Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der „Selbstmord-Trip nach Teneriffa“:
Götter, Gurus und Gelehrte

  • Aber- und Glaube: Unverwechselbar!
  • Pseudo- und Religion: ein aufgeklärtes Unterscheidungsbedürfnis
  • Von der Sinnleere zum Seelentrip
  • Wie man gute Therapeuten und böse Gurus auseinander kennt
  • Was tun? Kanther fragen.
Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Gliederung

Der „Selbstmord-Trip nach Teneriffa“:
Götter, Gurus und Gelehrte

Am 7. Januar 98 werden auf Teneriffa die 32 Mitglieder einer deutschen Sekte verhaftet. Den von besorgten Familienangehörigen alarmierten spanischen Behörden zufolge soll die Gruppe zur Feier des für den nächsten Tag anberaumten Weltuntergangs einen Massenselbstmord geplant haben – nebst anschließendem UFO-Transport zum Sirius, ohne den offenbar heutzutage kein Armageddon mehr, das auf sich hält, noch etwas taugt. Die Chefin der Sekte, eine Hamburger Diplompsychologin, wird wegen Anstiftung zum Selbstmord und – da sich auch fünf Kinder unter ihren Jüngern befinden – versuchten Mordes in Haft genommen.

Der gerade noch unterbundene kollektive Freitod gibt der deutschen Öffentlichkeit wieder einmal Anlaß, über das Phänomen Sektenwahn zu räsonieren. Peinlich berührt stellen die Sektenbeauftragten von Spiegel über Süddeutsche Zeitung bis Bild fest, daß die Psycho-Spinne (Abendzeitung München) Heide Fittkau-Garthe bis vor drei Jahren noch teure Managerschulungen für renommierte Unternehmen durchführte und, was noch schlimmer ist, dabei niemandem unangenehm und schon gar nicht verdächtig aufgefallen ist. Selbst der gramgebeugte Vater eines „Sektenopfers“ weiß der SZ zu berichten, daß er noch vor kurzem keinen Verdacht schöpfen konnte, vielmehr sich in seiner Ansicht bestätigt fühlte, daß hier jemand Psychologie und Philosophie betreibt, die marktfähig ist. (SZ, 13.1.98) Kein Wunder!

Aber- und Glaube: Unverwechselbar!

Wenn immer mal wieder eine bisher unbeachtete Sekte von sich reden macht, die dem sündigen Leib durch Selbstmord, dem irdischen Jammertal vermittels eines UFOs zu entfliehen sucht; wenn solche Leute eine höhere Sphäre, einen Zustand vollkommener Harmonie (im Volksmund auch Paradies genannt) erreichen wollen und die Sache selbst in die Hand nehmen, statt erst lange darauf zu warten, vom „Herrn der Herren“ gerufen zu werden, dann weiß der bürgerliche Verstand zwar einerseits sofort, daß es sich dabei um gefährliche Wahnideen handeln muß. Andererseits hat er dafür aber immer auch Verständnis:

„Bei diesen Sekten herrscht eine extreme Körperverleugnung vor, ihnen geht es nur noch um ihre unsterbliche Seele. … Und wenn man das berücksichtigt, dann macht ihr Handeln sogar einen gewissen Sinn.“ (Psychologe Michael Utsch in SZ, 13.1.98)

Das attraktive Ziel der Unsterblichkeit (ebenda) ist bekanntermaßen keine originelle Erfindung der „Pseudoreligionen“, ebensowenig wie Selbstverleugnung und Überwindung des Fleisches als Weg zur Erlösung. Was diesen „falschen Brüdern“ ihr „Pseudo-“ vor der ansonsten schwer geschätzten Religion einträgt, liegt in kleinen, aber feinen Unterscheidungen: extrem, nur noch – womit der Kritiker eingesteht, daß der Unterschied zu den kongenialen Lehren des offiziellen Kirchenwesens keine Frage des spirituellen Gehalts, sondern allein seiner Funktion ist. Der Verurteilung des Sekten- und sonstigen „Aber“-Glaubens liegt der implizite Vergleich mit „echtem“ Glauben zugrunde – ein Vergleich, dessen eine Seite tunlichst außer Betrachtung bleibt; man liefe sonst Gefahr, sie gleich mit verdammen zu müssen:

