Ausgang bestätige, ‚dass es in Österreich eine starke Opposition gegen die Kernenergie gibt‘. Er zeige aber auch, ‚dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die nachbarschaftlichen Beziehungen zu Tschechien nicht gefährden will.‘“

Und die deutsche Presse würdigt die Technik, den unpassenden Volkswillen schlicht zu ignorieren und zu übergehen, mit ihrer üblichen demokratischen Geschmackssicherheit:

„Wenn Verheugen ein Veto-Votum zum Akt der Völkerfreundschaft umdeutelt, dann tut er das im Dienst der Sache. Das europäische Großprojekt tritt in diesem Jahr in seine heiße Phase. Was jetzt noch schief geht, könnte den ganzen Fahrplan gefährden.“ (SZ, 23.1.2002)

Womit einiges über das Großprojekt und dessen völkerfreundschaftliche und volksnahe Qualität gesagt ist.

Den von Bundeskanzler Schüssel neu angemeldeten Vorbehalt gegen die Schließung des Energiekapitels beurteilt Verheugen „skeptisch“. Für das „Wiederöffnen des Energiekapitels bedürfe es triftiger Gründe“, deren Eintreten Verheugen derzeit für „illusorisch“ hält. (Kronenzeitung, 18.12.01) Insofern ist das Kapitel Temelin für die EU beendet, für Österreich allerdings, das hat Haider erreicht, ganz und gar nicht.

2. Ein Standpunkt, für den ein tschechischer Atomreaktor und die Benes-Dekrete so ziemlich dasselbe sind

Noch während der Vorbereitung des Volksbegehrens dehnt die FPÖ die Vetodrohung auf ein anderes Kapitel österreichischer Ansprüche aus:

„Wir sagen ja zur EU-Erweiterung, aber Österreichs Interessen müssen berücksichtigt werden, egal ob bei AKW-Bedrohung oder bei Menschenrechtsverletzungen. In ein Europa, das beides zulässt, wollen wir nicht.“ (Haider im TV)

Haider als radikalem österreichischen Patrioten ist klar, dass der Beitrittsprozess eine einzigartige Chance bietet, zugleich aber auch die letzte Gelegenheit für die Saldierung offener Rechnungen zwischen Österreich und Tschechien, d.h. auch eine letzte Gelegenheit, um Rechtsansprüche in Sachen Vertreibung geltend zu machen. Dabei nimmt er auch ganz unbefangen Maß am deutschen Vorbild. Mit weniger Entgegenkommen als im Verhältnis zu Deutschland, dem gegenüber sich Tschechien bereits auf etliche Zugeständnisse hat einlassen müssen, lässt sich Österreich keinesfalls abspeisen.

Auch hier hält es der tschechische Premier für unumgänglich, Grenzen zu ziehen und klarzustellen, dass sich seine Republik nicht von jeder Seite Demütigungen und Forderungen gefallen lassen muss: Es erfolgen die EU-üblichen Anschuldigungen von Haider als „Postfaschisten“, von dem man sich, nach Einigung mit dem mächtigen Deutschland, in der Causa Benes-Dekrete nicht weiter erpressen lassen muss.

„Es besteht keine Notwendigkeit für irgendwelche neue Erklärungen. Alles, was getan werden musste, wurde mit der gemeinsamen Erklärung von Gerhard Schröder und mir getan.“

Die Zurückweisung, dass es mit Österreich in dieser Frage gar nichts zu verhandeln gibt, will ganz Österreich nicht stehen lassen, und damit bringt wiederum Haider Österreich hinter sich. Man ist im Namen aller toten und lebendigen Sudetendeutschen empört und bestätigt sich parteiübergreifend den nationalen Sinn des Anti-Temelin-Konsens: Jörg Haider als „Postfaschisten“ beschimpfen, das darf nur die einheimische kritische Intelligentsia und das mächtige EU-Ausland; von einem Land, das bei sich selber immer noch mit allerhand „postkommunistischen“ Missständen aufzuräumen hat, muss sich das österreichische Volk das aber nicht bieten lassen.