  • den Glauben an ein die natürliche Ordnung erschaffendes und erhaltendes Subjekt, die Vorstellung eines höchsten Richters über Himmel und Erde und die Deutung all der mittelprächtigen Erfahrungen des irdischen Daseins als dessen Werk und Wille;
  • die damit vollzogene Verdammung der eigenen Person, im Unterschied zum Allmächtigen eben nur ein Mensch zu sein; das Bekenntnis zur eigenen Ohnmacht und Unzulänglichkeit und dazu, seine Daseinsberechtigung nur als Geschöpf und Werkzeug Gottes zu besitzen;
  • die daraus resultierende Selbstgerechtigkeit, als sündiger Mensch zwar wenig, als gläubiger Sünder aber alles richtig zu machen, solange man sich nicht die Frechheit herausnimmt, höchstpersönlich und menschlicher Anliegen wegen etwas am Weltenlauf ändern zu wollen; folglich
  • die Tugenden von Demut, Fügsamkeit und Opferbereitschaft, die – wie’s der Teufel will – zu den weltlichen Diensten, für die ein rechter Christenmensch so vorgesehen ist, so gut passen und in den Augen seiner Herren ein Wohlgefallen sind.

Alle diese Geistesübungen beherrschen die diversen „Sekten“ nämlich auch – und machen damit in einer Art und Weise Ernst, die seit den Tagen der heiligen Inquisition hierzulande nicht mehr vorgesehen ist. Das Glaubensgebäude nebst seinen Imperativen und Techniken eines hochanständigen Lebenswandels soll nicht nur begleitende Deutung sein, sondern gültiges Prinzip. Anhänger von „Heaven’s Gate“ sind so konsequent in ihrer Abscheu vor sinnlichen Begierden, daß sie sich glatt kastrieren lassen; Zeugen Jehovas beharren dermaßen auf dem Bibelwort Du sollst nicht töten, daß sie sich lieber ins KZ als in die Wehrmacht schicken ließen; „Sonnentempler“ fassen das stinknormale Leben so konsequent als bloße Durchgangsstufe auf, daß sie sich massenweise in eine bessere Welt befördern. Sektenanhänger weigern sich, ihr Bekenntnis zu relativieren; die Kunst der normalen Gläubigen, bei aller frommen Weltsicht nicht aus dem Auge zu verlieren, was sie außerhalb des Gottesdienstes zu tun haben, kritisieren sie als Opportunismus; sie selbst ordnen ihr Leben den Forderungen des Jenseits unter: Das macht aus ihrem Glauben Wahn und trägt den Sektenjüngern den Verdacht ein, falsche Loyalitäten zu pflegen, weder dem Herrn Zebaoth noch dem Herrn Kohl ihren rechten Platz in der Welt zuzuweisen, also Fanatiker zu sein. Mit dieser Sorte Sektenverdammung machen die Befürworter des „wahren“ Glaubens dankenswert deutlich, in welcher Funktion sie sich in der modernen Welt eingenistet haben: als Hüter der öffentlichen Moral, die alle Herrschaftsdienste nicht nur nicht behindert, sondern wundersam ergänzt, die also entsprechend berechnend gehandhabt wird. „Dein Reich ist nicht von dieser Welt“ im Herzen, in dieser Welt nach deren Regeln „dem Kaiser geben, was des Kaisers ist“ und dabei die sündige Menschennatur beklagen – so hält’s der gute Gläubige.