Dank Zemans Beleidigung der nicht nur als österreichischer Rechtstitel herumlaufenden Sudetendeutschen als Hitlers „fünfte Kolonne“ und „Hochverräter“ gelingt es nun auch, Deutschland in den Streit mit hineinzuziehen – Schröder droht mit Absage des Staatsbesuchs in Prag, Stoiber bezichtigt Zeman der verwerflichen These von der Kollektivschuld. Zeman lässt sich eine originelle Antwort einfallen. Nach einem kurzen Verweis auf 90% sudetendeutscher Stimmen für Hitlers Vorkämpfer Henlein, also auf eine gewisse Personalidentität von sudetendeutschem Volkstum und Nationalsozialisten, dementiert er die Kollektivschuld-These:

„… denn in Wirklichkeit verläuft die Trennlinie zwischen den Feiglingen und jenen, die gegen totalitäre Regime kämpfen, und das hat mit der Nationalität nichts zu tun“. (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.2.)

Nachdem die deutsch-österreichischen Anwälte sudetendeutscher Volkstumsrechte gegen Tschechien mit der Trennung operieren, die nationalsozialistische Etappe samt Annexion der Tschechoslowakei als längst anerkannte, gebüßte und damit erledigte Schuld in ein Kapitel zu befördern, die nach 45 vertriebenen Sudetendeutschen aber in ein zweites noch ganz und gar nicht erledigtes Kapitel, worüber diese gewissermaßen mit einer Kollektiv-Unschuld ausgestattet werden, sägt der tschechische Premier ein wenig an dieser Trennung. Sollen die Vertreter sudetendeutscher Rechte doch einmal ihre Klientel nach Pro- und Antifaschisten durchsortieren und ihm die Resultate vorzeigen! Gegen den Rechtstitel Volkstum fährt Zeman den Rechtstitel Antifaschismus auf; da weiß er wiederum sein Volkstum hinter sich bzw. die Siegermächte mit ihrem Potsdamer Abkommen, dessen Bestätigung man sich neulich noch einmal abgeholt hat.

So einen sich die Völker mit ihren Führungen im Namen ihrer nationalen Werte, der Haider-Partei gelingt es auch, wieder eine deutsch-österreichische Entrüstungsfront zu schmieden, schafft es aber wiederum nicht, Deutschland hinter die Veto-Drohung zu bringen.

3. Haider bei Saddam: Von wegen „durchgeknallt“ – Gezielte Provokation für ein nationales Aufrütteln

Haider reist in den Irak. Eine neuerliche Provokation – und zwar auf denkbar hohem Niveau, dieses Mal nämlich gegenüber der Weltmacht Amerika. Während die USA keinen Zweifel daran lassen, dass sie am Irak den nächsten Tagesordnungspunkt auf ihrem Anti-Terror-Kriegsprogramm abarbeiten werden, Kriegspläne in Umlauf setzen und den Rest der Welt nur über den Zeitpunkt im Unklaren lassen, an dem sie losschlagen, erklärt Haider in Bagdad die „Solidarität des österreichischen Volkes mit dem irakischen Volk“. (Die Presse, 14.2.) Während der überwiegende Rest der europäischen Welt, der mehr oder weniger die Definition des Irak als Schurkenstaat unterschreibt, aber einer Kriegsaktion wegen anders gelagerter Interessen am Irak nichts abgewinnen kann, seine Missstimmung angesichts der amerikanischen Eigenmächtigkeit zu Protokoll gibt, sich über mangelhafte Konsultationen beschwert, allenfalls erklärt, auf keinen Fall bei der amerikanischen Aktion mitzumachen – beehrt der de-facto-Chef der österreichischen Regierungspartei den Diktator mit seinem Besuch.