Pseudo- und Religion: ein aufgeklärtes Unterscheidungsbedürfnis

Weil die Kritik an denen, die für das falsche Glaubens-„Surrogat“ Partei ergriffen haben, kein Aufruf dazu sein soll, die Welt mit nüchternen Augen zu betrachten und religiösen Irrationalismus auch mal wieder zu lassen, sondern einzig dem Verdacht mangelnder Angepaßtheit entstammt, stellt sich in aller Unerbittlichkeit die Frage, wo dann genau die Grenze zwischen tiefempfundener Religiosität und pseudoreligiösem Wahn liegt. Dabei bekennen die gesammelten Sektenbeauftragten der deutschen Blätterwelt betrübt eine zunehmende Unschärferelation und analytische Schwierigkeiten mit dem Begriff Sekte:

„Der klassische Sektenbegriff ist mit dem Auftreten neuer Esoterik- und Psychogruppen unscharf bis zur Zerfaserung geworden.“ (Die Welt, 12.1.98)

Die Unterscheidung zwischen genehmen Aktivitäten und nicht mehr genehmigten Entgleisungen auf dem Gebiet moralischer Selbstfindung und Betreuung anderer ist zwar einerseits ganz leicht: Man braucht nur auf die bewährten, befugten und staatlich beauftragten Instanzen der Moral zu horchen. Aber leider gibt es in inzwischen nicht mehr nur die „klassischen Sekten“, die nicht anerkannte Abspaltungen von Mutterreligionen waren und sich schon allein deswegen unschwer als entarteter Fanatismus dingfest machen ließen. „Anything goes“ in Sachen Irrationalismus, und es gibt auch jede Menge Leute, die sich mit dem Glauben an Astrologie und Wiedergeburt Seelentrost verschaffen oder in den modernen psychologischen Methoden des Zurechtkommens und Reüssierens ihr Heil suchen. Auch dieser Art, sich seinen höchstpersönlichen schwachen Sinn in die Misere hineinzudeuten – und sei es auch mit allerlei Absonderlichkeiten vom Schrottplatz der Ideengeschichte (Der Spiegel, 3/98) –, mag der bürgerliche Verstand nicht umstandslos jede Berechtigung absprechen, auch wenn ihm bewußt ist, daß der Sprung in die Klapsmühle bei derlei Beschäftigung nicht allzu ferne liegt. Unterscheidungsbedarf wie Unterscheidungsschwierigkeiten rühren ja gerade daher, daß sich für jemanden, der das Glaubensbedürfnis nicht ablehnt, sondern befürwortet, auch bei den frei flottierenden Sinnsuchern eine gute und nützliche Seite erschließt. Spätestens aber, wenn eine von diesen Gemeinden wieder einmal ihre endgültige Dysfunktionalität durch Gruppensuizid unter Beweis stellt, wird die Notwendigkeit einer Grenzziehung unabweisbar. Obwohl ihnen nie etwas anderes gelingt, sind die „Sektenanalytiker“ dann keineswegs damit zufrieden, die esoterisch und/oder psychologisch gebildeten Früchtchen „an ihren Früchten zu erkennen“. Nicht erst ex post, sondern am liebsten schon bevor sich Leute zum Sirius beamen, an deren Glaubensgebäude selbst, wollen sie die Abweichung festhalten können. Der funktionelle Unterschied soll doch wieder an der Sache selbst auszumachen sein – und das fällt zugegebenermaßen reichlich schwer.

Alle Versuche, rechten und falschen Glauben ganz unparteiisch ausgerechnet da auseinanderzuhalten, wo sich gerade kein Unterschied ausmachen läßt, scheitern jedenfalls alsbald. So z.B., wenn das große deutsche Nachrichtenmagazin sich aufgeklärt gibt und von seinen Recherchen kopfschüttelnd folgendes berichtet:

„200 Jahre Aufklärung konnten es nicht verhindern: Jeder dritte Deutsche hält mittlerweile wieder die Zukunft für vorhersagbar, jeder siebte vertraut auf Magie und Hexerei, 50 Prozent der Deutschen bekennen sich dazu, an außerirdische Wesen zu glauben. Rund 20 Prozent sind überzeugt, mit dem Jenseits lasse sich Kontakt aufnehmen. Ganz wild sind die Deutschen auf Astrologie. Jeder zweite glaubt an die Macht der Sterne.“ (Der Spiegel, 3/98)

Vielleicht liegt’s ja daran, daß die Aufklärung nur die Funktionalisierung des Wahns zum Ergebnis hatte und nicht seine Abschaffung. Deswegen gilt es ja auch als irgendwie verbürgt und nicht weiter besorgniserregend, daß geweihte Christophorus-Münzen gegen Verkehrsunfälle helfen, zum richtigen Zeitpunkt dem richtigen Heiligen entzündete Kerzen den verlorenen Schlüssel wiederbringen und wundertätige Madonnen – glaubt man nur fest genug an ihre magische Kraft – die Siechen und Lahmen wieder geradebiegen. Und ist nun das kaum ein halbes Jahrhundert alte katholische Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel – völlig ohne space shuttle – eher mehr oder weniger wahnhaft als die Hoffnung auf ein feines, glänzendes UFO mit ganz vielen altklugen E.T.s an Bord? Sicher, in der zu akademischen Würden beförderten offiziellen christlichen Glaubenslehre pflegen aufgeklärte Gotteskinder die Auffassung, ersteres wäre irgendwie mehr „symbolisch“, also gar nicht „in dem Sinn“ gemeint – aber in welchem dann? Ein paar Wunder jedenfalls will noch jede Religion für ihren Glauben strapazieren, beweisen sie doch, daß die Allmacht Gottes in der Lage ist, die paar Naturgesetze außer Kraft zu setzen, die der „bloß menschliche“ Verstand sich angemaßt hat zu durchschauen. Und wenn eine gelehrte Theologie sich herausnimmt, denselben „Schluß“ auf die „Endlichkeit des menschlichen Verstandes“ ohne die Mithilfe naturwissenschaftlich nachweislicher Wunder zu vertreten: Was ändert das an der Botschaft? Doch höchstens das Eine: daß sie auch einer „aufgeklärten“ Minderheit schmeckt – so daß auch im Zeitalter der Gentechnologie niemand etwas dagegen hat, wenn Leute massenhaft nach Lourdes und Altötting pilgern, solange sie ansonsten die Kirche im Dorf lassen.

Die Sektenbeauftragten des besseren Feuilletons fühlen sich denn auch gar nicht herausgefordert, das Werk der Aufklärung gründlicher fortzuführen; sie sind damit zufrieden, angesichts des sanften Wahns der Esoterik, der das Land erfaßt, deren Versagen zu konstatieren. Sie sind weder willens noch mit ihrem ziemlich immanenten Unterscheidungsbedürfnis überhaupt in der Lage, die allgemeine Sinnhuberei anders zu kritisieren als mit ihren unerwünschten Ergebnissen – wie jener Beinahe-Katastrophe von Teneriffa. Das penetrante Deuten auf den Sumpf der Parawissenschaft als Religionsersatz, die jederzeit die Gefahr eines Einstiegs in den Ausstieg aus der realen Welt in sich berge, bringt, weil keine Argumente gegen die Religion, auch keine gegen ihren Ersatz zustande, sondern vielmehr alles durcheinander. Gerechterweise zieht sich das Hamburger Nachrichtenmagazin deswegen auch eine Flut von Leserbriefen aufgeregter Anhänger verschiedener Glaubensgemeinschaften an den Hals, die sich durch seinen Rundumschlag ungerecht behandelt fühlen, da sie sich nachgewiesenermaßen durch ihren speziellen Wahn nur das Bedürfnis nach Zufriedenheit, nie aber eines nach Selbstmord erfüllt haben. Diese Leutchen teilen durchaus das Urteil des schleswig-holsteinischen Sektenbeauftragter Bartels, wonach das Beispiel Teneriffa zeigt: Man darf diesen Esoterik-Schwachsinn und seine wachsende Verbreitung nicht als völlig harmlos abtun. (Der Spiegel 3/98) Sie bestehen nur darauf, daß es sich mit ihrem „Teneriffa“ ganz anders verhält – mehr so wie mit dem „himmlischen Jerusalem“, das der Papst mit nicht abgetriebenen Gotteskindern bevölkern möchte.