„Landeshauptmann Jörg Haider berichtete bei einer Pressekonferenz im Anschluss an seine Irak-Reise von einem politischen Dialog mit der irakischen Führung, dessen Inhalt der gemeinsame Kampf gegen den Terrorismus war. Der Irak habe kein Interesse, Drehscheibe des Terrors zu sein, ergänzte Haider, dem versichert worden sei, dass keiner der nach dem Anschlag vom 11. September 2001 festgenommenen Terroristen aus dem Irak stamme. Die islamischen Staaten sollten nicht pauschal als böse hingestellt werden, auch dürfe der Kampf gegen den Terrorismus nicht in einen Kampf der Religionen münden, lautete der Tenor seiner Gespräche in Bagdad… Der Kärntner Landeshauptmann sieht sich im Übrigen mit dem deutschen Außenminister Joschka Fischer auf einer Linie, der ebenfalls Amerika davor warnt, einen Krieg gegen den Irak anzuzetteln. Die Solidarität mit den Amerikanern im Kampf gegen den Terror sei selbstverständlich, doch dürfe daraus keine Blankoermächtigung werden, um alte Rechnungen zu begleichen. Aus dem Kampf gegen den Terror dürften weder neue Feindbilder aufgebaut noch Freischeine für Rüstungspolitik gemacht werden.“ (FPÖ-Homepage 13.2. http://www.fpoe.or.at/)

Nebenher ergreift Haider auch noch Partei für den irakischen Standpunkt:

„‚Die irakische Regierung ist bereit, UNO-Waffeninspektoren wieder ins Land zu lassen‘, erklärte der Landeshauptmann. Doch diese dürften keine Spionagetätigkeit entwickeln, wie es der Fall gewesen sei.“ (Die Presse, 13.2.)

Eine Welle der Entrüstung brandet auf. „Die Presse“ recherchiert prompt hinterher und listet auf, dass „seit dem Golfkrieg nur zwei prominente Politiker Solidarität durch einen Besuch bekundigten: Le Pen und Schirinowski“; mit dem Etikett „rechtsextrem“ ist auch schon die ganze Kritik erledigt. Wesentlich mehr Mühe verwendet die entsetzte Öffentlichkeit in und außerhalb von Österreich darauf, sich niedere, verachtenswerte private Motive für Haiders Aktion auszudenken. Kein Verdacht aus dem Vorrat psychologischer Gemeinheiten ist da zu schäbig.

„Die Sucht nach Aufmerksamkeit, die kindische Lust am Radau treibt einen politisch und physisch rapide alternden Egomanen zu solchen Ausritten.“ (Michael Frank in der SZ vom 14.2.) „Sein labiles Ego braucht das Gejohle zu Stänkereien aus der alleruntersten Schublade. Sein Ego begeilt sich am Entsetzen, das er in der ganzen Welt hervorruft.“ (Die Presse, 15.2.)

Der Kontrast zwischen Beschimpfungen der Art und der Position Haiders, die nichts als höchst offizielle, bei anderen Euro-Politikern völlig seriöse EU-Bedenken zitiert, fällt einigermaßen heftig aus. Die gesammelten Unflätigkeiten gelten aber dem eigentlichen Übel: der Provokation, die Haider mit seinem Besuch beim Schurkenstaat praktiziert hat. Deren Sinn besteht darin, einmal von Österreich aus das zuzuspitzen, was einem Nationalisten am Supra-Nationalismus der EU gefällt: der Anti-Amerikanismus. Mit seiner Reise will er vorführen, dass man sich auch als kleiner Partner nicht alles gefallen lassen, sich nicht immerzu vor der Großmacht Amerika ducken muss. Und das setzt er bewusst gegen die unterwürfigen Kalkulationen der europäischen Kollegen in Szene, als Angriff auf deren Muldenschleicherei. Dass in Europa zwar zusehends öfter eine Tonlage angeschlagen wird, bei der das Leiden an der Supermacht, die europäischen Ressentiments gegenüber dem übermächtigen Konkurrenten zum Vorschein kommen, was dann aber wieder immer durch Bekenntnisse zum transatlantischen Bündnis, also durch den berechnenden Umgang mit dem unübersehbaren Kräfteverhältnis relativiert wird und sich auf Beschwerden über einen mangelnden amerikanischen Willen zur Kooperation zurücknimmt, will der Kärntner Landeshauptmann als Leisetreterei und Feigheit entlarven. Zu diesem Zweck bedient er sich der geläufigen Moralismen und reklamiert sie als Rechtstitel für seinen Nationalismus: Sein Beitrag zur Demaskierung der Scheinheiligkeit der letzten Tage (Doppelmoral in Schwarz-Rot-Grün, die Presse, 16.2.) fasst bewährte Versatzstücke aus dem europa-politischen Ethik-Arsenal zusammen, tote Kinder und Menschenrechte:

„Sind irakische Kinder nicht schützenswert, weil die USA ihr Land bekämpfen? Jeden Monat sterben 5000 Kinder an Leukämie, ausgelöst durch von Bomben freigesetztes Uranium. Kann die ‚zivilisierte‘ Welt zusehen, wie unter dem Vorwand von Sanktionen elementarste medizinische Hilfe verweigert wird?“ (ebd.)

Das Kalkül der USA im Irak soll überdies nur niederen Geschäftsinteressen gehorchen und keineswegs bloß höheren Werten:

„Dieses System Food for Oil ist voll auf die US-Interessen zugeschnitten. Denn mit ihrer Dominanz in der UNO kontrollieren sie nicht nur den Import in den Irak, sondern nehmen selbst rund 80% des billigen irakischen Rohöls ab, dessen Preis sie mitbestimmen.“

Haider hingegen macht sich auch noch um die gar nicht niederen Geschäftsinteressen seiner Nation verdient, die zwar seine politischen Konkurrenten ebenso pflegen, aber öffentlich verleugnen:

„‚Vergessen‘ wird dabei, dass wir diplomatische Beziehungen mit dem Irak unterhalten, ein eigener Außenhandelsdelegierter in Bagdad sitzt und die Regierung einen Außenhandelsvertrag mit dem Irak geschlossen hat. Wenn ich mich um Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen kümmere, gilt das alles nicht mehr? Die ganze Scheinheiligkeit zeigt sich, wenn dieselben in der ÖVP jammern, die andererseits mit der Wirtschaftskammer Millionenprojekte im Irak betreiben.“

Dasselbe noch einmal in Richtung Europa:

„Abbau von Barrieren entspricht dem Geist des Treffens der EU mit der islamischen Konferenz in Istanbul. Teilgenommen haben mehr als 70 Staaten. Dabei war auch der Außenminister des Irak. Dieses Treffen ist ein wichtiger Schritt der EU, aus dem Windschatten einer US-Außenpolitik herauszutreten, die – wie der deutsche Außenminister Fischer es formuliert hat – von einem ‚militärisch verengten Sicherheitsbegriff‘ geprägt ist. Diese Emanzipation ist auch für Europa eine Frage der moralischen Glaubwürdigkeit.“ (ebd.)

Das Etikett „scheinheilig“ paßt ebenso gut auf die Haidersche Berufungstechnik. Schließlich ist einigermaßen klar, in welcher Absicht er sich Sorgen um die „moralische Glaubwürdigkeit“ Europas macht und zu welcher Mission er die europäischen Autoritäten und Parolen bemüht: zum Bruch des diplomatischen Embargos gegenüber dem Irak, um vor Europa ein Exempel zu statuieren, was sich die Europäer eigentlich schuldig wären.

Damit handelt er sich dann allerdings nicht nur den Psycho-Schwachsinn der Zeitungskommentare ein. Er läuft damit total auf, seine Berufungstitel helfen ihm da gar nichts. Anti-Amerikanismus zu praktizieren – ist verboten. Und von ihm, dem ausgemachten ‚enfant terrible‘ Europas lässt die EU sich schon gar nicht in einen offenen Dissens mit der Führungsmacht des Anti-Terror-Feldzugs hineinreiten, wie er in der diplomatischen Distanzierung von „Bushs Kriegsrhetorik“ tatsächlich angelegt ist: Was daraus gemacht wird, das behalten die EU-Häuptlinge sich vor. Also wird Haiders Vorstoß mit Nicht-Befassung beantwortet, sein Versuch, die EU auf eine Politik im Sinne ihrer USA-kritischen Beschwerden festzulegen, abgeschmettert, das Verdikt über Haider, seine Exkommunikation als der „böse Mann“ der europäischen Politszene erneuert und verschärft.

Deswegen, wegen der geschlossenen europäischen Verurteilung seiner Reise als Verstoß gegen den europa-politischen Komment, reduziert sich die Wirkung seiner Aktion auf eine Krise der österreichischen Regierung. Die offizielle Außenministerin Ferrero-Waldner gerät in Bedrängnis, hat entweder nichts gewusst oder nichts gesagt, der Vize-Kanzlerin Riess-Passer wird der außenpolitische Auftritt in Amerika verdorben, und sie muss sich im Weißen Haus hochnotpeinlich befragen lassen.