Und etwas anderes haben die Experten der öffentlich-rechtlichen Glaubenssittenkontrolle selber nicht zu bieten als ihr eigenes „aufgeklärtes“ Karma, das ihnen immer flüstert, welcher Fimmel noch in Ordnung geht und wo die Entgleisung anfängt. Das reicht ihnen aber – so wie jedem Gläubigen das Geschmacksurteil seines Gewissens –, um manchen ehedem „harmlosen Spinner“ zur „Zeitbombe“ zu befördern und in der Gewißheit, den alles entscheidenden Unterschied zwischen Ersatz- und Religion erfaßt zu haben, von der Diagnose zur Ursachenforschung voranzuschreiten.

Von der Sinnleere zum Seelentrip

Es stellt sich also die bange Frage:

„Was bringt intelligente, gebildete Männer und Frauen dazu, sich selbst und kleine Kinder bis zur Selbstauslöschung dem Willen einer pseudoreligiösen Fanatikerin unterzuordnen und deren Wahnvorstellungen bedingungslos zu akzeptieren?“ (Die Welt, 12.1.98)

Bei aller Verwunderung darüber, daß auch noch ausgerechnet „Gebildete“, von denen man doch weiß Gott einen brauchbareren Umgang mit den vielfältigen Sinnangeboten erwartet hätte, sich in ihrer Sinnsuche so vertun, trieft die Beantwortung dieser Frage erneut von Verständnis:

„Ursache für die manische Suche ist ein wachsendes kollektives Unbehagen in einer Ego- und Ellenbogengesellschaft, die Kälte und Zynismus produziert – Wohlstand zwar auch, aber eben keinen Sinn und auch nichts Warmes für die Seele. In einer Welt, die trotz (und wegen) explodierenden Wissens immer unverständlicher und bedrohlicher erscheint, wächst die Faszination einfacher Antworten.“ (Der Spiegel, 3/98)

Was soll an diesen Antworten eigentlich einfach sein? Wille und Verstand eines wie auch immer gläubigen Menschen haben allemal mehr zu leisten als die eines Heiden, nämlich die zusätzliche Aufgabe zu bewältigen, die Abwicklung aller irdischen Geschäfte als einen Kosmos sinnvoller Ordnung zu deuten und das auch noch für wahr zu halten. Die Leistungen des Glaubens – „Trost, Orientierung, Sinn“ – sind jedoch so erwünscht und gelten als so unverzichtbar, die Auffassung, Wissen könne da nur Verwirrung stiften, ist so geläufig, daß den Sektenexperten sogar die Hinwendung zu UFOs u.ä. als irgendwie logisch und jedenfalls ganz unschwierig erscheint. Sie sind ganz einfach dafür, daß, wenn die Erde schon ein ziemliches Jammertal ist und der Ertrag der Dienste, für die man in ihr vorgesehen ist, notorisch mangelhaft ausfällt, dann statt Kritik und Auflehnung die Suche nach einem sinnstiftenden Vers erfolgt, der sich darauf reimt – je blöder, um so wirksamer. Elend zwingt halt einfach etwas Warmes in die Seele – an diesen preiswerten Luxus für Enttäuschte haben sie sich so gewöhnt, daß ihnen auch die entgegengesetzte Ableitung flott von der PC-Tastatur geht: Auch Besserverdienen führt zuerst zu sinnentleerter Schwermut und dann anschließend – denn etwas Warmes braucht der Mensch – zu sich selbst erfüllender Sinnsuche.