„Im Weißen Haus musste Vizekanzlerin Riess-Passer versichern, dass Österreichs Regierung Saddam Hussein in keiner Weise unterstütze… Das US-Außenministerium blieb bei der Klassifizierung von Haiders Zusammentreffen mit Hussein, dass dies ein ‚unangemessener Besuch‘ und kontraproduktiv gewesen sei. Es ermutige den Irak, ‚seine anhaltende Missachtung der UN-Sicherheitsresolutionen fortzusetzen‘. Richard Boucher, der Sprecher des Außenamtes, erklärte zudem, man erwarte die Einhaltung der UN-Sanktionen. Die jeweiligen Staaten seien verantwortlich dafür, dass es keinen Bruch gebe. Österreich müsse die Fakten über den Haider-Besuch ermitteln und dem UN-Sanktionskomitee melden.“ (Die Presse, 16.2.)

Für SPÖ-Geschäftsführerin Bures hat Haider Österreich „in die Nähe eines unberechenbaren Schurkenstaates gestellt“ (Die Presse, 14.2.), die Regierung beeilt sich, ihre Linientreue zu versichern, und bedenkt Haider mit einem Ermittlungsverfahren:

„Wirtschaftsminister Bartenstein hat die Finanzstrafbehörden informiert… Haider habe gegen die europäische Irak-Embargo-Verordnung verstoßen, die in Österreich unmittelbar anwendbares Recht darstellt und mit den Strafbestimmungen des Außenhandelsgesetzes bedroht ist: Bis zu zwei Jahren Haft und 75000 Euro Strafe.“ (Die Presse, 15.2.)

Mit seinem Händedruck mit Saddam hat Haider überzogen; zu eindeutig steht Österreichs Staatsraison gegen seinen Test auf den alpinen Anti-Amerikanismus; so stürzt er nicht einmal die Regierung in eine größere Krise, sondern bloß noch seine Freiheitlichen. Denn nicht nur die ÖVP-Mitglieder in der Regierung, sondern auch FPÖler werfen ihm vor, mit seiner Eigenmächtigkeit die Regierungsarbeit zu torpedieren, distanzieren sich von ihm und begehren im Namen ihrer Regierungsfähigkeit gegen seine Führung auf. Der Rest ist parteiinterner demokratischer Machtkampf: Haider verkündet seinen Rücktritt, nur um tags darauf seine „Bedingungen für einen Verbleib in den bundespolitischen Funktionen“ vorzulegen:

„Es müsse in der FPÖ ‚maximale Geschlossenheit herrschen‘, das sei immer eine ihrer Stärken gewesen. Außerdem müsse geklärt werden, wer sich von ihm in der FPÖ gestört fühlt und wer nicht.“ (Der Standard, 16.2.)

Das Prinzip seiner Reaktion ist schlicht und entspricht vollständig den Gesetzmäßigkeiten der modernen Demokratie und ihrer Meinungsbildung: Wer führt, beweist dadurch seine Qualifikation zum Führen. Das Verfahren exerziert Haider an seiner Partei durch, setzt mit der Unersetzlichkeit seiner Führungspersönlichkeit ein neues Thema an und stellt den FPÖ-Flügel in der Regierung vor die Entscheidung, ob er sich in die Schüssel-Linie einbinden lässt und Kritik an Haiders Art von Opposition wagt oder sich hinter ihn stellt. Er jedenfalls ist bereit, die Partei dafür zu spalten.

„Ich bin der Meinung, dass man klare Fronten schaffen soll.“ (Die Presse, 16.2.)

Den Willen zum Gestalten, der Politiker nun einmal berufsmäßig auszeichnet, lässt Haider sich auch durch eine europäische Ächtung nicht abkaufen. Zumal er sich sicher ist, dass er beim Wählervolk über ein Potential für seine nationalen Kampagnen verfügt. In Österreich und auch in Europa mangelt es schließlich nicht an unzufriedenen Nationalisten, denen die Politik nur eine klare Perspektive aufzeigen muss, damit sie wissen, wo der Grund für ihre Unzufriedenheit wohnt und wer der Feind ist. Auf dem Gebiet hat Haider unbestritten eine Monopolstellung besetzt: Nachdem der linke Antiamerikanismus ausgestorben ist, konkurrieren nur noch der verleugnete der offiziellen Europa-Politiker und der offenherzige der Rechten. Und dass sich z.B. die italienischen Postfaschisten zur europäischen Ächtung seiner Person und Partei bekannt haben, muss ja nicht so bleiben.