Diese vulgärmaterialistische Deduktion des gläubigen Blödsinns aus der Addition von sozialer Kälte, nichtssagendem Wohlstand, explodierendem Wissen und Bedrohungsängsten macht im übrigen nicht den Eindruck, als wäre sie einer Wissensexplosion in den Redaktionsstuben der besorgten Nation zu verdanken. Für ihre Vertreter erfüllt sie wohl eher den Tatbestand einer faszinierend einfachen Antwort auf eine als ziemlich bedrohlich erlebte Sektenszene. Aber es wird durchaus noch komplexer. Der wissenschaftliche Schluß von der Verführung auf die Verführbarkeit der Verführten gibt nämlich interessante Folgerungen her, wenn man sich daran erinnert, daß die Verführerin ja nicht bloß pseudoreligiös und fanatisch, sondern außerdem eine professionelle Psychologin ist. Für manchen argwöhnischen Beobachter des seelischen Volksbefindens gibt das eine schöne Gelegenheit, den „Sektenopfern“ vorzuwerfen, was einem Volk von Psychos schon längst einmal gesagt werden mußte: Sie sollen sich nicht so anstellen!

„Und noch eine Mode wirkt beflügelnd für den Guru-Wahn – die zum Allheilmittel erkorene Psychotherapie. Jeder der sich schlecht fühlt, will sich sein Problem behandeln lassen. … irrige Annahme, man könne heute jedes Problem psychotherapeutisch lösen. Führung wird weiterdelegiert – eben auch an die Falschen. Heute wird alles gleich als seelische Krankheit anerkannt. Ein Phänomen, von dem Psychoverdreher wie Fittkau-Garthe profitieren.“ (AZ, 13.1.98)

Gegen die Psychologie überhaupt und im allgemeinen will der Fachmann des Münchner Volksblatts nichts gesagt haben – Frau Fittkau-Garthe durchschaut er als Psycho-Verdreherin, also keineswegs typische Vertreterin ihres Gewerbes –, und schon gar nichts gegen die übliche Manier, den Grund für „Probleme“ im Leben und „schlechte Gefühle“ grundsätzlich nicht in den sachlichen Existenzbedingungen zu suchen, mit denen der Mensch Probleme hat und in denen er sich schlecht fühlt, sondern sich selbst als das lösungsbedürftige Problem zu betrachten. Er hat erst recht keine Einwände gegen den Standpunkt, alle Schwierigkeiten, an denen ein Mensch laboriert, wären dadurch zu beheben, daß er seine Einstellung dazu ändert. Gegen die psychologischen Techniken der Selbstbezichtigung und Selbstbeherrschung hat er nichts; im Gegenteil: Er will gerade, daß die Menschen ihre Einstellung zu sich als Problemfall revidieren. Aber eben so, daß sie sich nicht immer zuerst auf eine „krankhafte“ Unfähigkeit zu durchgreifender Selbstkorrektur herausreden, um es sich dann beim Psychotherapeuten bequem zu machen. Fachleute des psychomoralischen Seelenhaushalts anderer Leute wissen eben, wie beim höheren Blödsinn zwischen Aber- und Glauben, so auch in dem Sumpf, aus dem der höhere Blödsinn zuverlässig erblüht, nämlich auf dem weiten Feld der sittlichen Selbstkontrolle und des selbsterzeugten inneren Befindens zwischen der richtigen Dosis und dem unzuträglichen Übermaß zu unterscheiden. Jahrzehntelang ist die Menschheit dazu angeleitet worden, ganz viel freien Willen auf die Konstruktion eines Selbstbilds und den Glauben daran zu verschwenden, wonach das werte Ich sich in seinen Stimmungen und Verstimmungen als fragiles, von lauter unbewußten Determinanten abhängiges, Gottseidank jedoch zum Guten manipulierbares Instrument des persönlichen Lebenserfolgs zu erkennen gibt; jetzt sind da endlich mal andere Töne fällig: Die Leute sollen von ihren Empfindlichkeiten nicht dauernd soviel hermachen. Denn wer es damit übertreibt und die Psychologie, statt als probates Heilmittel für die Bewältigung von Ausnahmesituationen, als „Allheilmittel“ für jedes selbstverschuldete Versagen einnehmen will, der macht es am Ende wie die Sektierer und „delegiert“ die „Führung“ seiner Person statt an die Richtigen – an die „Falschen“! Die finden sich dann nämlich allemal – siehe Frau Fittkau-Garthe.