P.S. Prager Retourkutschen

Der tschechische Ministerpräsident hat offenkundig das Bedürfnis, nach dieser europäischen Affäre noch einmal nachzutreten, und sucht sich im Katalog der moralischen Rechtfertigungen einiges dafür zusammen. Haider war bei den Bösen, er aber ist zu Besuch bei den Guten, nämlich in Israel. Dort weiht er israelische Journalisten in die Künste der europäischen Vergangenheitsbewältigung ein und zeigt den erstaunten Juden Parallelen zwischen Sudetendeutschen und Palästinensern auf oder zumindest zwischen Fehlern, die man beim Verhandeln mit Hitler nicht machen sollte. Hitler, das wohl größte, allgemein und insbesondere in Israel und Tschechien anerkannte Böse, gehört einmal unter die heutige Terrorismusdefinition gebracht:

„Damals war Hitler der größte Terrorist. Da gab es keinen Grund, mit ihm Verhandlungen zu führen, so wie heute keine Verhandlungen mit Terroristen geführt werden sollten.“ (FAZ, 20.2.)

Damit hätte man dann auch die tschechische Antwort auf Hitler nach 45 als legitimen und zweifelsfrei gerechtfertigten Akt der Terrorismusbekämpfung definiert:

„Die Abschiebung der Deutschen war eine direkte Folge des Zweiten Weltkriegs. Vor dem Krieg hätten weder die damaligen tschechischen noch die Führer der Welt überhaupt mit Deutschland verhandeln sollen und nicht mit Hitler, in der Bemühung, den Frieden zu bewahren. Wir hätten das englische Sprichwort benutzen sollen, take it or leave it – mit anderen Worten, nehmt unsere Angebote an oder wir siedeln euch aus.“ (Prager Zeitung, 21.2.)

Und der Vorstoß, die ewig angegriffenen Benes-Dekrete in den Rang einer international beglaubigten Anti-Terror-Aktion zu befördern, muss ja wohl gerade bei Israel mit seinem Terrorismusproblem auf Verständnis und Zustimmung treffen. Das Problem ist nur, dass bei Zemans polit-moralischem Dreisatz Arafat als Hitler und für die Palästinenser das Rezept Vertreibung herauskommt.

„Auf die Frage, ob er Arafat mit Hitler vergleiche, hatte Zeman laut Haaretz gesagt: ‚Natürlich. Es ist nicht meine Aufgabe, Arafat zu beurteilen, aber jeder, der den Terrorismus unterstützt, der Terrorismus als legitimes Mittel betrachtet, jeder, der Terrorismus benützt, der den Tod unschuldiger Menschen verursacht, ist in meinen Augen ein Terrorist. Das Gleiche gilt für jeden, der Terrorismus finanziert.‘“ (FAZ, 20.2.)

Auf das Rechenergebnis ist es Zeman zwar überhaupt nicht angekommen, aber damit hat nun er gegen europäische Interessen verstoßen, was ihm eine Rüge aus Brüssel einträgt, „die tschechische Republik habe das Kapitel Außen- und Sicherheitspolitik bereits abgeschlossen und sich verpflichtet, die Nahost-Politik der EU zu unterstützen.“ (FAZ, 20.2.) Die Mehrheit der tschechischen Politiker distanziert sich schleunigst von Zemans Lehren aus der Geschichte, und nach einem „sehr offenen Gespräch“ zwischen Zeman und Außenminister Fischer bleiben nur mehr „Missverständnisse“ übrig. Umgekehrt arbeiten politische Kreise in Deutschland noch daran, ihre Subsumtion der Benes-Dekrete unter den neueren an den Balkan-Kriegen entwickelten völker-/menschenrechtlichen Tatbestand der „ethnischen Säuberung“ in Europa reüssieren zu lassen. Vergleichen will eben gelernt sein.