Das Problem ist hier nur schon wieder: Wer ist wer?

Wie man gute Therapeuten und böse Gurus auseinanderkennt

Die einen sind von den andern so richtig immer erst zu unterscheiden, wenn es zu spät ist. Dann hat es wieder mal keiner seiner Nachbarin zugetraut. Wenn keine esoterischen Bekenntnisse und eindeutigen Selbstmordkommandos vorliegen, ist es für aufgeklärte Zeitgenossen ausgesprochen schwierig, die Grenze zu ziehen zwischen Spinnern und denen, die wirklich etwas Gefährliches wollen. (Utsch in SZ, 13.1.98)

An einer psychologischen Theorie und Praxis herauszufinden, wo die gebilligte Hilfe zur Selbstfindung richtiger Psychologen endet und die Manipulationskunststücke der „Psychoverdreher“ beginnen, fällt schwer – offensichtlich nicht nur denen, die Rat bei anderen für den rechten Umgang mit sich selbst suchen. Denn was bei „Gurus“ noch verhältnismäßig einfach scheint – Die Sektenführer gleichen sich. Sie lächeln, wirken sanft, sowie irgendwie heilig und überlegen, sie haben Charisma, jedenfalls in den Augen ihrer Anhänger (Der Spiegel, 3/98) –, das trifft bei den Vertretern der psychologischen Disziplin gleich auf ein ihr immanentes Grundproblem:

„Dominierender Einfluß von Psychotherapeuten auf Patienten und andere Menschen ihrer persönlichen Umgebung ist ein bekanntes Phänomen.“ (Die Welt, 12.1.98)

Tatsächlich ist es ja so: Individuen, die sich dem Ideal des Zurechtkommens verschrieben haben und ihre Probleme bei der Bewältigung desselben sich selbst als Defekt und als mindere Eignung für die Aufgabe lohnender Rechtschaffenheit anlasten, handeln nur konsequent, wenn sie den Gang zur individuellen psychologischen Betreuung antreten – schließlich wäre es ein kaum zu übersehender Widerspruch, sich selbst zum Krisenfall zu erklären und zugleich den Krisenmanager spielen zu wollen. Da ist es schon besser, sich in die Hände eines Fachmanns für die Probleme der scheiternden Individualität zu begeben. Diese Anwälte des moralischen Subjekts deuten die Fehler und Mißerfolge, die ihnen zu Ohren gebracht werden, als Defekte und helfen dem Patienten bei der Identifikation der wahren inneren Natur der Schwächen, die dieser sich zur Last legt. Für jedes tatsächliche oder vermeintliche Versagen in der Konkurrenz – im Beruf, beim Sport, beim anderen Geschlecht oder wo auch immer – suchen und finden sie eigentliche Ursachen, die nicht im Elend des lebenslangen „freien Wettbewerbs“ um alles und jedes liegen, sondern in inneren Konflikten mit sich selbst, an denen ihr Klient laboriert und die er nicht ohne die Hilfe des Psychoanalytikers erkennen und lösen kann. Nur dem erschließt sich die geheimnisvolle Hinterwelt des beschädigten Ich. Deshalb kommt es auch auf dessen Anleitung ganz furchtbar an. So wird der Therapeut zu einer wichtigen Bezugsperson; und die Warnung vor der Gefahr von Abhängigkeitsverhältnissen, von Übertragung und Gegenübertragung ist so alt wie die Psychoanalyse selbst. Zwar gehört auch zu dieser Sorte Abhängigkeit immer einer, der seinen Willen in die Anstrengung legt, sich von seinem Analytiker durch die fiktiven Abgründe der eigenen Persönlichkeit und aus ihnen heraus „führen“ zu lassen – doch wer auf diesem Einwand besteht, der kommt ins Reich der Psychologie erst gar nicht hinein und ist folglich nicht bloß völlig hinter dem Mond, sondern mit Sicherheit selber so ein verkorkstes Subjekt, das psychologischer Entklemmung bedürfte. Unter aufgeklärten Zeitgenossen jedenfalls ist das Dogma der Psychologie, im Seelenapparat, als den sie den Menschen versteht, lägen die determinierenden Vorgänge verborgen, die den Motor aller menschlichen Werke abgeben, so anerkannt, daß den Kennern jener verborgenen Menschennatur jederzeit die Fähigkeit zur Manipulation derselben zugetraut wird – gewissermaßen als ihr berufliches Können. Und das macht das Sektenproblem zu einer veritablen Machtfrage:

„Zweifelsohne gibt es einige Sektenanführer, die ihr Fachwissen gezielt umsetzen können – wie Frau Fittkau-Garthe. Als Psychologin kennt sie Techniken und Verfahrensweisen der Machtausübung und kann sie erfolgreich einsetzen.“ (Utsch, in SZ, 13.1.98)

Zweifelsohne meint der Psychologe Utsch, daß auch er über diese Techniken verfügt. Er und seinesgleichen wähnen sich im Besitz eines Wissens, mit dem sie die sinn- und selbstsuchenden Dödel zu jedwedem Tun und Lassen, auch einem ihrer funktionellen Staatsbürgernatur abträglichen, bewegen könn(t)en. Da wird es natürlich ganz wichtig festzustellen, wer diese Macht zum Segen seiner Schutzbefohlenen gebraucht, also gerechterweise einsetzen darf – und wer nicht, weil da die Identifikation mit dem professionellen Mentor den Preis definitiver Unbrauchbarkeit für die Welt nach sich zieht. Doch wie?

„Keiner der Kollegen Fittkau-Garthes ahnte, welche abstrusen Formen ihre wissenschaftlichen Expertisen einmal annehmen würden“ (AZ, 13.1.98)

wie auch, wenn sie die Manager-Schulungen der guten Frau nach dem Motto „Erfolg ist lernbar!“ mit ihren beeindruckenden Angeboten zur Selbstmanipulation und zur Aufdeckung geheimer Seelenkräfte noch geheimeren Ursprungs immer für wissenschaftlich völlig in Ordnung gehalten haben!

So scheitert schon wieder die Unterscheidungskunst des moralisch engagierten, psychologisch belehrten öffentlichen Frühwarnsystems für sittliche Entgleisungen im Bereich des Sinnglaubens und der dort einschlägigen Autoritätsverhältnisse.

Das ist zwar blöd, aber kein Grund zum Verzweifeln.

Was tun? Kanther fragen!

Unterscheidungsprobleme bei der Identifizierung falscher Fuffziger sprechen nur für die erhöhte Dringlichkeit des Kontrollbedarfs; und der läßt sich bedienen. Gerade da, wo der Fachmann nicht mehr weiterkommt, kennt er die Instanz zur verbindlichen Entscheidung der Frage, wer geachtet und wer geächtet gehört, und legt die Antwort guten Gewissens in deren Hände:

„Solche halbseidenen Psychologen bilden den Kern einer neuen, bislang wenig erforschten Sektenbewegung, die ihre Wurzeln in einer mißbrauchten Psychotherapie hat. Ein höchst intimer Bereich – gut auszuschlachten und schwer zu beeinflussen. Es wird höchste Zeit, daß Gesetze das regeln.“ (Sektenexpertin Heide-Marie Cammans in AZ, 13.1.98)

Daß Kanther dekretieren muß, was sie nicht unterscheiden können, ist vom Standpunkt der psychologischen Disziplinaraufsicht über das weltanschauliche Intimleben des Volkes nur konsequent. Wo Wahn gegen Wahn steht, entscheidet die Gewalt – nämlich über die verlangte Funktionalität der Angebote. Da werden dann schon auch der wahre Sinn und die rechte Führung zu Hause sein.